C. Abbate u.a.: Eine Geschichte der Oper

Titel
Eine Geschichte der Oper. Die letzten 400 Jahre


Autor(en)
Abbate, Carolyn; Parker, Roger
Erschienen
München 2013: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
735 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jutta Toelle, Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, Frankfurt am Main

„Die Oper ist ein Theaterstück, bei dem die meisten Figuren (oder alle) die meiste (oder die ganze) Zeit singen.“ Mit diesem schönen Satz beginnt das wunderbare, wenn auch teilweise problematische Opernbuch von Carolyn Abbate und Roger Parker. Die beiden prominenten Musikwissenschaftler, tätig an der Universität Harvard und am King’s College London, stellen schon bei diesem unscheinbaren Anfang ihre ganze Expertise unter Beweis und zeigen, wie faszinierend und gleichzeitig absurd das Kunstwerk Oper sein kann. Auch der Stil des Buches ist sogleich festgelegt: informiert, präzise und locker-distanziert, in bester britisch-amerikanischer Tradition, doch vom Zuschnitt her eher traditionell. Hier geht es um Werke und um Komponisten, selten um Sänger und nicht um das Publikum, Opernhäuser, nationale Traditionen oder die Finanzierung der teuersten performativen Kunst. In dem „wunderbaren Totenhaus mit spektakulären Aufführungen“ – dazu sei die Oper, dies eine der Kernthesen, mittlerweile geworden – bewegen sich Abbate und Parker sehr souverän.

Grundsätzlich geht das Buch chronologisch-thematisch vor und orientiert sich an den Fixsternen des Kanons: Monteverdi, Mozart, Donizetti, Rossini, Verdi, Wagner, Puccini, Richard Strauss, in vielen Fällen mit einer Konzentration auf das Thema Singen und Sprechen und auf die spezielle Stimmlichkeit einzelner Werke. Meisterhaft ist die Verknüpfung von chronologischen und thematischen Diskussionen, vor allem auch auf den 44 Seiten der Einleitung. Natürlich vermisst man bestimmte Werke, fragt man sich, warum nicht der eine oder andere Komponist mehr zur Sprache kommt – oder jener vermeintlich überbewertet wird, aber das lässt sich in einem Kompendium dieses Zuschnitts nicht vermeiden. Dass jedoch die Autoren beide eher Spezialisten für das 19. und frühe 20. Jahrhundert sind als für die Frühzeit der Oper, ist deutlich erkennbar: Die Kapitel über das 17. Jahrhundert sind zahmer, weniger lustvoll und wiederholen Gemeinplätze – zum Beispiel dort, wo es um Kastraten oder Countertenöre geht, die die Autoren offensichtlich nicht sonderlich mögen. Erst in den herausragenden Kapiteln über Mozart nimmt das master narrative wieder Fahrt auf, und der Spaß am Lesen dieses vorzüglichen Buches stellt sich sofort wieder ein. Die Höhepunkte des Buches, die fulminanten Abschnitte über Verdi, Wagner und Richard Strauss, atmen eine unbändige Informiertheit, sind auf dem allerneuesten Stand und auch theoretisch auf höchstem Niveau. Hier zeigt sich die gesammelte Expertise von Abbate und Parker.

Problematisch ist die sehr stiefmütterliche Behandlung des Opernschaffens nach dem zweiten Weltkrieg: nur Benjamin Britten taucht als Heilsfigur auf. Wirkt auf deutsche Leser einerseits die ausführliche Würdigung amerikanischer zeitgenössischer Komponisten wie John Corigliano überbewertet, fallen andererseits nicht nur das fast vollständige Fehlen von Birtwistle, Zimmermann, Reimann, Stockhausen, Nono, Kagel, Berio, Henze, Lachenmann, Eötvös und Zender auf (um nur einige Opernschaffende des 20. Jahrhunderts zu nennen), sondern auch die minimalen oder gar nicht vorhandenen Abschnitte über die Opern der populären Komponisten Hindemith, Gershwin, Bernstein und Kurt Weill. Schade, dass die Musikwissenschaft in Form zweier ihrer prominentester Vertreter an dieser Stelle so hilflos wirkt. Denn hätten Abbate und Parker konkretere Gründe gegeben für die prekäre Situation der Oper und des Opernschaffens im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert, hätten also ihre Schlussfolgerungen wirklich begründet, könnte man ihre Meinung teilen – oder eben nicht. So aber endet ein beeindruckendes Buch auf geradezu nörgelnde Weise. Der pessimistische Beigeschmack, der sich vor allem auf den ersten und letzten der insgesamt 730 Seiten bemerkbar macht, ist bereits durch den Untertitel deutlich geworden: warum heißt er „die letzten 400 Jahre“? Deutet das darauf hin, dass dies die finalen 400 Jahre waren, oder einfach die vergangenen 400 Jahre? Eigentlich widersprechen sich die Autoren damit selbst: im letzten Kapitelchen auf eineinhalb Seiten (schon im Englischen unschön betitelt und durch die Übersetzung geradezu entblößend: „Das war’s. Das ist Oper. Eine Menge von Leuten in Kostümen, die sich verlieben und dann sterben“) wird der sich durch das ganze Buch ziehende Pessimismus noch einmal diskutiert und begründet. Und gerade die letzten beiden Sätze mit ihrem etwas schiefen Bild („Die Bäume in diesem riesigen Wald sind in der Tat schon sehr alt und groß. Ihre Schönheiten aber, wie auch die Schatten, die sie werfen, sind gewaltig.“, S. 668) bezeugen einen innerdisziplinären Fatalismus der Autoren; immerhin halten sie auf den mehr als 600 vorangegangenen Seiten gewaltige Plädoyers für die Schönheit und andauernde Relevanz der Kunstform Oper.

Ein nicht zu unterschätzendes Problem dieses Bandes ist die Übersetzung. Dass der zuweilen sehr lockere bis umgangssprachliche Tonfall, in dem auf selbstverständlich hohem intellektuellen Niveau berichtet, erzählt, analysiert und interpretiert wird, auf Deutsch eigentlich nicht existiert und nicht existieren kann, ist selbstverständlich. Dennoch haben die Übersetzer des Verlags C.H.Beck hier versucht, die ironische Distanziert- und Lockerheit ins Deutsche zu übertragen, was sich als sehr schwierig herausstellt. Dabei sind eine Reihe von Übersetzungs-Fauxpas’ passiert, wie das Einsatzkommando, das die „tirillierende Protagonistin“ wegbläst; und anspruchsvolle Primadonnen sind zu „schwierigen Kundinnen“ geworden (beides S. 511). Über Bellini heißt es: „[er] nahm ebenfalls ein tragisches Ende, insofern als er schon in jungen Jahren starb“ (S. 296); eine weibliche Altstimme (auf Englisch und im italienischen Original als contralto bezeichnet) wird fälschlicherweise als „Counteralt“ übersetzt (S. 115) und anlässlich einiger Zeilen über europäische „Neo-Wagnerianer“ heißt es auf S. 533: „Im Osten [?] schrieb Peter Cornelius seinen Gunlöd (1891)“. Diese und wenige weitere Fehler und Ungereimtheiten – so blieb auf S. 33 das englische Wort Fugue statt des korrekten deutschen Fuge stehen, werden Angehörige prominenter italienischer Familien hartnäckig als „die Orsinis“ und „die Medicis“ bezeichnet – sind wohl vor allem auf Desinteresse der Lektoren oder Unwissenheit der Übersetzer zurückzuführen. Grundsätzlich ist der Band aber sehr gut redigiert.

Geschrieben ist diese einbändige Geschichte der Oper für Laien und Profis, für Studenten, Musiker, Opernliebhaber und musizierende Amateure, für Theaterbegeisterte und Stimmfetischisten. Fast alle Leser werden hier etwas finden, das neu, interessant und faszinierend ist (und die Notenbeispiele, deren Auslassung Abbate und Parker wohl lange diskutiert haben, werden nur einige Leser an wenigen Stellen vermissen). Trotz der erwähnten Mängel ist es ein wunderbares Buch: einerseits zwar erstaunlich traditionell, in dem die Geschichte der Oper in sinnvollen Abschnitten reflektiert und nacherzählt wird, andererseits aber auch ein Buch, das man – vor allem, wenn man sich gerade in den Abschnitten über das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert, über Verdi, Wagner und Richard Strauss festgelesen hat – kaum mehr weglegen möchte.

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