R. Wick: Die Mauer muss weg – Die DDR soll bleiben

Cover
Titel
Die Mauer muss weg – Die DDR soll bleiben. Die Deutschlandpolitik der Grünen von 1979 bis 1990


Autor(en)
Wick, Regina
Reihe
Wege zur Geschichtswissenschaft
Erschienen
Stuttgart 2012: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
326 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silke Mende, Seminar für Zeitgeschichte, Universität Tübingen

Mit dem Slogan: „Alle reden von der Einheit, wir reden vom Wetter“, versuchten die westdeutschen Grünen im Bundestagswahlkampf 1990 einen bewussten Kontrapunkt zur Wiedervereinigungseuphorie zu setzen, die beträchtliche Teile der Gesellschaften in Ost und West nach dem Fall der Berliner Mauer erfasst hatte. Der Mauerfall ebenso wie die sich rasant verändernde weltpolitische Lage hatte die anderen Parteien nicht minder überrascht als die Grünen. Allerdings gelang es den Grünen mit Abstand am Wenigsten, neue Antworten auf die veränderten Herausforderungen zu finden. Die Quittung erhielten sie am Abend des 2. Dezember 1990, als feststand, dass die Partei nach zwei Legislaturperioden nicht mehr im Bundestag vertreten sein würde. Allein den ostdeutschen Grünen, mit denen die West-Grünen am Tag nach der Wahl fusionierten, war es zu verdanken, dass die Partei nun doch im ersten gesamtdeutschen Parlament saß.

Die geradezu trotzige Haltung der westdeutschen Grünen im Wiedervereinigungswahlkampf lässt sich erklären, wenn man die DDR- und Deutschlandpolitik der Partei seit ihrer Gründung in den Blick nimmt. Diese nachzuzeichnen und zu analysieren ist das Ziel der Heidelberger Dissertation von Regina Wick. Dabei macht sie gleich zu Beginn ihrer Untersuchung völlig zu Recht deutlich, dass sich die Partei in der Deutschlandpolitik während des ersten Jahrzehnts ihres Bestehens ähnlich schwer wie auf den meisten anderen Politikfeldern tat, einen klaren und von einer innerparteilichen Mehrheit getragenen Standpunkt zu finden.

Regina Wick entscheidet sich für eine „strömungsorientierte Gliederung“, die überzeugt. (S. 17) Denn der mit dieser verbundene Ansatz verhindert „zum einen, dass Einzelmeinungen undifferenziert als Konsens der gesamten Partei dargestellt werden und beugt zum anderen der Gefahr vor, sich in der Darstellung mitunter irrelevanter Teilaspekte zu verlieren“ (S. 73). Die Arbeit gliedert sich in zwei große, wenn auch ungleichgewichtige Teile. Im Mittelpunkt des ersten Teils steht die „vorparlamentarische Zeit“ der Grünen von ihrer Gründung Ende der 1970er-Jahre bis zu ihrem ersten Einzug in den Bundestag im März 1983. Hier skizziert Wick die Rahmenbedingungen grüner Deutschlandpolitik sowie die engen Verbindungen mit der Friedensbewegung. Der zweite Teil, der den Schwerpunkt der Arbeit ausmacht, gliedert sich in drei Kapitel. Zunächst macht die Autorin vier deutschlandpolitische Strömungen innerhalb der Grünen aus und präsentiert ihre Zusammensetzung und Protagonisten, ihre Ziele und Motive. Die beiden folgenden Kapitel sind der konkreten deutschlandpolitischen Praxis der Grünen gewidmet und beinhalten Veränderungen von Positionen und Neugruppierungen der unterschiedlichen Strömungen. Eines hat die erste grüne Legislaturperiode im Bundestag (1983–1987) zum Thema. Das andere behandelt die grüne Deutschlandpolitik in der nachfolgenden Legislaturperiode bis zu den vorgezogenen und ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen im Dezember 1990.

Die vier deutschlandpolitischen Strömungen innerhalb der Grünen arbeitet die Autorin präzise heraus, mag man in Einzelfällen über die Zuordnung einzelner Protagonisten – wie immer bei idealtypisch gedachten Gruppen – auch diskutieren können. Zu diesen Strömungen zählt sie erstens die „Dialogfraktion“, eine „tendenziell DDR-freundliche Gruppe von Grünen“ (S. 75). Zu ihr gehörten etwa viele derjenigen, die Ende der 1970er-Jahre aus den K-Gruppen zur grün-alternativen Bewegung gestoßen waren, außerdem der ehemalige RAF-Anwalt Klaus Croissant sowie der zeitweilige deutschlandpolitische Sprecher der Grünen Dirk Schneider. Beide wurden Anfang der 1990er-Jahre als informelle Mitarbeiter der Stasi enttarnt (S. 76). Ihnen diametral gegenüber stand zweitens die „Basis- und Symbolfraktion“. Für diese stand die Kritik an der SED sowie der Kontakt zu und die Unterstützung von Oppositionellen in der DDR im Vordergrund. Vor allem in der Anfangsphase unternahmen Anhänger dieser Gruppierung, unter ihnen Petra Kelly und Gert Bastian, eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen symbolpolitischen Aktionen in der DDR, für die sie von vielen Parteifreunden aus unterschiedlichen Gründen kritisiert wurden. Drittens identifiziert Wick eine „Vermittlerfraktion“, „die sich ebenfalls für Oppositionskontakte einsetzte, den Kontakten zur Staatsebene aber tendenziell den Vorrang gab. Sie sah diese als Mittel zum Zweck für mehr Freizügigkeit an“ (S. 75). Mit Blick auf die deutsche Vergangenheit erschien aus ihrer Sicht zudem eine deutsche Wiedervereinigung nicht nur auf immer verwirkt, sondern auch keinesfalls mehr als wünschenswert. Die Vermittlerfraktion gewann in der zweiten Legislaturperiode und dann vor allem in den turbulenten Jahren 1989/90 parteipolitisch die Oberhand. Demgegenüber verlor eine letzte Gruppe, die in den Anfangsjahren die deutschlandpolitische Diskussion innerhalb der Grünen recht stark mitbestimmt hatte, zusehends an Einfluss. Das waren viertens die „Nationalneutralisten“, die eine deutsche Wiedervereinigung unter neutralen Vorzeichen anstrebten und diese Forderung häufig mit nationalistischen Tönen untermalten. Unter anderem Letzteres führte zu scharfer Kritik innerhalb der Partei und schließlich zu ihrer Marginalisierung.

Während sich die vier Gruppierungen auf die Forderung der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR recht rasch einigen konnten, galt dies nicht für eine Position zur Deutschen Einheit und schon gar nicht für die Beurteilung von offiziellen Kontakten zur SED bzw. zu Oppositionsgruppen in der DDR. Nationalneutralisten auf der einen, Dialogpolitiker, allen voran Dirk Schneider, auf der anderen Seite, hatten es in der Anfangszeit der Grünen auch gerade deshalb leicht, sich mit ihren deutschlandpolitischen Forderungen zu profilieren, so zeigt die Autorin, weil dieses Feld von der Mehrzahl der Grünen zunächst vernachlässigt worden war (S. 118). Dies änderte sich erst mit dem Einzug in den Bundestag. Am Ende der ersten Legislaturperiode herrschte bei den Grünen nicht nur weitgehender Konsens, dass eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR notwendig sei. Auch die Perspektive einer Deutschen Einheit spielte keine Rolle mehr: Die Grünen waren in den 1980er-Jahren die einzige Bundestagspartei, welche die deutsche Teilung anerkannte.

Die Parteiarbeit in der zweiten Bonner Legislaturperiode wurde von der Auseinandersetzung zwischen „Realpolitikern“ und „Fundamentalisten“ beherrscht. Zugleich dünnte die DDR-Führung die staatsoffiziellen Kontakte zu den Grünen, die einige Jahre zuvor noch recht rege gewesen waren, zunehmend aus. Nach dem Stationierungsbeschluss des Bundestages im Herbst 1983, so Wick, waren die Grünen in „der Wahrnehmung der SED […] von einer Hoffnung auf einen inneren Umsturz in der Bundesrepublik zu einer kleinen, nicht besonders einflussreichen und zudem mitunter recht störenden Oppositionspartei“ geschrumpft (S. 232).1

Vor diesem Hintergrund, vor allem jedoch angesichts der noch einmal zunehmenden Repressionen der DDR-Führung gegenüber der eigenen Bevölkerung, stieg abermals die grüne Solidarisierungsbereitschaft gegenüber der DDR-Opposition. Kontakte, die vor allem die Basis- und Symbolfraktion stets sorgsam gepflegt hatten, wurden nun erneut intensiviert. Als sich die Ereignisse ab Sommer 1989 schließlich überschlugen, sahen sich auch die Grünen gezwungen „Fragen zu beantworten, deren Auftauchen sie bis dato für nahezu unmöglich gehalten hatten“ (S. 218). Getrieben von den historischen Ereignissen ließ zunächst die Vermittlerfraktion, die inzwischen den Ton angab, ihre Zweistaatlichkeitsforderung fallen, worin ihr die Mehrheit der Partei folgte. Andere, vor allem vom linken Flügel, verließen die Grünen, wenn auch nicht allein aufgrund deutschlandpolitischer Differenzen.

Regina Wick ist mit ihrer Studie zur Deutschlandpolitik der Grünen im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens eine überzeugende Untersuchung gelungen. Diese ruht auf einem breiten und vielfältigen Quellenkorpus, mit dem die Autorin über weite Strecken sehr reflektiert umgeht und auf dessen Basis sie zu differenzierten Ergebnissen gelangt. Allenfalls gegenüber den ebenfalls einbezogenen Quellen der DDR-Staatssicherheit schiene an einigen Stellen noch mehr quellenkritische Skepsis angebracht, etwa wenn die Reaktion auf einen parteiinternen Vorschlag oder die Verschiebung einzelner grüner deutschlandpolitischer Diskussionen mitunter allein an MfS-Berichten festgemacht werden (S. 130). In manchen Fällen überzeichnet Wick zudem einzelne Interpretationen. Das gilt zum Beispiel für ihre Vermutung, dass es der SED möglicherweise gelungen wäre, „die Öko-Pax-Partei in eine zweite DKP umzuwandeln“ (S. 297), wenn die Dialogfraktion innerhalb der Grünen nicht so viel Widerspruch erfahren hätte. Dazu hätte es vermutlich sehr viel mehr bedurft als nur einer gewissen Nähe auf dem Feld der Deutschlandpolitik. Denn die Mehrheit der aus den maoistischen K-Gruppen stammenden Gründungsgrünen, die sich nun häufig in der deutschlandpolitischen Dialogfraktion wiederfanden, hatte schon zu ihrer Zeit als Kader ein gelinde gesagt distanziertes Verhältnis zur DKP gehabt.

Anmerkung:
1 U.a. die Politik der SED gegenüber den Grünen hat Udo Baron in seiner Dissertation herausgearbeitet: Udo Baron, Kalter Krieg und heißer Frieden. Der Einfluss der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei „Die Grünen“, Münster 2003.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension