A. Weigl: Bevölkerungsgeschichte Europas

Cover
Titel
Bevölkerungsgeschichte Europas. Von den Anfängen bis in die Gegenwart


Autor(en)
Weigl, Andreas
Reihe
UTB 3756
Erschienen
Anzahl Seiten
210 S.
Preis
€ 16,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Justus Nipperdey, Historisches Institut, Universität des Saarlandes, Saarbrücken

Die demographische Forschung bietet in Deutschland ein zwiespältiges Bild. Auf der einen Seite hat die Demographie massiv an Bedeutung gewonnen, und unser Jahrhundert wird als „demographisches Jahrhundert“ (S. 9) bezeichnet. Auf der anderen Seite steht der Katzenjammer der wenigen Bevölkerungshistoriker/innen, die die im Vergleich zu den Nachbarländern traditionell geringe Pflege, Ausstattung und Bedeutung ihres Themenfeldes beklagen. In dieser Lage kommt Andreas Weigls Überblicks- und Lehrbuch gerade recht. Denn erstens bietet es Interessierten einen Einblick in die komplexe Vorgeschichte unserer jetzigen demographischen Lage. Dabei bemüht sich der Wiener Historiker, allzu einfache Erklärungen beiseite zu legen und stattdessen die Vielfalt der Faktoren, die früher und heute die Bevölkerungsentwicklung beeinflusst haben, in den Blick zu nehmen. Dieser überzeugende Zugriff basiert auf den Erkenntnissen der jüngeren Bevölkerungsgeschichte. Das zeigt zweitens, wie viel sich in den letzten zwei Jahrzehnten – auch im deutschsprachigen Raum – in diesem Bereich getan hat.

Weigls Darstellung ist aus seinen Vorlesungen zum Thema hervorgegangen, und das merkt man dem Buch im positiven Sinne an. Denn der Autor möchte natürlich zum einen die Tatbestände der Bevölkerungsgeschichte schildern und systematisieren. Er tut das aber zum anderen in einem räsonierenden Tonfall, mit dem er die ältere und jüngere Forschung kritisch vorstellt und Wandlungen unseres Verständnisses der Bevölkerungsgeschichte beleuchtet. Dies hebt das Buch von älteren monographischen Darstellungen wie Livi Baccis Europa und seine Menschen ab, das eher ein geschlossenes Bild präsentierte.1 Aus dem Vorlesungskontext scheint auch die interessante Gliederung zu stammen, die eine hybride Verbindung von Chronologie und Systematik versucht. Nachdem der Autor die Phasen der europäischen Bevölkerungsgeschichte dargestellt hat, folgen thematische Kapitel zur Pest (im 6./7., 14. Jahrhundert usw.), zur Entwicklung, Persistenz (bis heute!) und Bedeutung des europäischen Heiratsmusters und zu den verschiedenen Aspekten des demographischen Übergangs, also dem Wandel von einer hohen „vormodernen“ Fertilität und Mortalität auf jeweils niedrige „moderne“ Niveaus. Die Auswahl dieser Spezialthemen bzw. die Ausführlichkeit ihrer Behandlung verweist selbstverständlich auf die besonderen Interessen und die Expertise des Autors, die in der historischen Demographie und der städtischen Sozialgeschichte liegen. Die thematischen Kapitel bauen grob chronologisch aufeinander auf, doch greifen die einzelnen Abschnitte oft bis ins Mittelalter zurück oder schreiben eine Entwicklung bis in die Gegenwart fort. Diese Darstellungsweise hat den Vorteil, Zusammengehöriges gemeinsam zu behandeln, was sich gerade bei den Themen „Pest“ oder „Heiratsmuster“ bewährt. Zugleich zwingt sie jedoch geradezu zu Wiederholungen. Von der Bedeutung der „sanitary revolution“ im späten 19. Jahrhundert kann man daher beispielsweise in den Kapiteln zum demographischen Übergang, zum epidemiologischen Übergang und zum „social gap“ (soziale Ungleichheit vor dem Tod) lesen. Aus didaktischer Sicht sind diese Wiederholungen sicherlich nützlich, für Leser/innen zuweilen etwas anstrengend.

Inhaltlich wendet sich Weigl in erster Linie gegen die von ihm als „ökonomistisch“ bezeichneten Ansätze, zu denen er insbesondere den (Neo-)Malthusianismus zählt. An vielen Punkten kann er empirisch nachweisen, dass diese strukturellen, in sich logischen Systeme weder die Vielfalt der Phänomene noch die langfristigen Entwicklungen erklären können. Auch anderen Makrotheorien steht er skeptisch gegenüber, ohne diese jedoch zu verwerfen. Dabei dekonstruiert er die Theorien des demographischen Übergangs oder des europäischen Heiratsmusters bis hin zur Ablehnung der jeweiligen Begriffe, nur um diese dann selbst weiter zu benutzen. Dies ist im Auge des Rezensenten jedoch keine Schwäche, sondern gerade die Stärke des Buchs: Weigl bemüht sich trotz aller Differenzierungen und Gegenbeispiele darum, das demographische Geschehen systematisch zu ordnen und seinem Publikum begreifbar zu machen. Er schlägt Schneisen durch das Dickicht der Phänomene, indem er in fast jedem Kapitel auf bestimmte Phasenmodelle zurückgreift. Diese basieren natürlich selbst auf hoch aggregierten Daten und sind somit angreifbar, doch bieten sie die einzige Möglichkeit, die Komplexität beherrschbar zu machen. Mit den Schwierigkeiten der bevölkerungshistorischen Theoriebildung auf der Makroebene werden die Leser/innen so oft konfrontiert, dass eine selbständige Einordnung kein Problem sein sollte. So ist auch Weigls Appell zu verstehen, am Begriff der Bevölkerungsgeschichte festzuhalten, ohne diese einer mikrohistorisch orientierten historischen Demographie diametral gegenüberzustellen.

Zwei Fragen sollen zum Schluss noch behandelt werden:

1. Was bedeutet eigentlich der Titel Bevölkerungsgeschichte Europas, oder anders gefragt: Kann man überhaupt eine zusammenhängende Bevölkerungsgeschichte Europas schreiben? Weigls Vorgehen ist ambivalent. Er lässt seine Darstellung explizit mit dem Zusammenbruch des Römischen Reiches einsetzen, da man erst ab dann von einem spezifischen Raum und einer europäischen Bevölkerungsgeschichte sprechen könne (S. 23). Andererseits ist seine Europakonzeption geographisch definiert, die europäische Bevölkerungsgeschichte zeichnet sich nicht durch eine innere Einheit oder verbindende nicht-geographische Kriterien aus. Europa bleibt vielmehr ein Raum, der lange Zeit ebenso durch demographische Divergenz wie durch Konvergenz gekennzeichnet war. Weigl bemüht sich, Daten und Fälle aus vielen Teilen des Kontinents heranzuziehen, auch wenn der Großteil schließlich doch aus West- und Mitteleuropa stammt. Gerade der aus Wiener Perspektive naheliegende Blick auf die Habsburgermonarchie erweist sich dabei als instruktiv, da sie im Schnittpunkt verschiedener demographischer Systeme lag und somit interessanteres Anschauungsmaterial liefert als die gut erforschten westeuropäischen Fälle.

2. Wie schreibt man eine Bevölkerungsgeschichte Europas in Zeiten der Globalgeschichte? Auch mit dieser Problematik geht Weigl ganz pragmatisch um. Er versucht weder, eine epochenübergreifende demographische Einheit Europas noch deren dauerhafte Differenz von der restlichen Welt nachzuweisen; ebenso wenig kehrt er Unterschiede unter den Tisch, wenn er die spezifischen Sonderentwicklungen (Nordwest-)Europas im Gegensatz zu anderen Weltgegenden beleuchtet. Insbesondere in den Einführungskapiteln vergleicht Weigl die europäische Entwicklung systematisch mit derjenigen der asiatischen Großreiche und kommt dabei in Einklang mit der jüngeren Forschung auf eher kurze Phasen größerer quantitativer Unterschiede. Auch in den folgenden thematischen Kapiteln ist der globale Aspekt integriert. Sie enden jeweils mit einem kurzen Ausblick auf den globalen Kontext des jeweiligen Themas. Eine echte Verzahnung der Kontinente im Sinne der Globalgeschichte bietet nur das kurze, sehr kursorische Kapitel zu Wanderungsbewegungen, das die bekannte Entwicklung Europas vom Aus- zum Einwanderungskontinent schildert.

Andreas Weigls Bevölkerungsgeschichte Europas wird dem schwierigen Anspruch gerecht, ein komplexes Forschungsfeld, in dem in den letzten Jahren mehr Gewissheiten zertrümmert als neu etabliert worden sind, verständlich und gut lesbar vorzustellen, ohne die herrschenden Unklarheiten oder Streitpunkte unter den Teppich zu kehren. Es ist zu hoffen, dass es nicht nur von ohnehin Interessierten für die Lehre verwendet wird, sondern die jüngere Entwicklung der Bevölkerungsgeschichte der weiteren (Fach-)Öffentlichkeit nahe bringt.

Anmerkung:
1 Massimo Livi Bacci, Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte, München 1999.

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