M. Christ u.a. (Hrsg.): Soziologie und Nationalsozialismus

Cover
Titel
Soziologie und Nationalsozialismus. Positionen, Debatten, Perspektiven


Herausgeber
Christ, Michaela; Suderland, Maja
Reihe
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2129
Erschienen
Anzahl Seiten
611 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Dries, Institut für Soziologie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Eigentlich hätte man erwarten dürfen, dass die Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft nach 1945 zu den ersten Disziplinen gehört, die sich der Analyse der nationalsozialistischen ‚Volksgemeinschaft‘ widmen – nicht ohne dabei auch ihr eigenes Verhältnis zum braunen Regime unter die Lupe zu nehmen. Allein, es galt für Jahrzehnte die offizielle „Bankrotterklärung“ (Hans-Georg Soeffner) des langjährigen Nachkriegspräsidenten der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), Leopold von Wiese, der den Nationalsozialismus als ‚Pest‘ und ‚metaphysisches Geheimnis‘ aus dem eigenen Zuständigkeitsbereich ausschloss und damit eine lange Zeit wirkmächtige „Hintergrunderzählung“ des Fachs etablierte.1

Auch wenn erste soziologische Anläufe zur Deutung des Nationalsozialismus bereits aus den 1930er-Jahren datieren, prominente Fachvertreter wie beispielsweise Theodor Geiger, Emil Lederer oder Talcott Parsons sich früh zum ‚Tausendjährigen Reich‘ äußerten und es auch nach 1945 einige Versuche gab, das Thema auf die soziologische Agenda zu setzen – im Mainstream des Fachs vermochte sich dies nicht zu etablieren. Wer den Finger in die Wunde legte, riskierte eher seine akademische Karriere. Die einschlägigen Studien schrieben derweil Andere, namentlich soziologisch informierte Zeithistoriker wie Götz Aly, Jörg Baberowski, Alf Lüdtke oder Michael Wildt. Doch nun scheint die Zeit reif (oder sollte man besser sagen: es ist genügend Zeit vergangen?), um einen breiter angelegten, systematischen Neuanlauf zu unternehmen.

Auch die jüngste NS-Debatte in der Soziologie, angefacht durch Michaela Christ und Maja Suderland auf dem DGS-Kongress 2012 in Bochum2, hatte sich zunächst mit altbekannten Fragen auseinanderzusetzen. Nach dieser Inkubationsphase hat die Debatte inzwischen Betriebstemperatur erreicht und gleich zwei hochkarätige Veröffentlichungen hervorgebracht: Neben einer Monographie des Bielefelder Organisationssoziologen Stefan Kühl3 ist ein von Christ und Suderland herausgegebener Sammelband zum Thema erschienen, in dem sich sowohl etablierte Autoren wie Carsten Klingemann als auch Nachwuchswissenschaftler/innen sowie immerhin zwei ehemalige DGS-Präsidenten zu Wort melden.

Beide, der eingangs zitierte Soeffner und Karl-Siegbert Rehberg, schauen auf die eigene Studienzeit bzw. den vermeintlichen ‚Neuanfang‘ der Soziologie nach 1945 zurück. Mit der Vergangenheit befasst sich nahezu die Hälfte des Buchs, inklusive Seitenblicken nach Österreich (Christoph Reinprecht) und in die DDR (Kobi Kobalek). Die Beiträge dieser Sektion gehören zu den stärksten im Band, der im Untertitel „Positionen, Debatten, Perspektiven“ verspricht, vor allem aber – nämlich auf über 500 von rund 600 Seiten – den Versuch möglichst umfassender „Bestandsaufnahmen“ dokumentiert (gegliedert in „Positionen“, „Themen“ und „Fachgeschichte“). Dazu gehört neben Texten zur frühen Soziologie des Nationalsozialismus (Erhard Stölting), zu „Faschismustheorie(n) der ‚Frankfurter Schule‘“ (Helmut Dahmer), relevanten Nachkriegsakteuren wie Schelsky und Dahrendorf (Gerhard Schäfer), Elias und Bauman (Peter Imbusch) sowie zu jüngeren Forschungsbeiträgen seit den 1990er-Jahren (Michael Becker) auch ein stark auf Gewalt und Krieg fokussiertes Themenfeld, das Einzelbeiträge zur Militär- und Kriegssoziologie (Nina Leonhard), zur Erinnerungs- und zur Gewaltforschung (Christian Gudehus, Michaela Christ), zu den nationalsozialistischen Zwangslagern (Maja Suderland) sowie zum „blinden Fleck“ Migration im Nationalsozialismus (Ludger Pries) umfasst. Die annoncierten „Perspektiven“ reduzieren sich schließlich auf die Fremdbeobachtung der Historikerin Elissa Mailänder, Rehbergs erwähnten Blick zurück und ein eher biographisch-anekdotisches Gespräch der Herausgeberinnen mit Beate Krais.

Es lässt sich in diesem Buch also eine Menge über die Vergangenheit lernen – zum Beispiel darüber, wie marxistische Dissidenten und exilierte Frankfurter, die produktiven Außenseiter, bis heute unser Bild vom ‚deutschen Faschismus‘ bestimmen. Die Kritische Theorie Horkheimers und seiner Mitstreiter habe den Schwerpunkt auf zwei Pole gelegt, an die sich erneut andocken ließe, so Dahmer in seiner literaturgesättigten Zusammenschau: das Konzept des planwirtschaftlichen und repressiven „Staatskapitalismus“ (Pollock), des nationalsozialistischen „Doppel-“ bzw. „Unstaats“ (Fraenkel, Neumann) auf der einen, die sozialpsychologische Analyse der „Autoritären Persönlichkeit“ auf der anderen Seite. Schäfer zeigt, wie sehr Schelsky, der quirlige Mitbegründer der Bielefelder Reformuniversität, auch nach 1945 noch auf NS-Vokabular und braune Stereotype zurückgriff. Seine „Skeptische Generation“ kann man vor diesem Hintergrund nicht nur als Zeitdiagnose, sondern auch als Exkulpationsstrategie lesen. Der puerile Enthusiasmus des NS-Funktionärs – der 1912 geborene Schelsky war seit 1933 aktives Mitglied im Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund gewesen –, wurde im Sachzwangmodus der 1950er-Jahre neutralisiert. Schäfer findet dafür den schönen Begriff der „ölhäutigen Anpassung“ (S. 138).

Substantiell Neues fördern Henning Borggräfe und Sonja Schnitzler in ihrem kenntnisreichen Beitrag zur Nachkriegsgeschichte der DGS zutage. Sie belegen, dass und wie Konflikte über die NS-Zeit in den mit harten Bandagen geführten Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit und Wiederinstandsetzung der Soziologie keinesfalls Tabu waren, sondern zur beinahe ständigen „Begleitmusik“ wurden (S. 464). Gewohnt sachkundig rechnet Carsten Klingemann mit der „immerwährende[n] Aufblähung“ des wahrlich nicht mehr ganz taufrischen Charisma-Ansatzes zum „allein gültigen Ansatz der Analyse des Nationalsozialismus“ ab (S. 499) und gewährt Einblicke in laufende Forschungen zur Beteiligung der empirischen Sozialforschung am und im Nationalsozialismus.

Ein Meilenstein ist das Buch auch im Hinblick auf sein Kerndesiderat: die ungeschriebene Soziologie des Nationalsozialismus. In der breiten Anlage und der Fülle elaborierter, materialreicher Einzelstudien gelingt es dem Band, ein gutes Sprungbrett zu zimmern, von dem künftige Anläufe zu diesem Unterfangen sich abstoßen können, ohne die überkommenen Generationenkämpfe, Rechtfertigungsrituale und Abgrenzungsbemühungen der Vergangenheit wiederholen zu müssen. Der „weithin geltende Konsens darüber […], der Nationalsozialismus sei ein legitimer und geeigneter Forschungsgegenstand für das Fach“ (S. 25) – er wird nicht zuletzt durch dieses Buch endgültig festgeschrieben. Es ist zugleich ein Dokument des Fortschritts und ein Beleg für das Bonmot Helmuth Plessners, es werde doch mehr gedacht als man denke. Immer mehr, zum Teil lange verschüttete Beiträge zum Thema geraten in der neu aufgenommenen Debatte (wieder) in den Fokus, so dass das Buch auch gegen seine eigene These arbeitet, die Soziologie habe zum Nationalsozialismus nicht viel zu sagen gehabt. Kein geringes Verdienst ist es zudem, die offene Flanke des reklamierten Forschungsfelds sichtbar zu machen. Sie liegt in der Theorie.

So beklagen Christ und Suderland, die Absenz des Themas im Fach sei dessen lange herrschenden Paradigmen geschuldet – Rational Choice, Rollentheorie, System- und Modernisierungstheorie. Konsequenterweise finden sich aus diesen Theoriefamilien auch keine Beiträge im Band. Dabei wären gerade sie prädestiniert für eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Für die Systemtheorie hat Stefan Kühl den Beweis mit seinem oben erwähnten Buch bereits angetreten, ebenso Klaus Holz in seinen Arbeiten zum Antisemitismus.4 Vor allem aber hat sich die Theorielandschaft in den letzten Jahrzehnten enorm zerklüftet sowie durch Importe zum Beispiel aus Frankreich und aus den Kulturwissenschaften erheblich angereichert. Die großen Erzählungen sind längst nicht mehr so dominant, und das zur Verfügung stehende theoretische Arsenal ist breiter, als die Referenzen auf die beiden „Antipoden“ (Imbusch) Norbert Elias und Zygmunt Bauman, auf gegenwärtig besonders hoch gehandelte praxeologische Theorieperspektiven à la Bourdieu oder die Körper- und Raumsoziologie suggerieren.

Man kriegt mit diesen Mitteln vieles in den Griff. Was aber mit dem kanonischen Arsenal – auch in diesem Band – kaum je in den Blick kommt, sind keine randständigen Fragen: die Gesellschaftstheorie des Nationalsozialismus zum Beispiel5, die spezifische Produktivität von NS-(Bio-)Macht und NS-Gewalt, die gleichermaßen extreme wie irritierend ‚moderne‘ Leistungsorientierung des Regimes. Unbeachtet oder kaum genutzt bleiben etwa die Faschismustheorie eines Georges Bataille, das Homo-sacer-Projekt Giorgio Agambens, die Überlegungen des Ethnologen Victor Turner, der disziplinären Grenzgänger Günther Anders und Michel Foucault, von Jean-François Lyotard, Jacques Derrida, Michel Maffesoli oder die Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours. Das ist kein Verschulden der Herausgeberinnen. Sie machen mit ihrem Buch die Lücken erst sichtbar, in denen noch viel Platz für Qualifikationsarbeiten und Opera magna ist.

Eine soziologische Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus, so lautet das ernüchternde Fazit Michael Beckers, „ist weiterhin nicht in Sicht“ (S. 233). Entfalten lassen wird sie sich, das ist nach der Lektüre dieses Buches klar, nur jenseits der Engführung auf Krieg und Gewalt, durch Komplexitätssteigerung im Theoriebereich, durch Wieder- und Neuentdeckungen plus Theorieimport und Weiterentwicklung aktueller Ansätze. Nina Leonhard nennt das zutreffend „Verflüssigung disziplinärer bzw. theoriebezogener Grenzen“ (S. 305). Das impliziert zwangsläufig eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst- bzw. Theorieverständnis und mit den Nachbarfächern der Soziologie (wie der Politikwissenschaft, die bekanntlich gerade eigene, stärker personenbezogene NS-Debatten führt). Keine ganz leichte Aufgabe. Die Forschungsbrache aber, sie ist nun vermessen. Freiwillige vor!

Anmerkungen:
1 So Soeffner in seinem Geleitwort zum besprochenen Band (S. 9–12).
2 Neben einer zum Teil in Personalunion geführten Debatte um die Rolle der Soziologie im ‚Dritten Reich‘ (vgl. Silke van Dyk / Alexandra Schauer, „… daß die offizielle Soziologie versagt hat“. Zur Soziologie im Nationalsozialismus, der Geschichte ihrer Aufarbeitung und der Rolle der DGS, Essen 2010, 2., überarbeitete und ergänzte Aufl. Wiesbaden 2014) gab ein Artikel Christs den Startschuss zu dieser Debatte: Michaela Christ, Die Soziologie und das ‚Dritte Reich‘. Weshalb Holocaust und Nationalsozialismus in der Soziologie ein Schattendasein führen, in: Soziologie 40 (2011), S. 407–431.
3 Stefan Kühl, Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust, Berlin 2014.
4 Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2010, und ders., Der Jude. Dritter der Nation, in: Eva Eßlinger u.a. (Hrsg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin 2010, S. 292–303.
5 Vgl. dazu – bis heute nahezu singulär – das in Michael Beckers Beitrag auch erwähnte Buch von Franz Janka, Die braune Gesellschaft. Ein Volk wird formatiert, Stuttgart 1997.