Cover
Titel
Curiosity. How Science Became Interested in Everything


Autor(en)
Ball, Philip
Erschienen
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
$35.00 / € 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina Wessely, Humboldt-Universität zu Berlin

Um die Mitte des 17. Jahrhunderts fertigte der britische Naturforscher Robert Boyle in einem seiner Notizbücher eine Liste von Objekten und Phänomenen an, an die er sich zwecks späterer Erforschung erinnern wollte: „the use of a coach, the eyes of Puppys newly whelpt, the Gunpowder whole and ground, Insects and other Creatures that lye as it were dead in the Winter, […] Monsters, and the longings and frights of teeming women, […] to breake a Glass bubble in a Barometre“ (S. 5).

Diese scheinbar unsystematische Zusammenstellung einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Gegenstände mag aus heutiger Perspektive kurios anmuten. Sie zeigt jedoch einen grundlegenden Wandel in der Geschichte der Wissenschaften an. Denn dass Boyle ein derart breites Interesse entwickelte, dass offenbar kein Naturphänomen zu trivial oder unbedeutend schien, um studiert zu werden, war keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil: Lange Zeit galt ein neugieriger Blick auf die Welt als unproduktiv, stellenweise sogar als gefährlich. Die Aristotelische Differenzierung zwischen der – negativ belegten – ‚neugierigen Umtriebigkeit‘ (periergia) und dem Erstaunen, das durch ein Wunder (thauma) provoziert werde und den Anfang allen Philosophierens markiere, wirkte in der scholastischen Tradition des europäischen Mittelalters fort und führte zur Ablehnung, mitunter zur Pathologisierung der Neugierde. Curiositas und Gottesfürchtigkeit schlossen sich wechselseitig nicht nur aus (was Gott vor dem Menschen verborgen gehalten hatte, sollte dieser nicht zu seiner Angelegenheit machen) – bei den Ergebnissen der Neugierde handelte es sich in den Augen scholastischer Gelehrter zudem um oberflächliches, nutzloses Detailwissen, das nicht mit den universellen, auf theoretischen Erwägungen basierenden und in Auseinandersetzung mit den philosophischen Autoritäten erzielten Wahrheiten konkurrieren konnte.

Bei der menschlichen Neugierde, so Philip Balls Hauptthese, handle es sich also nicht um eine anthropologische Konstante, sondern um einen spezifischen, historisch unterschiedlich verstandenen und bewerteten Zugang zur Welt und ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis: es gibt keine „continuing tradition of human curiosity that’s as old as mankind itself“, denn die Neugierde hat eine Geschichte, und diese Geschichte ist laut Ball aufs Engste mit der Entstehung der modernen Wissenschaften verknüpft (S. 1).

Mit dem Vorhaben, diese Geschichte zu erzählen, liegt Ball auf einer Interessenslinie, die die akademische Wissenschaftsgeschichte durch die Historisierung epistemologischer Schlüsselkategorien – wissenschaftlicher Objektivität und Rationalität, Einbildungskraft und Tatsache – entscheidend geprägt hat. In insgesamt dreizehn großen Kapiteln ist es in diesem Sinne und unter Einbeziehung dieser Forschungsliteratur Balls Anliegen, nicht nur die erkenntnistheoretischen Umbrüche, sondern auch die sozialen, ökonomischen und technologischen Bedingungen zu diskutieren, die zu einem Wandel in der Einschätzung der curiositas führten.

Den Schwerpunkt bildet dabei die Auseinandersetzung mit der Wissenschaftlichen Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts, denn dort ortet Ball die entscheidenden Umbrüche in der Neubewertung der Neugierde als epistemische Tugend.

Anhand der Arbeiten der experimentierenden Naturphilosophen der Spätrenaissance wird zunächst deutlich, dass die traditionell geschmähte curiositas lange im Geheimen blühte. Am Beispiel Giambattista della Portas epochemachendem Werk „Magia Naturalis“ von 1558, in dem der italienische Universalgelehrte grundlegende Alternativen zur Aristotelischen Naturphilosophie darlegte, zeigt Ball die tiefe Verwurzelung der Anfänge einer ‚neugierigen‘ empirischen Naturforschung in hermetischen und magischen Praktiken und Diskursen.

Vor diesem Hintergrund erkundet Ball die Konstellationen der Neugierde im 16. und 17. Jahrhundert: Wunderkammern und Kuriositätenkabinette sowie die virtuosi, feinsinnige Höflinge und geistreiche Gelehrte gleichermaßen, die als „rational artists in all things“ an den Fürstenhöfen die curiositas kultivierten und das zeitgenössische Patronage-System als deren sozialen, kulturellen und ökonomischen Rahmen erkennbar werden lassen (S. 52); die großen Entdeckungsreisen des 15.–17. Jahrhunderts, die außergewöhnliche, nie gesehene Dinge in erstaunlicher Zahl nach Europa brachten und damit auch eine Rechtfertigung für die experimentelle Naturphilosophie darstellten; vor allem aber die gelehrten Gesellschaften und Akademien – etwa della Portas sagenumwobener Academia Secretorum Naturae, die Accademia dei Lincei (1603), die Geheimgesellschaften der Rosenkreutzer, am prominentesten jedoch die Royal Society, deren Programm ausführlich dargestellt wird – sie stellen die Eckpunkte in Balls Geschichte der Neugierde dar. Besonders deutlich arbeitet er die Argumentationslinien von Fürsprechern und Gegnern einer an potenziell allem interessierten experimentellen Naturphilosophie anhand der Rolle technischer Instrumente heraus. So ermöglichte das Fernrohr die Ausdehnung der Neugierde auf entlegene Welten und provozierte Fragen nach möglichen anderen Welten, die mittels scholastischen Wissens nicht mehr beantwortet werden konnten; das Mikroskop wiederum eröffnete einen Blick auf die verborgenen, wundersamen Details scheinbar banaler Alltagsdinge. Immens vergrößerte Bilder von Läusen, menschlichem Sperma oder Staubpartikeln zeugten jedoch nicht nur von den bis dato unerschlossenen Wissensräumen, die von der technisch aufgerüsteten Neugierde durchdrungen wurden. Sie riefen auch Misstrauen gegen die Instrumente, Angst vor falschen Interpretationen und Diskussionen um den Nutzen und das Ziel derart generierten Wissens hervor, die in einer großen Zahl von Parodien auf die neugierigen experimentierenden Philosophen satirisch bewältigt wurden. Es war ein Leichtes, die Gelehrten, die ihre eigenen Körperflüssigkeiten zu Forschungsgegenständen adelten und mit größter Neugierde in vielfacher Vergrößerung betrachteten, als lächerliche Figuren zu zeichnen, die sich in absurden, unproduktiven Fragestellungen ohne jeden praktischen Nutzen verloren. Der Siegeszug der curiositas war allerdings nicht mehr aufzuhalten: Der moderne Wissenschaftler ist immer auch ein neugieriger Wissenschaftler.

Balls tour de force durch die Geschichte der Neugierde ist gut lesbar und unterhaltsam. Methodische Innovationen bietet das Buch jedoch nicht, und auch neue Einblicke in die Geschichte der wissenschaftlichen Revolution wird man vergeblich suchen. Balls Argument, dass eine Untersuchung der Neubewertung der Neugierde im 16. und 17. Jahrhundert diese kritische Periode der Wissenschaftsgeschichte besser verständlich werden lässt, ist von Wissenschaftshistorikern und -historikerinnen bereits ausführlich diskutiert worden. Ball kommt mit seinem Buch also (zu) spät: 1995 publizierte Lorraine Daston einen einschlägigen Aufsatz1, drei Jahre später gemeinsam mit Katharine Park die wegweisenden Studie „Wonders and the Order of Nature“. In der Einleitung zu diesem Buch, das als Schlüsseltext zur Geschichte der Neugierde gelten kann, vermuteten die Autorinnen 1998, dass angesichts der „beinahe wöchentlich erscheinenden Werke über Monster und Wunderkammern“ ein „neues Zeitalter der Neugierde“ ausgebrochen sei.2 Ball fügt dem seit damals florierenden Diskurs allerdings nichts Neues hinzu; viele der Akteure und Objekte, die schon bei Daston und Park Erwähnung finden, tauchen auch bei ihm an prominenter Stelle auf. Doch nicht nur die großen Argumentationslinien in „Curiosity“ sind bekannt (dazu zählt auch die Geschichte der wissenschaftlichen Revolution, die die Grundlage für Balls Geschichte der Neugierde bildet3). Auch einzelne Teile behandeln Themen, über die entweder – wie etwa die Geschichte der Entdeckungsreisen des 15.–18. Jahrhunderts – eine unüberschaubare Forschungsliteratur existiert oder die – wie zum Beispiel die Geschichte der Luftpumpe – in Schlüsselstudien der neueren Wissenschaftsgeschichte verhandelt wurden.4

Und dennoch: Wer nicht umfassend mit neuzeitlicher Wissenschaftsgeschichte bzw. ihrer Forschungsliteratur vertraut und auf der Suche nach einem Überblickswerk ist, das sowohl die großen Entwicklungslinien als auch reiche Details zum personellen, institutionellen und epistemologischen Kontext der wissenschaftlichen Revolution bereithält, dem sei „Curiosity“ empfohlen. Denn die Kunst, auf der Grundlage zentraler Forschungsarbeiten ein informatives, kurzweiliges und intelligent geschriebenes Sachbuch für eine breitere interessierte Öffentlichkeit zu verfassen, beherrscht Philip Ball zweifelsohne.

Anmerkungen:
1 Lorraine Daston, Curiosity and early modern science, in: World and Image 11 (1995), S. 391–404.
2 Lorraine Daston / Katharine Park, Wonders and the Order of Nature, New York 1998, S. 10.
3 Am prominentesten hierzu Steven Shapin, The Scientific Revolution, Chicago 1996.
4 Steven Shapin / Simon Schaffer, Leviathan and the air-pump. Hobbes, Boyle, and the experimental life, Princeton 1985.

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