J. Phillips: Collieries, Communities and the Miners’ Strike in Scotland

Cover
Titel
Collieries, Communities and the Miners’ Strike in Scotland, 1984–85.


Autor(en)
Phillips, Jim
Reihe
Critical Labour Movement Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
£65.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arne Hordt, Sonderforschungsbereich 923 „Bedrohte Ordnungen“, Universität Tübingen

Vor 30 Jahren, im März 1984, begann einer der größten Arbeitskämpfe der europäischen Nachkriegsgeschichte: Der britische Miners’ Strike dauerte knapp über ein Jahr und markierte das Ende des Konsenses zwischen organisierter Arbeiterschaft, Unternehmern und Staat in Großbritannien. Dort ist der Streik noch heute ein heiß umkämpfter Erinnerungsort, die Anhänger der Konservativen Partei beziehen sich weiterhin auf Margaret Thatchers Kampf gegen die angeblich überbordende Macht der Gewerkschaften. Die Labour Party versucht hingegen, nach dem Ende von „New Labour“, wieder an ‚verlorene‘ Werte der 1980er-Jahre anzuknüpfen. Hierzulande wird das zeithistorische Großbritannienbild seit den 1970er-Jahren vom Bild des „kranken Mannes“ geprägt; einer von sozialen Konflikten, wirtschaftlichen Problemen und imperialem Niedergang geplagten ehemaligen Großmacht, die nicht mit der deutschen Erfolgsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg mithalten kann. Doch innerbritische Deutungskämpfe wie deutsche Zerrbilder leben von unhinterfragten zeitgenössischen Denkschemata, nicht zuletzt den von Thatcher selbst entworfenen Narrativen vom Niedergang Großbritanniens und der Reformblockade durch die Gewerkschaften.

Jim Phillips, Wirtschaftshistoriker an der Universität von Glasgow, legt nun eine Untersuchung zum Bergarbeiterstreik in den schottischen Kohlerevieren vor, die dem unreflektierten Nachleben der 1980er-Jahre eine historisch-distanzierende Perspektive entgegensetzt. So liefert Phillips über die empirische Arbeit hinaus nicht nur ein anderes Bild vom Bergarbeiterstreik, sondern eine eigenständige und erfrischende Interpretation der Regierungszeit von Margaret Thatcher. Phillips belegt, dass Thatchers Politik einen auf lokaler Ebene verankerten Gesellschaftsvertrag brach und damit entscheidend zum Aufschwung des schottischen Nationalismus beitrug. Denn das latente Gefühl, dass schottische Interessen in den politischen Institutionen des Vereinigten Königreichs nicht angemessen artikuliert werden könnten, verschärfte sich im Miners’ Strike zu einem manifesten Konflikt zwischen konservativer Regierungspartei und einem Teil der organisierten Arbeiterbewegung.

Zu Beginn erklärt Phillips, warum das Bild vom Bergarbeiterstreik einer Revision bedarf. Die meisten populären Erzählungen stammen aus journalistischer Hand und fassen den Streik als Konflikt zwischen Personen und ideologischen Programmen auf.1 Konservativen Beobachtern zufolge sei der Streik von einem kleinen Kreis ‚militanter‘ Gewerkschafter aus Protest gegen die Regierung Thatcher geplant worden. Gemäß der linken Tradition sei Thatcher von Anfang an entschlossen gewesen, die Macht der Gewerkschaften zu brechen und habe an der Bergarbeitergewerkschaft National Union of Mineworkers das fällige Exempel statuiert. Die Arbeiter werden in diesen Erzählungen zur passiven Manövriermasse politischer Führer. Gegenerzählungen von Aktivisten bilden zwar ein wichtiges Korrektiv, aber sie unterstellen den Bergleuten einen einheitlichen, politisch bewussten Kampfgeist. Es handelt sich also um rationalisierende Ex-post-Konstruktionen, die dem selbsterlebten Kampf Sinn verleihen sollen. Mit keinem dieser Narrative lässt sich jedoch erklären, warum die meisten schottischen Bergarbeiter ein ganzes Jahr lang streikten. Es muss also rational und historisch nachvollziehbare Gründe für den relativen Erfolg des Streiks – die hohe und lang anhaltende Mobilisierung der Bergleute – geben, die bisher unbeachtet geblieben sind.

Um diese zu finden, erzählt Phillips zuerst die regionale Vorgeschichte des Streiks und entkräftet so das Narrativ von der Kontinuität schlechter industrieller Beziehungen im britischen Steinkohlesektor seit dem 19. Jahrhundert. In Schottland führten die Umstrukturierungen des Kohlesektors infolge der Verstaatlichung 1947 zu einer moral economy eigenen Typs: Die National Union of Mineworkers (Scottish Area) unterstützte die Rationalisierung der Produktion, solange sie von einer aktiven regionalen Industriepolitik begleitet wurde. Im Gegenzug mussten die nötigen Zechenschließungen immer von Management und Gewerkschaft gemeinsam beschlossen werden. Dieses Muster endete 1979 mit dem Amtsantritt der Thatcher-Regierung, der Ernennung eines neuen Area Director für Schottland im staatlichen Bergbaukonzern National Coal Board und der Übernahme neuer Bilanzvorgaben. Unter der Leitung von Albert Wheeler wurden die schottischen Gruben zu einem Experimentierfeld für ein aktives, gewinnorientiertes Management. In den meisten englischen Revieren setzte sich dieser neue Führungsstil erst im Streik von 1984/85 gegen den erheblichen Widerstand der konsensorientierten, älteren Manager durch.

Auch bei der Schilderung des eigentlichen Streikgeschehens will Phillips Deutungsmuster der älteren Literatur entkräften. Dazu rekonstruiert er die Rationalität des Streikhandelns und zeigt, dass die ‚spontane‘ Streikausbreitung von Zeche zu Zeche, mit robusten Überredungsmanövern durch Streikposten, von den allermeisten Gewerkschaftsmitgliedern als legitim angesehen wurde. Im Gegensatz zur zeitgenössischen Literatur, die bis weit ins linke Lager hinein die Streikausrufung ohne Urabstimmung als grundlegenden Fehler bezeichnet2, erkennt er darin ein rationales und im Verständnis der Gewerkschaft „demokratisches“ Vorgehen. Die Taktik der schottischen Streikleitung bestand darin, die Zufuhr von Kokskohle zum Stahlwerk von Ravenscraig zu blockieren. Dieses Vorgehen wurde häufig als kontraproduktiv beurteilt, da es eine Solidarität der Stahlarbeiter mit den streikenden Bergleuten unmöglich gemacht habe. Doch Phillips fasst es als rationales Vorgehen auf, denn nur die Blockade der Stahlproduktion habe den Bergarbeitern erlaubt, Druck auf die Regierung in London aufzubauen. Die Kohlevorräte der schottischen Kraftwerke, des anderen Hauptabnehmers schottischer Kohle, waren so groß, dass ein Boykott der Stromerzeugung von vornherein aussichtslos gewesen wäre.

Neben diese politische Rationalität der gewerkschaftlichen Streiktaktik stellt Phillips Solidaritätsressourcen der lokalen Gemeinschaften (communities), die er vor allem an zwei Größen festmacht. Die erste ist ein selbstentwickeltes statistisches Aggregat, das Phillips Potential Strike Endurance (Index) nennt und das sich wiederum aus drei Einzelgrößen zusammensetzt, nämlich den Gehältern verheirateter Frauen, der Dichte von Sozialwohnungen und Daten zum bisherigen Streikverhalten, dem so genannten Militancy Index. Phillips’ Versuch, anhand sozial- und betriebsstatistischer Daten einen Vergleichsindex für die relative Streikbereitschaft einzelner Zechen zu erstellen, erfolgt methodisch sauber und dürfte erhebliches Innovationspotential bergen. Die zweite Größe sind moralische Ressourcen, die nach Phillips vor allem in weiblicher Unterstützungsbereitschaft bestanden. Frauen erhielten die Gemeinschaft dadurch aufrecht, dass sie die Identität der Streikbrecher als vollwertige, arbeitende Männer in Frage stellten. Die persönliche Identifikation der Bergarbeiter mit dem ‚Wert‘ ihrer Arbeit und eine gewisse Unnachgiebigkeit gegenüber den Bossen wurden als männliche Tugenden definiert. Streikbrecher verloren ihre Männlichkeit, weil sie den Managern nachgaben. Die schandhafte Verweiblichung wurde von den Aktivistinnen am Werkstor mit drastischen Beschimpfungen kundgetan. Die enge Verzahnung von statistischen und kulturgeschichtlichen Methoden, die Phillips zur Erklärung des Streikverhaltens anwendet, stellt eine beachtliche Leistung dar.

Trotz aller Vorzüge bleibt unklar, warum Phillips in den gesellschaftliche Debatten um die öffentliche Ordnung (public order) während des Streiks keinen entscheidenden Faktor für Solidarität erkennen will (S. 2f.). Sicherlich hat die unreflektierte Konzentration auf Gewalt zwischen Polizei und Bergarbeitern zu Fehldeutungen des Miners’ Strike beigetragen. Doch die Darstellung der Bergarbeiter als „innerer Feind“ (enemy within) durch Thatcher beeinflusste die Solidarität in den Kohlerevieren entscheidend. Erst die erklärte Feindschaft der meinungsbildenden Öffentlichkeit und die Erfahrung der Konfrontation mit der Staatsgewalt führten dazu, dass die Streikenden ihr Handeln zunehmend als eigensinnige Bestätigung gemeinschaftlicher Werte auffassten.3 Gerade in Bezug auf die von Phillips stark gemachte moral economy der Kohlereviere ist zu bedenken, dass der Diskurs über die angebliche ökonomische Irrationalität der Streikenden aufs Engste mit dem Bild einer Störung des inneren Friedens durch die Bergarbeiter verknüpft war. Erst diese Verbindung verlieh den von Phillips herausgearbeiteten, antigewerkschaftlichen Praktiken der schottischen Manager einen Anschein von Legitimität. Die öffentliche Ordnung hätte also nicht ausgeschlossen werden müssen, sondern die lokalen Konflikte und Solidaritätsressourcen zusätzlich erhellen können.

Insgesamt setzt Jim Phillips’ Buch einen neuen, zeitgemäßen Standard für die Erforschung des britischen Bergarbeiterstreiks von 1984/85. Auch die Geschichte sozialer Proteste in Großbritannien in Margaret Thatchers Regierungszeit wird in Zukunft nicht an seinen Methoden und Ergebnissen vorbeikommen. Das Buch könnte sogar dazu beitragen, den deutschen Blick auf die britische Zeitgeschichte zu korrigieren. Statt von einem realen, unausweichlichen Niedergang des Landes auszugehen, sollten deutsche Historiker im Sinne von Phillips den vielfältigen, eigensinnigen und streitbaren Wandel des – noch – Vereinigten Königreiches erforschen.

Anmerkungen:
1 Vgl. als Beispiel dafür: Fancis Beckett / David Hencke, Marching to the Fault Line. The Miners’ Strike and the Battle for Industrial Britain, London 2009.
2 Vgl. John Lloyd, Understanding the Miners’ Strike (Fabian Tract 504), London 1985, S. 23f.
3 Vgl. David Waddington / Chas Critcher, Policing Pit Closures, 1984–1992, in: Richard Bessel / Clive Emsley (Hrsg.), Patterns of Provocation. Police and Public Disorder, New York 2000, S. 99–120.