F. Brüning: Frankreich und Heinrich Brüning

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Titel
Frankreich und Heinrich Brüning. Ein deutscher Kanzler in der französischen Wahrnehmung


Autor(en)
Brüning, Franziska
Reihe
Beitrage Zur Kommunikationsgeschichte 27
Erschienen
Stuttgart 2012: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
462 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Herbert Hömig, Historisches Institut, Mittlere und Neuere Geschichte, Universität zu Köln

Um von vornherein ein naheliegendes Missverständnis auszuräumen: Der Name der Autorin deutet nicht auf einen familiären Zusammenhang mit dem Gegenstand dieser Untersuchung hin, die im übrigen keine Biographie Heinrich Brünings darstellt, worauf das Vorwort von Robert Frank hinweist.

Die Arbeit widmet sich weniger der Frage, inwiefern die zeitgenössische französische Publizistik die politischen Verhältnisse in Deutschland 1933 realistisch wahrgenommen hat, als dem Problem, welche Einstellungen darin wirksam waren und welche Wirkungen dies hatte. Die französische Sicht auf Deutschland zu verstehen, ist das erklärte methodische Anliegen dieser Arbeit, die auf einer Fülle von einschlägigem publizistischem und diplomatischem Material beruht. „Mentalitäten“ und „kollektive Emotionen“ im Sinne Pierre Renouvins und Jean-Baptiste Duroselles spielen in der Untersuchung eine gewichtige Rolle neben den ideologischen und religiösen Vorstellungen. Dabei stellt für die Autorin das französische „Bild vom Anderen“ nicht selten nur einen Vorwand dar, um von Frankreich selbst zu sprechen. Die Frage nach den Handlungsspielräumen und Zwangslagen, denen Brüning gegenüberstand, erweist sich in der Außenperspektive als noch komplizierter als aus deutscher oder Berliner Sicht, wenn es nicht gar die Grenze zu Unklarheit und Unverständlichkeit überschritt, von dem Unterschied von öffentlicher und veröffentlichter Meinung ganz zu schweigen.

Ziel der Untersuchung ist die kollektive Vorstellungswelt, wie sie sich in der französischen Öffentlichkeit ausbildete. Die Untersuchung erstreckt sich auf vier Gruppen historischer Quellen: Auf Stellungnahmen der kulturellen Elite, Äußerungen der Presse, bedeutsame politische Reden, und die diplomatischen bzw. außenpolitischen Dokumente, die in geradezu erschöpfender Weise erschlossen werden. Die Quellen charakterisieren jeweils verschiedene Gruppen der französischen Gesellschaft. Wie Brüning einzuschätzen sei, welchem – historischen – Deutschland er angehöre, auch ob er mehr Katholik und Rheinländer als Deutscher sei, war die zentrale Frage. Hervorzuheben ist, dass einzelne Stimmen in allen Lagern die weltanschauliche Position des katholischen Politikers Brüning sehr differenziert würdigten. Das kritische Urteil des Journalisten und Diplomaten André François-Poncet (1887–1978) verdient hier ebenso Beachtung wie die optimistische Einschätzung seines Kollegen Pierre de Margerie (1861–1942).

Als Ausnahmeerscheinung weckte Brüning kaum weniger Misstrauen denn als „Kanzler mit den zwei Gesichtern“. Das Bild des „doppelten Deutschlands“ stand im Widerspruch zum „ewigen Deutschland“, wie es aus dem 19. Jahrhundert überliefert worden war. Dies zeigte sich vor allem in den Negativurteilen über den Politiker. Sie schlugen sich in den Stellungnahmen zur Wirtschaftskrise und den Reparationen, der Abrüstungsfrage und der innenpolitischen und weltanschaulichen Situation in der Weimarer Republik nieder.

Die Frage, wie sich die Urteile der französischen Linken und Rechten über Brüning in dessen Amtszeit entwickelten, fordert methodisch abgesicherte Antworten heraus. Die Reaktionen der Radicaux-Socialistes beispielsweise schwankten zunächst zwischen politischer Neutralität und Wohlwollen. Später war die Rede von einer „verkleideten Diktatur“ des deutschen Kanzlers im Hinblick auf die Notverordnungen. Zuletzt kommentierte man Brünings Verhältnis zu Hitler und dem Nationalsozialismus. So prägten irreführende Analogien zwischen Hitler und Mussolini die französische Sichtweise auf die deutschen Verhältnisse. Die Sozialistische Partei (SFIO) kritisierte das politische Programm des Kanzlers und befürchtete eine fortschreitende Auflösung der Republik, was sie veranlasste, sich der deutschen SPD zu nähern. Im Widerspruch dazu stand der Umstand, dass die SFIO der Wirtschaftspolitik Brünings zuletzt größeres Verständnis als früher entgegenbrachte. Die extremen Parteien auf der Rechten und Linken waren entweder auf ihr traditionelles Bild eines gefährlichen „ewigen Deutschlands“ oder den Kampf gegen den Kapitalismus fixiert.

Die dichte Materialgrundlage der Arbeit erschließt die verschiedenen Deutschlandbilder in der französischen Öffentlichkeit, die im Kern nicht als letztlich widersinnig abgetan werden können. Die Wirtschaftspolitik, die Reparationsfrage, die partielle Aufrüstung der Reichswehr und der Versuch einer Zollunion mit Österreich irritierten die Franzosen auf unterschiedliche Weise. So verwundert es nicht, dass die Studie die Zollunion schlicht als politischen Fehler des Kanzlers bezeichnet. Die Franzosen erwarteten zu Beginn der dreißiger Jahre die verheerenden Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise noch nicht und täuschten sich über die Entwicklung in Deutschland. Dies galt auch für die weitgehende Fehleinschätzung der nationalsozialistischen Bewegung.

Ob man Brüning jenseits des Rheins einen Nationalisten nennen konnte, hing davon ab, wie die Franzosen zu ihrer eigenen Nation standen. Ideologisch bedingte Befangenheit hinderte sie daran, die innen- und außenpolitischen Faktoren, die sein Handeln bestimmten, realistisch einzuschätzen. Hier ergibt sich wiederum die Frage, inwiefern die deutsche Politik Missverständnissen und Fehleinschätzungen im Ausland Vorschub leistete. Dies war nicht allein auf die politische Kulisse der Kriegsereignisse nach 1918 zurückzuführen.

Das Verhältnis zwischen Brüning und Briand erscheint in französischer Perspektive freilich nicht anders als in der deutschen. Briand fand in Brüning nicht den Partner, den er nach dem Tode Stresemanns erhofft hatte. Im Zeichen der Weltwirtschaftskrise und des Aufstiegs des Nationalismus waren die Chancen für eine vertrauensvolle und aktive Zusammenarbeit kaum noch gegeben. Die verschlechterten deutsch-französischen Beziehungen waren ablesbar an einzelnen Ereignissen wie der Ablösung des Staatssekretärs Carl v. Schubert durch Bernhard Wilhelm v. Bülow, die Ablehnung von Briands Europa-Memorandum im Sommer 1930 und das Echo auf die Gespräche Brünings mit Mussolini im August 1931.

In Frankreich entstand allmählich der Eindruck, dass jede Verständigungspolitik gegenüber Deutschland nur dessen Bemühungen um eine Revision der Friedensordnung von Versailles begünstigte. Die öffentliche Meinung blieb auf die Sicherheitsfrage und das Problem der Reparationen gerichtet. Die schwachen Versuche einzelner Intellektueller, „Brücken zu bauen“, offenbarten eine verbreitete Ratlosigkeit. Als geradezu hilflos erwies sich jede historische Kritik an der angeblichen Erbfeindschaft zwischen beiden Völkern. Die Strukturen der französischen Vorstellungswelt über Deutschland zwischen 1930 und 1933 erwiesen sich in einer Zeit der Krise und der politischen Orientierungslosigkeit als fatal, da sie die Realitätswahrnehmung der Zeitgenossen verzerrten und eine aktive, zielgerichtete und erfolgreiche französische Deutschlandpolitik angesichts der nationalsozialistischen Gefahr für Europa verhinderten.

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