G.A. Trojan: Das Lager im Dorf lassen

Cover
Titel
Das Lager im Dorf lassen. Das KZ Neuengamme in der lokalen Erinnerung


Autor(en)
Trojan, Gesa Anne
Reihe
Hamburger Zeitspuren 10
Erschienen
Anzahl Seiten
157 S.
Preis
€ 10,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dirk Thomaschke, Institut für Geschichte, Universität Oldenburg

Gut besuchte Buchvorstellungen, Rundfunkinterviews, Besprechungen in Regionalzeitungen – nicht jeder Magisterarbeit widerfährt eine solche Aufmerksamkeit. Das Echo auf Gesa Anne Trojans Interviewstudie zum Umgang der Neuengammer mit Konzentrationslager und Gedenkstätte zeigt, dass Veröffentlichungen zur Erinnerung an das „Dritte Reich“ weiterhin auf sehr große Resonanz stoßen. Dies geschieht im vorliegenden Fall durchaus zu Recht. Das schmale Buch hat weit mehr zu bieten, als auf eine verdrängte Geschichte aufmerksam zu machen oder den Finger in eine Wunde zu legen, die die Zeitzeugen und ihre Nachkommen am liebsten vergessen würden. Einerseits lässt sich Trojan ihren zugleich intimen – die Autorin stammt selbst aus dem Ort – wie distanzierten Blick nicht durch normative Vorannahmen verstellen. Andererseits fördert die einfallsreiche Perspektive der Arbeit einige originelle Ergebnisse zu Tage, die auch angesichts der überwältigenden Masse an Publikationen zur Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus lohnen gelesen zu werden. Hierbei führt das Buch die jüngsten ‚Vorstöße‘ der Forschung in bislang wenig beachtete lokale, ländliche Gebiete durch eine komprimierte Fallstudie fort; oder wie Trojan zum Stand der erinnerungskulturellen Forschung schreibt: „[D]ie starke Fokussierung auf gesamtgesellschaftliche, meist nationale Einheiten [läuft] Gefahr, den Blick auf die Spitze des Eisbergs zu beschränken, der jedoch auf einem Fundament regionaler und lokaler Einheiten ruht.“ (S. 120)

An dem Buch lässt sich im Grunde nur eines kritisieren, und zwar dass seine empirische Grundlage einer Abschlussarbeit entstammt und deshalb nicht allzu umfangreich ausfällt. In den ersten Monaten des Jahres 2012 hat Trojan insgesamt 17 Interviews mit – größtenteils untereinander verwandten oder bekannten – Männern und Frauen aus Neuengamme geführt, die sie in drei Alterskohorten eingeteilt hat: während der NS-Zeit, in den 1950er- und in den 1960er-Jahren Geborene. Bei der detaillierten, qualitativen Analyse der Gesprächstranskripte zeigen sich die Stärken des Buches: Trojan geht durchgehend sehr souverän mit ihrem Material um. Dies schlägt sich vor allem in einer nicht immer ausführlichen, aber stets überzeugenden Differenzierung verschiedener Erinnerungsschichten nieder, die sich in den Erzählungen der Interviewten überlagern. Neben individuellen Erinnerungen, familiären Erzählungen und gesamtgesellschaftlichen Mustern der „Vergangenheitsbewältigung“ ist hierbei vor allem auch an persönliche Besuche der KZ-Gedenkstätte und ihrer Vorgängerinitiativen zu denken. Zumal einzelne von Trojans Gesprächspartnern an frühen Initiativen der ‚Gedenkarbeit‘ im Rahmen der örtlichen Kirchengemeinde und Feuerwehr sowie Jugendcamps ab den 1980er-Jahren beteiligt waren. Außerdem muss hervorgehoben werden, dass sich die Analyse durch eine hohe Sensibilität in sprachlicher Hinsicht auszeichnet, vor allem im Blick auf den unbewussten Wechsel sprachlicher Register und Ausdrucksformen. So schließt die Autorin beispielsweise aus der verstärkten Verwendung passiver und unpersönlicher Formulierungen auf eine abweichende Integration der KZ-Geschichte in die eigene Biografie.

Der einleitende Teil des Buches stellt die eigene Bindung der Autorin an den Ort und ihre Interviewpartner vor und führt in gängige erinnerungskulturelle Theoreme ein, in erster Linie von Maurice Halbwachs, Jan und Aleida Assmann sowie Harald Welzer. Diese Abschnitte sind kurz gehalten und auf leichte Verständlichkeit und Anschaulichkeit ausgelegt. Trojan zeigt hier auf, dass die geläufigen Theorien für den lokalen Fokus ihrer Studie nur bedingt geeignet sind, und plädiert dafür, die zentrale Unterteilung von individuellem und kollektivem Gedächtnis um die von Malte Thießen vorgeschlagene Kategorie eines „kommunalen Gedächtnisses“ zu ergänzen. Der Hauptteil zerfällt in drei Unterabschnitte. Im ersten Abschnitt geht es vorerst nur um die Erinnerungen der ältesten Kohorte, also der während der NS-Zeit Geborenen. Im darauffolgenden Abschnitt geht die Autorin der „transgenerationellen Weitergabe“ von Erinnerungen im Querschnitt aller drei Alterskohorten nach, und im dritten Abschnitt steht der „Skandal“ des Jahres 1995 im Mittelpunkt. An diesem Beispiel – die freiwillige Feuerwehr Neuengammes hatte ein Konzert auf dem Gelände veranstaltet – wirft Trojan einen genaueren Blick auf das Zusammenwirken von individueller, lokaler und weiterreichender Ebenen bei der Aushandlung von Erinnerung.

Es bleibt unvermeidlich, dass einige Ausführungen des Hauptteils bereits andernorts Gelesenes wiederholen – als Beispiel sei der Mechanismus der „Schuldumkehr“ in Bezug auf die Häftlinge genannt –, trotzdem sind die Analysen sehr lesenswert und für das vorliegende Fallbeispiel ohne Zweifel von Neuigkeitswert. Auch fallen die drei Hauptergebnisse der Studie originell und inspirierend für weitere Arbeiten aus. Erstens beleuchtet Trojan die eigentümliche räumliche Komponente der lokalen Erinnerung: Das (ehemalige) KZ-Gelände, obwohl Teil des „Lebensraums“ der Neuengammer, sei von diesen aus ihrer „Lebenswelt“ ausgegliedert worden. Ihm komme gewissermaßen ein Sonderstatus zu, da es vermeintlich in einen überregionalen Zuständigkeitsbereich fällt. Statt integraler Teil des lokalen Raums zu sein, werde das KZ implizit als eine Art Enklave nationaler Geschichte gesehen, die kaum substantielle Bezüge zum Dorfleben bzw. zur eigenen Biografie aufzuweisen scheint. Zweitens stellt Trojan im Blick auf diese externalisierte Geschichte eine spezifische „Sprachlosigkeit“ ihrer Interviewpartner fest. Die Anwohnern wissen – oder eher: ‚spüren‘ –, dass es eine stark normierte, offizielle Sprache für die Geschichte der Konzentrationslager auf der nationalen Ebene gibt; sie spüren jedoch zugleich, dass sie dieser Sprache nicht mächtig sind. Trojan folgert, dass es sich bei der Unsicherheit ihrer Gesprächspartner im Umgang mit dem Thema eher „um ein Nichtkönnen als um ein Nichtwollen“ (S. 117) handele. Drittens weist die Autorin nach, dass es gerade auch in den Familien, in denen zwischen den Generationen nicht oder kaum über das Konzentrationslager gesprochen wurde, eine „Weitergabe“ der Geschichte gab. Sie lenkt den Blick hier auf die soziale Praxis im Ort. Weitergegeben worden sei ein „unbewusstes Wahrnehmungsmuster“ der Topografie des Ortes bzw. ein spezifischer „Habitus“, sich dem KZ-Gelände gegenüber zu verhalten. In diesem Sinne sollte man von den Neuengammern weniger als einer „Erinnerungs- oder Erzählgemeinschaft“ als vielmehr von einer „Verhaltensgemeinschaft“ sprechen.

Im Laufe ihrer Ausführungen reflektiert die Autorin fortlaufend ihre eigene changierende Rolle zwischen Einwohnerin und Wissenschaftlerin. Dies ist zweifellos wichtig, um den Einfluss der eigenen Vorannahmen auf die Ergebnisse zu hinterfragen. Bei einer Studie wie der vorliegenden wäre es ebenso interessant, nach den Rückwirkungen der Veröffentlichung selbst auf die untersuchte Gruppe zu fragen. Die Wissensproduktion im Rahmen der Interviews, die Verschriftlichung als akademisches Buch, die sich anschließende Buchvorstellung im Ort, all dies dürfte gewisse Auswirkungen auf die Neuengammer „Verhaltensgemeinschaft“ haben, die eigentlich Gegenstand der Arbeit war. Es ist davon auszugehen, dass die Explikation der bisher unexplizierten Regeln des spezifischen Habitus gegenüber dem KZ und seiner Geschichte diesen zumindest irritiert. Nicht zuletzt für diese Wechselbeziehungen zwischen Erinnerungskultur und ihrer wissenschaftlichen Erforschung stellen lokale Kleinsträume ein vielversprechendes, zukünftiges Forschungsfeld dar.

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