G. Kreis: Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914–1918

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Titel
Insel der unsicheren Geborgenheit. Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914–1918


Autor(en)
Kreis, Georg
Anzahl Seiten
225 S. : s/w und farb. Abbildungen
Preis
€ 38,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sebastian Steiner, Historisches Institut, Universität Bern

Obwohl Schweizer Truppen zwischen 1914 und 1918 nicht direkt in die militärischen Auseinandersetzungen eingegriffen haben, ging der Erste Weltkrieg nicht spurlos an der mit dem Ausland eng vernetzten Schweiz vorbei. Während der Kleinstaat im Gegensatz zu anderen bei Kriegsausbruch neutralen Ländern – wie Italien, Rumänien oder den USA – nicht in den Krieg eintrat, zeitigte die fortschreitende Ressourcenmobilisierung der kriegführenden Mächte zumindest indirekt einen grossen Einfluss auf die ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Verhältnisse des Landes. Trotz der Umwälzungen, die sich während der Kriegsjahre in vielen Lebensbereichen vollzogen haben und die teilweise auch über den Krieg hinaus Bestand hatten, zeigte sich die schweizerische Geschichtsschreibung aber lange Zeit kaum an den Kriegsjahren interessiert. Wie in anderen europäischen Ländern stand der Erste Weltkrieg (besonders ab 1989) im Schatten der Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg.

„Auf den Zweiten Weltkrieg folgt der Erste Weltkrieg“: Mit diesen Worten leitet der ehemals an der Universität Basel tätige Historiker Georg Kreis denn auch sein Überblickswerk zur Geschichte der Schweiz im Ersten Weltkrieg ein, das pünktlich zum 100-Jahr-Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erschienen ist. Zwar finden sich bereits einzelne neuere Fallstudien, etwa zur Wirtschaftsgeschichte1, doch liegt bis anhin weder ein Handbuch noch ein Überblickswerk zur Schweiz im Ersten Weltkrieg vor. Die Publikation von Kreis – der sich als Mitglied der Bergier-Kommission unter anderem mit der Erforschung der umstrittenen Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg beschäftigt hat – schliesst diese Lücke. Kreis grenzt sich in seiner Einleitung von der bisher existierenden Literatur ab, die sich unter dem nationalstaatlichen Kontinuitätsparadigma vor allem auf die leichter zu erfassenden unmittelbaren Auswirkungen des Krieges konzentriert und die darauf folgende Reaktion der Schweiz als Ganzes „als gelungene Abwehr, als Minimierung von Betroffenheit, als erfolgreiche Verteidigung von Bisherigem, als Bewahrung von Herkömmlichem“ (S. 11f.) interpretiert habe. So steht in der Folge nicht die Frage im Mittelpunkt, weshalb sich das Land erfolgreich aus dem Krieg heraushalten konnte. Vielmehr richtet Kreis den Blick auf die Folgen der Kriegsjahre für die Gesellschaft als Ganzes sowie – auch und besonders – für das Einzelwesen. Neben der bekannten Forschungsliteratur wurde dazu das im Krieg bis 1917 publizierte „Politische Jahrbuch der Schweiz“, die „Schweizer Illustrierte“, der „Nebelspalter“ und die vom Bundesrat in den Kriegsjahren herausgegebenen „Neutralitätsberichte“ systematisch untersucht. Kreis setzt mit der nötigen analytischen Distanz ausserdem stark auf historisches Bildmaterial in Form von Postkarten, Fotografien und Karikaturen.

Eine ausführliche Diskussion der Forschungslage findet in der Einleitung leider nicht statt, was daran liegen mag, dass das Buch trotz seiner wissenschaftlichen Ansprüche auch an ein breiteres Publikum gerichtet ist. Die als Synthese des Wissensstandes gedachte Monografie ist in acht thematische Schwerpunkte gegliedert: Angesichts des drohenden Krieges, Zivile Landesverteidigung, Wirtschaftliche Herausforderungen, Militärische Landesverteidigung, Arbeit und Alltag, Spannungsfelder, Humanität und Fremdenfeindlichkeit sowie Warten auf Frieden und eine bessere Endzeit. Kreis zeichnet dabei mit grosser Sachkenntnis nach, wie die Schweiz durch den Kriegsausbruch aufgeschreckt wurde und wie am 1. August 1914 durch den Bundesrat 220.000 Soldaten zu den Waffen gerufen wurden. Unzureichend ausgebildet und für den Stellungskrieg schlecht ausgerüstet wurden die Milizverbände vom höchst umstrittenen und sich am deutschen Kaiserreich orientierenden General Ulrich Wille geführt, der später den Kriegseintritt der Schweiz auf Seiten der Mittelmächte fordern sollte. Im Buch wird die in vielen Bereichen mangelhafte Vorbereitung auf den Ernstfall besonders hervorgehoben. Diese ging mit einem ungeheuren Zentralisierungs- bzw. Bürokratisierungsschub in den Kriegsjahren einher, der aber weder den sich öffnenden Graben zwischen der französischen und deutschen Schweiz kitten noch die Verarmung breiter Bevölkerungskreise verhindern konnte. Die sozialen Spannungen entluden sich schliesslich unter dem Eindruck eines massiven, gegen die Arbeiterschaft gerichteten Truppenaufgebotes im November 1918. Bereits nach wenigen Tagen brach der vom „Oltener Aktionskomitee“ proklamierte Landesstreik angesichts der einsatzbereiten Armee und eines Ultimatums des Bundesrates jedoch zusammen; das politische Klima blieb über Jahre hinweg vergiftet.

Verschiedene Industriezweige profitierten hingegen trotz der sich verschlechternden Versorgungssituation der Bevölkerung und des sich zunehmend auch auf die Schweiz auswirkenden Wirtschaftskrieges der Entente von den Gewinnen, die im Krieg zu machen waren. Kreis zeigt hier besonders deutlich, dass er nicht nur bekannte Narrative miteinander verknüpft, sondern auch auf das Spannungsfeld hinzuweisen vermag, das aus dem Widerspruch zwischen der propagierten schweizerischen Neutralität, den verstärkten Aktivitäten des von Genf aus operierenden Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), der verschiedenartigen Anteilnahme der Bevölkerung an den Kriegsereignissen im Ausland und der massiven Kriegsgüterproduktion entstand. Am Ende seiner Synthese kommt Kreis schliesslich zur Beantwortung der in der Einleitung formulierten Grundsatzfrage, inwiefern die Schweiz ihre Offenheit und Verbundenheit mit der sie umgebenden Welt bereits im Ersten Weltkrieg eingebüsst habe. Dabei stellt er fest, dass sich das Narrativ der „Insellage“ zwischen 1914 und 1918 zwar stark weiterentwickelt habe, die Verhältnisse aber auch in Anbetracht des 1920 in einer Volksabstimmung beschlossenen Beitritts der Schweiz zum Völkerbund nur zu einer partiellen Verschlossenheit geführt hätten. Das leuchtet zwar ein, doch dass es ein fremdenfeindliches Potential wie nach dem Krieg „vor 1914 kaum gegeben hatte“ (S. 286) ist anzuzweifeln – man denke nur an die bereits um die Jahrhundertwende aufkommende „Ausländerfrage“ oder die so genannten „Italienerkrawalle“ 1896 in Zürich und die „Käfigturmkrawalle“ 1893 in Bern, die sich beide gewaltsam gegen die italienischen Einwanderer richteten.

Weniger überzeugend ist zudem der Aufbau des Buches, der eine Orientierung erschwert und Wiederholungen begünstigt. Überhaupt lässt sich darüber streiten, inwiefern die von Kreis vorgenommene strikte thematische Trennung zwischen ziviler und militärischer Landesverteidigung erkenntnisleitend ist – war die sich verstärkende Überlappung der Bereiche doch gerade eines der Kennzeichen der Jahre 1914 bis 1918. Der Miteinbezug der kantonalen Ebene fehlt zudem leider weitgehend, auch weil bei der Auswahl der Literatur grossmehrheitlich auf Kantonsgeschichten verzichtet wurde. Der Vergleich mit anderen Neutralen hätte sich zudem aufgedrängt, auch um das spezifisch „schweizerische“ an den Entwicklungen zwischen 1914 bis 1918 erkennen und die Handlungsoptionen eines neutralen Kleinstaates in einem globalen Konflikt aufzeigen zu können. Trotz dieser weitgehend auf den allgemein ungenügenden Forschungsstand zurückzuführenden Einschränkungen erlaubt das Buch von Georg Kreis, sich einen kurzweiligen Überblick über den derzeitigen Wissensstand zu verschaffen und dabei die wichtigste Literatur sowie einige spannende Quellen kennenzulernen.

Anmerkungen:
1 Roman Rossfeld / Tobias Straumann (Hrsg.), Der vergessene Wirtschaftskrieg. Schweizer Unternehmen im Ersten Weltkrieg, Zürich 2008.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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