M. Thomson: Studies in the Historia Augusta

Cover
Titel
Studies in the Historia Augusta.


Autor(en)
Thomson, Mark
Reihe
Collection Latomus 337
Erschienen
Bruxelles 2012: Éditions Latomus
Anzahl Seiten
155 S.
Preis
€ 27,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Fündling, Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Zu den abschreckenden Seiten der Beschäftigung mit der Historia Augusta (HA) gehört seit je die Mühe, sich als außenstehender Altertumswissenschaftler einen Überblick zur Problemlage und zum notorisch unübersichtlichen Forschungsstand zu verschaffen. Thomsons schlanker Band will nicht nur eigene Beiträge zur anhaltenden Debatte um Struktur, Entstehung und Nachwirkung der Biographiensammlung, ihren anonymen Autor sowie dessen literarisches und soziales Milieu liefern, sondern im Zuge der sechs Kapitel seiner Studie offensichtlich auch eine allgemeine Orientierung zur HA-Forschung geben, wie sie gerade in englischer Sprache bislang dringend vermisst wird. Leider ist es nicht leicht, eine gut begründete Argumentation mit einer ausgewogenen, weitgespannten Forschungsübersicht zu verbinden, und das Ergebnis zeigt Schwächen in beiden Bereichen.

Die Einleitung (S. 5–19) sowie die drei folgenden Kapitel „Authorship“, „Date“ und „Context“ (S. 20–69) gehen zu weiten Teilen im Referieren des Diskussionsstandes auf; die Rubrik „Conclusion“ am Ende jedes Kapitels mischt die Mehrheitsmeinung der HA-Forschung etwas unglücklich mit persönlichen Thesen – man kann es wohl kaum als ‚Resultat‘ der Forschungen Thomsons bezeichnen, die sechs pseudonymen Verfassernamen seien in der Tat pseudonym (vgl. S. 36). Weitaus problematischer ist die Literaturbasis: Der Zugriff ist, vorsichtig ausgedrückt, hochselektiv. Unverzichtbare Titel fehlen, voran alle seit 1991 vorgelegten Bände der Bonner Kommentarserie zur HA; andere Arbeiten wie die grundlegende Studie von Klaus-Peter Johne zu den Kontroversen um das Datum der HA tauchen im Literaturverzeichnis zwar auf, gehen aber nicht in die entsprechenden Textpassagen ein.1 Dieses Vorgehen betrifft außer deutschsprachigen Beiträgen gehäuft auch französische und italienische – angesichts der Internationalität gerade der HA-Forschung eine originelle Herangehensweise.

Entsprechend fällt das gezeichnete Bild aus. Die heutige Meinung zum Entstehungsdatum der HA wird in einer einleitenden Notiz verkürzt auf „between about 395 and about 400“ fixiert (S. 7); die Fülle an Alternativen, die vor und nach dem Zeitraum von 395 bis 405 ins Gespräch gebracht wurden und werden, erschließt sich an keiner Stelle. Das eigentliche Datierungskapitel (S. 37–53) katalogisiert viele mutmaßliche oder nachgewiesene Anachronismen gegenüber der vorgetäuschten Entstehungszeit der HA, selten allerdings deren Ersterwähnung in der Literatur, und verengt sich gegen Ende hin auf eine Auseinandersetzung mit der Position André Chastagnols (S. 47–53), ohne diese Auswahl, falls es eine ist, zu begründen.

Zur Quellenfrage fehlt jede terminologische Klärung des Unterschieds zwischen nachgewiesenen oder vermuteten Quellen der HA im engeren Sinn und der Unmenge potentieller literarischer Vorlagen. Letzten Endes entwirft Thomson ein Schema, das vier sukzessive Hauptquellen und Ergänzungen aus der Breviarienliteratur annimmt (S. 19, Fig. 2), also den Forschungsstand der ausgehenden 1970er-Jahre in vergröberter Form fortschreibt. Etwas überraschend meint der Autor en passant durch eine Liste inhaltlicher Parallelen die komplexe Frage einer Abhängigkeit zwischen Cassius Dio, Marius Maximus und der HA klären zu können; hier hätte ihm ein Blick in die verfügbare Sekundärliteratur Arbeit erspart.2 Stärker noch wird die mehr als kontroverse Quellengeschichte der Viten zum 3. Jahrhundert eingeebnet, deren Diskussion die HA-Colloquia der letzten 15 Jahre dominiert. Für die Debatte um Vater und Sohn Nicomachus Flavianus samt deren literarischen Aktivitäten reicht eine Fußnote (S. 11, Anm. 27); weder die einschlägige Studie Bruno Bleckmanns noch deren Bedeutung für das neubelebte Interesse an Nicomachus Flavianus scheint Thomson geläufig zu sein.3 Nicht problematisiert wird der nach wie vor umstrittene Charakter der Enmannschen Kaisergeschichte, geschweige denn die Frage einer direkten Benutzung dieser Quelle durch die HA. Noch flüchtiger behandelt ist Eusebius von Nantes, Gegenstand einer Reihe besonders umkämpfter Theorien; nach der beiläufigen Erwähnung zu schließen (S. 68, Anm. 79), gäbe es zum Thema überhaupt nur englischsprachige Literatur.

Tragfähiger fällt die Wiedergabe der Forschungsgeschichte zum Profil des anonymen HA-Autors aus (S. 20–36), sie unterschlägt aber vollständig den jahrzehntelangen, noch immer nicht ganz erloschenen Widerstand. Thomson sieht – wie viele vor ihm – den Ursprung des Werks im Umkreis der spätantiken Rhetorenschulen. Neu ist die gewagte Verbindung, die er zur Anthologie der Panegyrici Latini zieht – die HA könne sich als eine Art Ergänzung zu Sueton und den zwölf Reden verstanden haben, die zusammen eine Art Kaisergeschichte ergäben (S. 28 mit Anm. 43). Eine thematische Verwandtschaft zwischen Lobrede und spätantiker Biographie ist nicht abwegig, doch wünscht man sich mehr Argumente. Die fiktiven sechs Autorennamen verlocken, wie Thomson selbst zugibt, zum freien Assoziieren: „Once one starts punning, the habit is hard to break“ (S. 34). Entsprechend schwer sind neue Vorschläge zu bewerten; für das Namenselement Lampridius, der Form nach ein spätantikes signum mit griechischer Wurzel, drängen sich lateinische Anklänge nicht gerade auf. Exotisch wirkt der Versuch, den berühmten Beginn der vita Aureliani mit seiner Lizenz zum freien Erfinden als die große Ausnahme zu interpretieren, „a ludic moment in an otherwise more serious text“ (S. 35), zumal Thomson selbst die HA an anderer Stelle als parodistisch charakterisiert (S. 83).

Die im Kapitel „Context“ (S. 54–69) ausführlich entfaltete Ansicht, der HA-Autor schreibe als Protegé einer Senatsfamilie und für ein im Kern senatorisches oder doch senatsnahes Publikum, ist heutzutage nicht gerade provokant; von einer Rezeption der wahrhaft einschüchternden Literaturfülle zum Thema ‚HA und Senat‘ merkt man wenig. Dazwischen schieben sich Vermutungen wie jene, ins Kochbuch des Apicius könnten oder müssten verschiedene Kaisernamen durch die Lektüre von Sueton und Marius Maximus geraten sein (S. 68; vgl. S. 64) – sind Traian und Commodus so esoterische Wissensgegenstände? Kapitel 4 (S. 70–88) bietet die stark entschärfte Form der von Thomson an anderer Stelle4 vertretenen These, der HA-Autor sei identisch mit dem sizilischen Rhetor und Dichter Naucellius, „without necessarily suggesting that they were one and the same person“ (S. 75). Möglicherweise handle es sich um einen böswilligen Naucellius-Imitator.

Leicht irreführend ist die Überschrift des Kapitels „Redaction“ (S. 89–102), das keineswegs um verschiedene Bearbeitungsstufen der HA-Viten (diese werden in einer Fußnote am Rand abgehandelt: S. 90, Anm. 3), sondern um deren ursprüngliche Reihenfolge kreist. Unter den verschiedenen überlieferten Sequenzen in der Handschriftentradition entscheidet sich Thomson für die des Codex Palatinus, setzt sie mit der Anordnung des Archetyps gleich und diesen wiederum mit dem Zustand des Originals. Beide Schritte sind methodisch bedenklich.5 Auf festerem Boden steht die letzte Studie zum Thema „Reception“, welche die insgesamt dürftige Nachwirkung der HA in Spätantike und frühem Mittelalter rekapituliert. Über das Interesse von Adelsfamilien an der Überlieferung und Korrektur von Handschriften im 5. und 6. Jahrhundert ist seit der Drucklegung ein neuer Streit entbrannt.6 Ein überzeugender Fund Thomsons ist eine Spur von HA Hadr. 20,8 in Einhards Vita Karoli Magni (25); dies spricht für die Lektüre – und eventuell auch die Abschrift – Suetons und der HA als geschlossenes Ganzes. Die Folgerungen Thomsons zum Überlieferungsweg der HA über spätantik-frühmittelalterliche Klöster ins Frankenreich bewegen sich in etwa im Rahmen des schon früher Vertretenen.

Ein nützliches Verzeichnis der Quellenverweise ist dem Band beigegeben, leider aber kein Index. Insgesamt bleibt ein zwiespältiger Eindruck: Was Thomson an eigenen Vermutungen bietet, hätte sich deutlich geradliniger ohne die vielen katalogartigen Passagen in Text und Fußnoten vorstellen lassen; andererseits wird zu den Kernthemen der HA-Forschung ein höchst unvollständiger Überblick geboten, der ausgerechnet die besonders verwirrenden Problemfelder umgeht, statt sie zu erschließen, und dem Leser ein ums andere Mal wichtige Hilfsmittel oder Sondermeinungen vorenthält. Eine klare Option für nur einen der beiden Hauptzwecke hätte dem Buch besser getan.

Anmerkungen:
1 Klaus-Peter Johne, Kaiserbiographie und Senatsaristokratie. Untersuchungen zur Datierung und sozialen Herkunft der Historia Augusta, Berlin 1976, S. 11–46.
2 Jörg Fündling, Kommentar zur Vita Hadriani der Historia Augusta, Bonn 2006, S. 102–118 u. 128–137.
3 Bruno Bleckmann, Die Reichskrise des III. Jahrhunderts in der spätantiken und byzantinischen Geschichtsschreibung. Untersuchungen zu den nachdionischen Quellen der Chronik des Johannes Zonaras, München 1994; ders., Bemerkungen zu den Annales des Nicomachus Flavianus, in: Historia 44 (1995), S. 83–99. Wohl erst während der Drucklegung des vorliegenden Buches erschien Alan Cameron, The Last Pagans of Rome, Oxford 2011, der lange Passagen einer Polemik gegen die neuere Flavianus-Forschung widmet (S. 627–690); eine erste ausführliche Replik lieferte François Paschoud, On a recent book by Alan Cameron: The Last Pagans of Rome, in: Antiquité tardive 20 (2012), S. 359–388.
4 Mark Thomson, Logodaedalia: Ausonius and the Historia Augusta, in: Carl Deroux (Hrsg.), Studies in Latin Literature and Roman History XIV, Bruxelles 2008, S. 445–475.
5 Besonders zur Kodikologie vgl. S. 5–10 der Rezension von François Paschoud zum vorliegenden Werk in: Histos 7 (2013) vom 1. Januar 2013, <http://research.ncl.ac.uk/histos/documents/2013RD01PaschoudonThomsonHistAugust.pdf> (07.11.2013).
6 Stark relativiert von Cameron, Pagans, S. 422–497.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension