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Titel
Kinder der Demokratie. Religiöse Erziehung und urbane Moderne in Spanien, 1890–1936


Autor(en)
Kössler, Till
Reihe
Ordnungssysteme 41
Erschienen
München 2013: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
544 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Marcelo Caruso, Institut für Erziehungswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

In einer Zeit, in der die südlichen Länder Europas wieder zum Gegenstand von Stereotypisierung werden, sind Untersuchungen zu hartnäckigen Geschichtsbildern besonders bedeutsam. Das ist auch der Fall bei der Frage der Erforschung des spanischen Katholizismus. Dabei handelt es sich um ein Thema, das nicht nur aufgrund seines strukturbildenden Stellenwerts in der Sozial- und Politikgeschichte Spaniens eine besondere Aufmerksamkeit in der internationalen Historiographie erfährt, sondern auch wegen der immer wieder aufflammenden Mobilisierung spanischer Katholiken, die mit einer distinkten politischen Positionierung im öffentlichen Leben des Landes bildprägende Wirksamkeit erlangt hat. Obwohl es in der Historiographie wahrlich nicht an Studien zur Entstehung und Entwicklung der ‚besonderen‘ Identifikation Spaniens mit dem Katholizismus mangelt, sind zwei Einschränkungen besonders zu erwähnen. Erstens hat die politische Rolle des Katholizismus der Beschäftigung mit spezifischen Bereichen des katholischen Lebens, auch des Bildungsbereiches, im Wege gestanden. Zweitens thematisieren solche Beiträge die Zeit bis zum späten 18. Jahrhundert und überlassen somit den Katholiken mit ihrem nicht übermäßigen Hang zur kritischen Analyse die Historiographie zu späteren Agenten, Praktiken und Institutionen katholischer Bildungsarbeit weitgehend.1

Diese Lücke ist nun mit der Arbeit von Till Kössler zum katholischen Bildungsaktivismus im frühen 20. Jahrhundert in ihrer Kartographierung, in der Definition ihrer Themen und in der historiographischen Dichte der Interpretationen anders zu vermessen und zu deuten. In seiner an der Universität München angenommenen Habilitation im Fach Geschichte legt er eine materialreiche Analyse dieses unterbelichteten Themas in gebotener analytischer Schärfe und kritischer Distanz vor. Dabei behandelt er sein Thema innerhalb eines Fragehorizonts, der die Engführung auf Bildungsgeschichte um einiges übersteigt. Er möchte mit dem Fokus auf die Transformationen von Kindheitsbildern und ihre Auswirkungen auf Mobilisierungs- und Organisationsstrategien katholischer Akteure nicht nur das gängige Bild des Katholizismus als „eine rückwärtsgewandte und den gesellschaftlichen Status quo verteidigenden Kraft“ (S. 14), sondern darüber hinaus die Frage der Politisierung und der Polarisierung der spanischen Gesellschaft in der Vorbürgerkriegszeit diskutieren. Anhand der wechselnden Thematisierung von Kindheit kann er gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen um die Zukunft des Landes jenseits der engeren politischen Sphäre ins Licht rücken. In einer sehr lesenswerten Einleitung legt er dar, wie der Ansatz der Kindheitsforschung hier nicht lediglich als ein Teilbereich der Sozial- und Kulturgeschichte aufzufassen ist, sondern wie dieser als Analyse von umfassenderen Diskurs- und Repräsentationsverschiebungen gelten kann: „Auseinandersetzungen um Kindheit und Erziehung betrafen die zukünftige Ordnung der Gesellschaft ebenso wie aktuelle familiäre Autoritätsverhältnisse, Geschlechterbeziehungen und das Verhältnis von Individuum und politischer Ordnung“ (S. 37).

In einem ersten Teil seiner Analyse unter dem Titel „Kontrollierte Moderne“ zeichnet Till Kössler die wechselvolle Erneuerung katholischer Bildung und Erziehung in drei großen Bereichen nach. Zum einen thematisiert er die Entstehung neuer Bildungsakteure und die Organisation katholischer Schulen in einem überraschenden Licht. Denn in dem Prozess der Organisation einer Vertretung des katholischen Schulwesens wurden sowohl die Entstehung einer katholisch geprägten Zivilgesellschaft als auch die Entwürfe zu einer Modernisierung des Kindheitsbildes und des Erziehungskonzepts zu zentralen Themen. Prägnant ist hierbei der Prozess der Etablierung der Federación Amigos de la Enseñanza (FAE) Ende der 1920er-Jahre, der von Till Kössler als Machtverschiebung innerhalb katholischer Bildungszirkel zugunsten reformerischer, ja reformpädagogischer Tendenzen gedeutet wird. Diese neue Vertretung eines expandierenden katholischen Schulwesens ist ein Zeichen einer weitergehenden Diskursverschiebung. Es handelt sich um die Ausbildung eines der Kontemplation absagenden, auf „apostolische Persönlichkeiten“ ausgerichteten Bildungskonzepts, in dem sich eine reformpädagogische Sicht auf Kindheit mit den Zielen der katholischen Persönlichkeitsreform und der Rechristianisierung Spaniens verbindet. Die Rezeption moderner, verwissenschaftlichter Kindheitsbilder und die Entstehung einer „modernen katholischen Pädagogik“ (S. 140ff.) wird besonders herausgearbeitet.

In einem zweiten Teil beschäftigt sich Till Kössler mit dem breiteren gesellschaftlichen und kulturellen Kontext dieser Transformationen des katholischen Milieus bzw. mit dem Bedeutungswandel von ‚Kindheit‘ in der urbanen Öffentlichkeit. Jenseits von gängigen Deutungsmustern, die in der politischen Sphäre mit ihren zunehmend polarisierenden Tendenzen eine allumfassende Interpretation spanischer Geschichte suchen, zeigt Till Kössler vermittelnd, auf welchem für Katholiken, Laizisten und Linken gemeinsamen Boden die Transformationen von Kindheitsbildern vollzogen wurden. Neue Figuren, wie das des widerspenstigen Kindes, fanden bemerkenswerte Verbreitung durch neue Medien, zum Beispiel in Kinderzeitschriften. Eindrücklich für Kösslers These der modernisierenden Querverbindungen durch die politischen Lager sind seine Rekonstruktion der Popularisierung des Dreikönigstages, bei dem Kinder im Mittelpunkt stehen, sowie die Analyse der Modernisierung von Kinderzimmern und der hygienischen Vorstellungen. Es sind Themen, bei denen katholische und laizistische Expertenkulturen verwissenschaftlichtes Wissen gleichermaßen produzierten, rezipierten, deuteten und medial in die urbane Öffentlichkeit hinein verbreiteten.

In einem dritten Teil stehen Materialien im Mittelpunkt, die die Entwicklungen im gegnerischen Lager der katholischen Bildungswelt veranschaulichen. Diese Akzentverschiebung überrascht keineswegs, denn genau die These geteilter Modernisierungsschübe in Bezug auf Kindheit und Kinderpolitik macht eine Analyse des „republikanischen“ Lagers geradezu notwendig. Till Kössler entschärft mit seiner Analyse der lokalen Bildungspolitik Madrids die zugespitzten Thesen zur republikanischen antiklerikalen Bildungspolitik nach 1931 entscheidend. Familien- und Kindheitsbilder werden hier ebenso analysiert wie gutachterliche Stellungnahmen von Jugendgerichten. Hier zeigt sich eine starke Erweiterung der Materialbasis der Untersuchung, die nun auch Archivalien berücksichtigt, während in den anderen Teilen gedruckte Quellen dominieren. Mit diesem Material rekonstruiert Till Kössler die mühsamen, letztlich nicht besonders erfolgreichen Versuche des republikanischen Lagers, demokratische Familienbilder zu etablieren, die mit dem Aufbau einer demokratischen Ordnung in wechselseitig verstärkender Beziehung hätten stehen können.

Im vierten Teil nimmt Till Kössler die katholischen Schulen und die Transformationen ihrer Verfassung stärker in den Blick. Seine gedrängte Darstellung des Bildungsangebots in staatlichen Sekundarschulen mit starkem Akademizismus und einer weitgehend entpädagogisierten und trockenen Arbeit dient der Bedeutungsbestimmung der Transformationen in katholischen Schulen. Hygienische Reform, Komfort in der Einrichtung, warmes Wasser, individuelle Zimmer in Internaten, Exkursionen, Möglichkeiten der kontrollierten Selbstorganisation von Schülern bilden starke Belege für „eine Abkehr vom monastischen Modell als Orientierungsrahmen des Schullebens“ (S. 406), das sich als alternatives, attraktives und über die katholischen Zirkel hinaus stark nachgefragtes Bildungsangebot etablierte. In diesem für eine differenzierte Betrachtung der Bürgerkriegsjahre sowie der ersten Jahre der franquistischen Diktatur zentralen Kapitel werden Verschiebungen im Diskurs und in den Praktiken katholischer Milieus exemplarisch nachgezeichnet und diskutiert.

Till Kösslers Darstellung überzeugt in der pointierten, überlegten und differenzierten Betrachtung der Akteure. Überraschend ist seine Analyse insofern, als die Historiographie rund um Bürgerkrieg und Franco-Diktatur üblicherweise durch eine gewisse Leidenschaft und eine starke Positionierung der Autoren geprägt ist. Till Kösslers These lautet hingegen, dass die Annahme einer gesellschaftlichen Polarisierung, die die Forschungsliteratur über die spanische Bildungs- und Kulturgeschichte im Begriff der ‚zwei Spanien‘ behauptet, bei allen Gegensätzen in der politischen Sphäre angesichts der Konturen einer katholisch geprägten, „kontrollierten“ Moderne eindeutig korrigiert werden sollte. Man muss die Perplexität spanischer Kollegen im Feld der Bildungsgeschichte im Zuge der Präsentation dieser Ergebnisse bezeugt haben, um die Sprengkraft seiner vermittelnden Thesen in aller Konsequenz zu würdigen. Man muss jedoch nicht jeder der Ausführungen folgen – besonders nicht der im Titel des Buches implizit stehenden These, denn die Analysen hätten eher besser mit „Kinder der Moderne“ tituliert werden können. Das mindert in keinster Weise die große Bedeutung des Buches für einen erneuerten Blick auf die Kultur- und Bildungsgeschichte Spaniens. Till Kössler hat eine Analyse vorgelegt, die in ihrer Verbindung von Forschungsansätzen gelungen und innovativ ist, in ihrer sorgsamen und materialreichen Durchführung überzeugt und trotz einer gewissen Überbetonung von Differenzen, Ambivalenzen und Spannungen konturierte Thesen für eine erneuerte Bildungshistoriographie südeuropäischer Regime des 20. Jahrhunderts liefert.

Anmerkung:
1 Bernabé Bartolomé Martínez (Hrsg.), Historia de la acción educadora de la Iglesia en España. 2 Bände, Madrid 1995.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/