G. Schwerhoff (Hrsg.): Stadt und Öffentlichkeit

Cover
Titel
Stadt und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit.


Herausgeber
Schwerhoff, Gerd
Reihe
Städteforschung, Reihe A: Darstellungen 83
Erschienen
Köln 2011: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
219 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Esther-Beate Körber, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die Vorstellungen von Öffentlichkeit, die den schriftlich ausgearbeiteten Fassungen der Vorträge dieses Tagungsbandes zugrunde liegen, sind durchaus unterschiedlich. Sie miteinander vereinbaren zu wollen, wäre nicht nur vergebliche Mühe, sondern würde auch in unzulässiger Weise verschleiern, in welchem Grad Öffentlichkeitsbegriffe in der geschichtswissenschaftlichen Diskussion noch immer kontrovers sind. Gerd Schwerhoff versucht denn auch in seinem einleitenden Aufsatz gar nicht erst, die widerstreitenden Konzepte zu harmonisieren, sondern formuliert stattdessen zwei in gewisser Weise einander entgegengesetzte Fragerichtungen für die Beiträge. Einerseits sollen sie – sozusagen ausgehend von Habermas’ Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit – fragen, wie diese Öffentlichkeitsstruktur entstanden ist; andererseits soll von der Frühen Neuzeit her nach deren spezifischen Öffentlichkeitsformen gesucht werden. Zwei dieser Spezifika, die große Bedeutung der Kommunikation unter Anwesenden und die Bindung der Öffentlichkeit an Räume, werden gleich genannt. Habermas spielt als Bezugsgröße für Schwerhoff offenbar eine wichtige Rolle, wenn er auch mit den Worten, man könne doch „ganz unbefangen danach fragen, was denn Öffentlichkeit […] bedeutete“ (S. 6), ein gewisses Unbehagen gegenüber großen theoretischen Entwürfen artikuliert. Ob solche Unbefangenheit gerade vor dem Hintergrund theoretischer Konzepte noch möglich ist oder im Gegenteil erst verstärkte Reflexion die Begriffe klären kann, mag man sich fragen.

Für die Einzelbeiträge spielen Öffentlichkeitstheorien eine unterschiedlich große Rolle. Rudolf Schlögl stellt sein Konzept von frühneuzeitlicher Öffentlichkeit als „Vergesellschaftung unter Anwesenden“ vor und bestimmt die Stadt im Wesentlichen als einen Raum, in dem direkte Kommunikationsvorgänge und Rituale die wichtigste Rolle bei der Organisation sozialer Beziehungen spielten. Die „säkularisierte Neuigkeit“ (S. 36) sei nicht prägend für die Stadt gewesen, meint er und schreibt auch dem Druck nur eine Nebenrolle zu. Die folgenden Aufsätze stehen zwar nicht in direktem Widerspruch zu diesem Konzept, gehen aber zum Teil von anderen Voraussetzungen und damit anderen Begriffen von Öffentlichkeit aus. Susanne Rau erläutert zunächst ausführlich die Diskussion um Habermas, stützt aber ihre eigenen Aussagen zu „öffentlichen“ Strukturen in der Stadt Lyon auf das frühneuzeitliche Verständnis von „öffentlich“ als alle betreffend, allgemein zugänglich – im Gegensatz zu „privat“ auf Einzelne bezogen. So erscheinen in ihrem Beitrag Schmugglerwege, Wachgänge und Orte, die von vielen Menschen in Anspruch genommen werden (können), als räumliche Strukturen von Öffentlichkeit. Beat Kümin thematisiert die Wirtshäuser als „öffentliche“ Orte der Frühen Neuzeit mit vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten vom Alkoholgenuss bis zu politischen Debatten. Besonders hebt Kümin hervor, dass Wirtshäuser sowohl der politischen Entscheidungsfindung unter den Mächtigen als auch der Kontrolle der weniger Mächtigen dienen konnten. Gerhard Ammerer stellt am Beispiel Salzburg das Kaffeehaus als einen in ähnlicher Weise zweifach und vielleicht auch zweideutig bestimmten Ort vor: Ort der Kontrolle und Ort der Entstehung bürgerlicher Öffentlichkeit. In dem Beitrag von Dagmar Freist über London ist es dagegen nicht der Ort einer Information, durch den diese „öffentlich“ wird, sondern ihr Warencharakter. Freist sieht daher in der frühneuzeitlichen Londoner „Öffentlichkeit“ eine Vor- oder Frühform der heutigen Informationsgesellschaft. André Krischer wiederum geht in seinem Beitrag zur politischen Öffentlichkeit der Alten Stadt von einem Öffentlichkeitsbegriff aus, der eindeutig an Personen haftet, sich aber nicht in einer klaren Definition fassen lässt. Krischer identifiziert „Öffentlichkeit“ einerseits mit der Zuschauerschaft eines Rituals oder einer Zeremonie sowie mit den – in anderer, aktiverer Art – Beteiligten an einem Fest. Andererseits weist er darauf hin, dass der Rat einer Stadt sich selbst als „Öffentlichkeit“ eigenen Rechts und eigener Art verstand, wobei der Öffentlichkeitscharakter nach diesem Selbstverständnis wahrscheinlich nicht der Einzelperson, sondern dem Rat als Korporation zukam und seine Grundlage darin gesehen wurde, dass diese Korporation mit politischen Rechten und Entscheidungsmöglichkeiten (Macht) ausgestattet war. Holger Zaunstöck versteht „Öffentlichkeit“ als allgemeine Wahrnehmbarkeit. Daher ist für Zaunstöck das Architekturprogramm des Hallischen Waisenhauses in der gleichen Art „öffentlich“ wie beispielsweise die Umtriebe von Studenten oder die obrigkeitlichen Versuche, solches Verhalten zu kanalisieren oder zu unterdrücken.

Während die bisher genannten Beiträge jeder auf seine Weise auf konkrete Räume, oft auf spezifische Städte bezogen sind, gehen die letzten beiden das Problem der Öffentlichkeit in anderer Art an und bieten ein gewisses Gegengewicht zu raumbezogenen Öffentlichkeitskonzepten. Patrick Schmidt stellt die interessante Frage, warum die Handwerker nicht zur entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit gerechnet wurden. Er führt das auf eine bewusste Abgrenzungsstrategie des Bürgertums zurück, deren Nachwirkungen bis in Habermas’ Öffentlichkeitskonzept hinein spürbar seien. Dass die Handwerker dennoch an „Öffentlichkeit“ teilhatten, sieht er durch drei allgemeine Verhaltensweisen garantiert: durch ihre Versuche eigenständiger Interessenvertretung, ihre Teilnahme am zünftischen Leben und durch die Tatsache, dass auch Handwerker weltweite Nachrichten empfangen und verarbeiten konnten. „Öffentlichkeit“ wird also hier als politische und sozusagen informationelle Partizipation verstanden, mit nur bedingter Bindung an konkrete Räume. Der Beitrag von Frédéric Barbier schließlich stellt den Buchdruck und die Schriftkultur in den Mittelpunkt, im pointierten Gegensatz zu den deutschen Beiträgen und insbesondere zu Schlögl. Die „gedruckte Öffentlichkeit“ (S. 204), die zwar an Materie gebunden ist, räumlich jedoch dispers sein kann, ist die Öffentlichkeitsstruktur, um die es Barbier geht, wobei sein Überblick von Gutenberg bis ins 19. Jahrhundert reicht.

Wer die Aufsätze nacheinander liest und dabei ein Bild von städtischem „öffentlichem“ Leben in der Frühen Neuzeit zu gewinnen versucht, bekommt den Eindruck geradezu überwältigender Vielfalt und Fülle. Nicht nur die behandelten Städte haben ganz unterschiedlichen Charakter – Hauptstädte, Handelsstädte, Universitätsstädte, Groß-, Mittel- und Kleinstädte, Ackerbürgerstädte. Auch die Formen „öffentlichen“ Lebens erscheinen fast nicht abgrenzbar gegen etwas „Anderes“: Rat und Stadtbürgerschaft, Handelsnetze und Schmuggelwege, Alltag und Fest, Personen, Dinge, Informationen, alles kann „öffentlich“ sein. Dieser Eindruck der Unabgrenzbarkeit resultiert freilich zum Teil aus der Vielfalt der Öffentlichkeitsbegriffe, mit denen in den unterschiedlichen Beiträgen die Phänomene städtischen Lebens in der Frühen Neuzeit untersucht werden. Das mag insofern intellektuell unbefriedigend erscheinen, als zugleich klare und allgemein akzeptierte Begriffe von „Öffentlichkeit“ offensichtlich noch nicht gefunden sind und wahrscheinlich auch nicht so bald gefunden werden. Für den intellektuell redlichen Umgang mit Öffentlichkeitsbegriffen muss das jedoch kein Schade sein, im Gegenteil. Gerade die Konfrontation – oder schon das bloße Nebeneinanderstellen – verschiedener Möglichkeiten der Definition von „Öffentlichkeit“ zeigt, dass es die eine Öffentlichkeit weder in der Frühen Neuzeit gegeben haben kann noch heute gibt und dass es sie wahrscheinlich niemals geben wird.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension