D. McMahon u.a. (Hrsg.): Rethinking Modern European Intellctual History

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Titel
Rethinking Modern European Intellectual History.


Herausgeber
McMahon, Darrin M.; Moyn, Samuel
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 27,58
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Timothy Goering, Fakultät Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

Ideengeschichte ist tot, lange lebe die Ideengeschichte! So scheint seit geraumer Zeit das unausgesprochene Votum über eine Disziplin zu sein, die jahrzehntelang von der Sozial- und Kulturgeschichte teils stiefmütterlich behandelt, teils zur Methodenprofilierung auch gerne als Prügelknabe herangezogen wurde. Mit leidenschaftlicher und „kritischer“ Wissenschaftspolemik konnte man zumeist subversiv und innovativ zugleich wirken, wenn man Ideengeschichte oder „history of ideas“ als rückwärtsgewandt oder naiv-idealistisch abkanzelte. Selbst renommierte Historiker, die intellektuelle Sachverhalte in ihre historische Untersuchung integrierten, meinten der Ideengeschichte öffentlich den Krieg erklären zu müssen. So hat beispielsweise Michel Foucault einmal theatralisch erklärt: „Ich werde kein Recht auf Ruhe haben, solange ich mich nicht von der ‚Ideengeschichte‘ getrennt habe.“1 Auch die „Begriffsgeschichte“, so formulierte es einst Reinhart Koselleck etwas schonender, „richtet sich ganz spezifisch gegen eine abstrakte Ideengeschichte.“2

Heute ist die nivellierende Fundamentalkritik gegen Ideengeschichte merklich abgeklungen. Häufig versteht man gar nicht mehr, weshalb diese Polemik früher als so notwendig erachtet wurde. Diese Verwunderung könnte paradoxerweise daran liegen, dass die Kritik sich nicht etwa abgenutzt, sondern durchgesetzt hat. Denn heute kann man wohl keine Ideengeschichte mehr wie Friedrich Meinecke, Hermann August Korff oder Arthur Lovejoy schreiben, die sich in den verschlungenen Gedankenlabyrinthen einiger Privilegierter verliert und dabei gleichzeitig repräsentativen Anspruch erhebt. In den letzten Jahren vollzieht sich somit ein dialektischer Aufhebungsprozess, in dem die alte „Ideengeschichte 1.0“ zu Grabe getragen worden ist, um sie dann als „Ideengeschichte 2.0“ wie Lazarus von den Toten zu erwecken.

So fasst diese selbstkritische Disziplin zumindest seit einiger Zeit wieder Fuß. „Intellectual history“, heißt es in der Einleitung dieses Sammelbandes, „is currently enjoying a moment of prominence and self-confidence greater than it has known in decades. Yet surprisingly for a field whose practitioners pride themselves on intellectual self-awareness, its star may have risen along with a decline in self-reflection“ (S. 3). Der Band steht damit unter dem Zeichen der Selbstreflexion und richtet sich an alle, die sich mit einer „Ideengeschichte 2.0“ identifizieren und die Reformbestrebungen vorantreiben möchten. Moyn und McMahon haben eine glänzende Anthologie hervorragender Essays gesammelt, die einige Facetten dieser „Ideengeschichte 2.0“ vorstellen und für heimliche und bekennende Partisanen der Ideengeschichte und auch für die Gebildeten unter ihren Verächtern gedacht sind.

In dem einführenden Aufsatz „The Return of the History of Ideas?“ zeichnet Darrin M. McMahon Geschichte und Selbstverständnis der Ideengeschichte von den 1960er-Jahren bis heute nach. Vor allem durch die Binnenkritik von Ideenhistorikern wie Robert Darnton und Quentin Skinner war die ältere „history of ideas“ in eine Krise geraten. Detailorientierte Kontextualisierung und sozialhistorische Nähe setzten in der Ideengeschichte seit den 1970-ern neue Maßstäbe. McMahon argumentiert aber, dass es durchaus noch wertvolle Schätze der traditionellen „history of ideas“ gebe, die heute von besonderem Wert seien. Er plädiert dafür, dass eine „reinvigorated history of ideas“ (S. 23) sowohl temporale als auch geographische Großkontexte wieder in den Blick nehmen solle. Dadurch werde die Mobilität und Migrationstendenz von Ideen sichtbar. Mikroanalysen der „intellectual history“ laufen schließlich Gefahr, größere Themen a priori aus dem Gesichtskreis zu verlieren.

Der sich anschließende Aufsatz von Peter Gordon „Contextualism and Criticism in the History of Ideas“ greift die Debatte um die Rolle der Kontextualisierung auf, die vor allem von Quentin Skinner seit den späten 1960er-Jahren geführt worden ist. Gordon argumentiert, „intellectual historians should not endorse contextualism as a global and exhaustive theory of meaning“ (S. 33). Mit einer Art Salamitaktik zerlegt Gordon sorgsam jede Prämisse des „contextualism“ und macht auf Grenzen und Gefahren dieser Methode aufmerksam. Erst zum Schluss seines Aufsatzes kommt er zu den eigentlich treibenden Interessen seiner Kritik. Gordon will nämlich die Geltungsansprüche von historischen Aussagen gegen ihre gewaltsame Annexion durch sozial-historische Zustände retten. Für ihn besteht die Kraft des menschlichen Intellekts darin, mit seiner Umwelt in keinem Identitätsverhältnis zu stehen, sondern sich über seine Umwelt emporzuheben.

Samuel Moyns weiter hinten im Band publizierter Beitrag kann als direkte, kritische Antwort auf Gordons Aufsatz gelesen werden. Moyn vertritt hier die These, dass Ideengeschichte sich zuallererst mit der Untersuchung der sozialen Vorstellungswelt („social imaginary“) auseinandersetzen solle. „There is no idea that is not social, and no society not ideationally founded. In this sense, a proper social history of ideas is the only plausible kind of history of ideas there is.“ (S. 117) Moyns Aufsatz wehrt sich damit insgeheim gegen Gordons Aufsatz, weil er die Trennung zwischen Repräsentation und Praxis bzw. zwischen Geltung und Faktizität nicht zum analytischen Leitprinzip der Ideengeschichte erhoben sehen möchte. Er ruft deshalb zu einer ideengeschichtlichen Praxis auf, „that finds the intellectual only in its joinder with all other aspects of social life“ (S. 122). Eine detaillierte Prüfung der praktischen Gestaltungskraft von Ideologie ist für Moyn das pochende Herz der Ideengeschichte.

Mit den Aufsätzen von Antoine Lilti und Jan-Werner Müller wendet sich der Sammelband Frankreich und Deutschland zu. Wie durch einen Verfremdungseffekt wird hier ironischerweise deutlich, wie sehr der Band vom anglo-amerikanischen Stand der „modern European intellectual history“ dominiert ist. Denn die Ideengeschichte in Frankreich und Deutschland treiben ganz andere Dinge um, wie aus diesen beiden Aufsätzen hervorgeht. Vor allem in Frankreich, so demonstriert Lilti, kommt Ideengeschichte noch heute nahezu einem Schimpfwort gleich. „For French historians“, bemerkt er, „intellectual history barely exists“ (S. 56). Auch die Begriffsgeschichte von Reinhart Koselleck, die Müller glänzend in Kürze vorstellt, schrieb sich Ideengeschichte nicht auf die Fahne, sondern präsentierte sich, wie Müller zutreffend betont, als „an auxiliary enterprise, a handmaiden even, to social history – all in order to legitimize itself and mark a proper distance to traditional Ideengeschichte and Geistesgeschichte“ (S. 79).

Die weiteren Aufsätze verfolgen alle ein gemeinsames Ziel: Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Ideengeschichte und anderen historischen Disziplinen offenzulegen und dabei Inspirationspotentiale zu finden. So wird das Verhältnis der Ideengeschichte zur Kulturgeschichte (Judith Surkis), zur Wissenschaftsgeschichte und zu Science Studies (Suzanne L. Marchand und John Tresch), zur Geschichte der Sexualität (Tracie Matysik), zur transnationalen Politikgeschichte (David Armitage) und zur Globalgeschichte (Shruti Kapila) von Experten der entsprechenden Gebiete untersucht. Warren Breckmans gelungener Abschlussaufsatz betrachtet im historischen Überblick die Interdisziplinarität der Ideengeschichte und sieht in ihr die „eclectic discipline par excellence“ (S. 290).

Lediglich der Beitrag von Marci Shore, „Can We See Ideas? On Evocation, Experience, and Empathy“, wehrt sich gegen den heutigen Rahmenkonsens über Ideengeschichte. Ungeniert und mutig plädiert sie für eine Ideengeschichte alter Schule. Von Wilhelm Dilthey inspiriert schlägt sie vor, Ideen früherer Denker „nachzuerleben“ und die „Stimmung“ des „Zeitgeistes“ (Deutsch im Original, S. 200) zu rekonstruieren. „As historians we need not only to discern, but also to recreate Stimmung“ (S. 200), schreibt sie. Sie ergreift damit ausdrücklich Partei für eine idealistische Ideengeschichte und sieht im ideellen Ideenhistoriker jemanden, der durch die verantwortungsbewusste Intuition geleitet zum kongenialen historischen Verstehen der vergangenen Denker durchbricht.

Einige Fragen bleiben offen, und es gibt natürlich, wie in jedem Sammelband, Lücken. Die Herausgeber ärgern sich in der Einleitung selbst darüber, dass die Methoden und der Einfluss der sogenannten Cambridge School nicht tiefgehender in einem eigenständigen Aufsatz diskutiert wurden. Vor allem für die deutsche Leserschaft ist dies bedauerlich, da gerade in Deutschland die Werke Skinners einen großen Einfluss auf das Selbstverständnis der Ideengeschichte ausüben. Diese Lücke repräsentiert den grundsätzlichen Umstand, dass dieser Band zunächst eine Intervention in anglo-amerikanische Debatten über Ideengeschichte darstellt. Debatten über die Ideengeschichte kreisen in Deutschland meist weniger um Fragen der Interdisziplinarität und Horizonterweiterung, vielmehr stehen noch häufig Grundsatzfragen der Legitimität und Unzulänglichkeit für die Geschichtswissenschaft zur Debatte. Eine Debatte über die methodologische Legitimität kommt in diesem Sammelband aber nicht vor. Diskussionen über die sogenannte „Neue Ideengeschichte“ der letzten Jahre, die für deutsche Leser von Interesse gewesen wären, werden nicht erwähnt. Die nationalen Schranken innerhalb der Disziplin Ideengeschichte sind noch sehr hoch. Zu hoffen ist daher, dass dieser Band auch in Deutschland gelesen wird und in Diskussionen Eingang findet.

Anmerkungen:
1 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, 8. Aufl., Frankfurt am Main 1997, S. 197.
2 Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung, in: Helmut Quaritsch (Red.), Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30./31. März 1981, Berlin 1983, S. 7–46, hier S. 45.

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