S. Mohamed-Gaillard u.a.: Georges Pompidou et l’Allemagne

Cover
Titel
Georges Pompidou et l’Allemagne.


Autor(en)
Mohamed-Gaillard, Sarah; Schirmann, Sylvain
Erschienen
Anzahl Seiten
410 S.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reiner Marcowitz, U.F.R. Lettres & Langues, Université de Lorraine

Dem Bonmot eines Dolmetschers der Gespräche zwischen Willy Brandt und Georges Pompidou zufolge, habe er noch nie so viel Schweigen übersetzen müssen wie bei den Treffen des Bundeskanzlers mit dem französischen Staatspräsidenten. Diese gerne kolportierte Behauptung kann nun erstmals nicht mehr nur anhand der einschlägigen Bände der „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“, sondern auch mit Hilfe einer sorgfältig redigierten und umfangreichen Edition französischer Quellen aus dem Bestand Georges Pompidous im Pariser Nationalarchiv aus erster Hand überprüft – und, so zeigt sich bei genauerer Lektüre, deutlich relativiert werden. Der historische Zufall wollte, dass Brandt und Pompidou fast zeitgleich ins Amt kamen – dieser im Frühjahr 1969, jener im Herbst dieses Jahres – und es auch fast zeitgleich wieder verließen – beide im Frühjahr 1974: Pompidou krankheitsbedingt, Brandt im Zuge einer Spionageaffäre. Der zwar in den letzten Jahren von der Forschung durchaus schon neu entdeckte, gleichwohl tendenziell immer noch geringer geschätzte Zeitraum ihres gemeinsamen Wirkens erwies sich tatsächlich als eine äußerst bewegte Phase der deutsch-französischen Beziehungen, wie auch die vorliegende Edition aufgrund ihrer erfreulich breiten Anlage belegt, die von Europa- und Entspannungspolitik über Jugend- und Kulturpolitik bis hin zu Industrie- sowie Wirtschafts- und Währungspolitik alle relevanten Bereiche abdeckt.

Wie schon die vorangegangene Große Koalition der Jahre 1966–1969, in der Willy Brandt bereits Außenminister gewesen war, bemühte sich auch die neue sozialliberale Koalition weiter, die deutsch-französischen Blockaden zu überwinden, die sich seit der Debatte über die Ratifizierung des Deutsch-Französischen Vertrages 1963 ergeben hatten: bedingt durch die auf deutscher Seite überspitzte Konstruktion einer vermeintlichen Wahl zwischen Paris und Washington sowie auf französischer Seite durch de Gaulles immer provokativere Amerika-Kritik und sein zunehmend stärkeres Drängen gegenüber der Bundesregierung. Erleichtert wurde die Wiederannäherung Ende der 1960er-Jahre durch das gewachsene westdeutsche Selbstvertrauen – auch gegenüber den USA – und neue entspannungspolitische Perspektiven. Ersteres entzog dem Grundsatzstreit, den der General in der Bundesrepublik über die außenpolitische Grundausrichtung Westeuropas entfacht hatte, den Boden. Die Intensivierung der Ostpolitik wiederum entsprach zudem einer alten Forderung de Gaulles.

Die „Neue Ostpolitik“ der sozialliberalen Koalition gab dieser Entwicklung zusätzliche Dynamik. Für die Beziehungen zu Frankreich war ihr Erfolg indes ambivalent: Einerseits entsprach die neue ostpolitische Flexibilität der BRD dem konstanten Drängen de Gaulles gegenüber den wechselnden Bundesregierungen der 1960er-Jahre und seiner eigenen Politik der détente, entente, coopération gegenüber der Sowjetunion und ihren Verbündeten, weil er sich von einer solchen Entspannung ein Aufbrechen der alten Blockkonfrontation und damit eine Chance auf Verwirklichung seines Projekts eines Europas vom Atlantik bis zum Ural erhoffte, das unter französischer Führung eine gleichberechtigte Rolle neben den beiden Supermächten spielen sollte. Entsprechend anerkannte auch Pompidou, dass die „Neue Ostpolitik“ eine wertvolle Unterstützung für das gaullistische Europa-Projekt sei, zumal er sich diesem als neuer französischer Staatspräsident weiterhin verbunden fühlte. Gleichzeitig aber befürchtete er den etwaigen Beginn einer internationalen Überlegenheit der Bundesrepublik Deutschland, ja deren Abdriften nach Osten. Hier äußerten sich die altbekannten „Rapallo“-Ängste, also die Sorge vor einem deutschen Sonderverhältnis mit der Sowjetunion, zumal die westdeutsche Seite ihnen durchaus Nahrung gab, so insbesondere nach Brandts überraschendem Besuch bei Leonid Breschnew im September 1971 auf der Krim. Dass Brandt und Pompidou aufgrund ihrer unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen kein engeres persönliches Verhältnis fanden und sich mit der wachsenden internationalen Anerkennung des Bundeskanzlers, kulminierend in dessen Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis 1971, beim französischen Staatspräsidenten eine Mischung aus verletzter Eitelkeit und Misstrauen einstellte, zog wirklich vertrauensvollen Beziehungen ebenfalls Grenzen.

Am Ende aber war es gerade dieser Ambivalenz der französischen Wahrnehmung des neuen außenpolitischen Handlungsspielraums der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung mit der westdeutschen Überzeugung von der andauernden Bedeutung der Westbindung geschuldet, dass die neue Dynamik der Ost-West-Beziehungen geradezu zum Katalysator einer weiteren Vertiefung der deutsch-französischen Beziehungen wurde: Erstens hatten sich die bisher doch eher unterschiedlichen deutschland- und ostpolitischen Grundannahmen nun stark angenähert; zweitens ergaben sich auf dem jetzt von beiden Seiten beackerten Feld der Deutschland- und Ostpolitik neue Möglichkeiten, aber auch Notwendigkeiten in punkto Abstimmung und Zusammenarbeit. Schließlich war Brandt ein überzeugter „Europäer“ und wusste zudem um die Bedeutung der Westintegration zur notwendigen Absicherung seiner „Neuen Ostpolitik“; Pompidou wiederum blieb, wie schon sein illustrer Vorgänger, an einer starken Einbindung, die ja immer auch Kontrolle bedeutete, der Bundesrepublik im Westen interessiert. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, wie eindeutig Pompidou sich gegenüber prominenten Gesprächspartnern aus der oppositionellen CDU, wie dem damaligen Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Rainer Barzel, oder dem aufstrebenden "Landesfürsten" Helmut Kohl, für eine Ratifizierung der Ostverträge einsetzte. Eindringlich warnte er sie vor den verhängnisvollen internationalen Folgen eines Scheiterns der „Neuen Ostpolitik“: Einen schnell fahrenden Zug, so belehrte er beispielsweise Barzel bei ihrem Gespräch am 22. März 1972, könne man, so man es denn tatsächlich für notwendig erachte, versuchen abzubremsen, stelle man ihm hingegen ein Hindernis entgegen, entgleiste er, mit verhängnisvollen Folgen für alle Beteiligten. Damit leistete Pompidou der „Neuen Ostpolitik“ und auch Brandt persönlich in einer für den Bundeskanzler sehr kritischen innenpolitischen Phase zweifellos einen wertvollen Dienst.

Überdies erlaubte der neue internationale Kontext sowie die neu auszutarierende deutsch-französische Machtbalance, auch das das Verhältnis der beiden Länder seit Anfang der 1960er-Jahre belastende Problem des britischen EWG-Beitritts zu beseitigen: Angesichts der internationalen Aufwertung der Westdeutschlands im Gefolge der „Neuen Ostpolitik“ sah Pompidou in einer Aufnahme Großbritanniens eine Möglichkeit, das gewachsene politische Gewicht der Bundesrepublik auszugleichen. Schließlich einigten sich die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich unter der Ägide Brandts und Pompidous ebenfalls auf den gemeinsamen Bau des Airbus und ein Abkommen über die Einrichtung deutsch-französischer Gymnasien und eines gemeinsamen Abiturs. Obwohl die deutsch-französische Kooperation endgültig erst in den Jahren 1974 bis 1981, der gemeinsamen Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Schmidt und Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing, wieder spektakulär Fahrt aufnahm und jene uns heute so geläufige Überhöhung als deutsch-französisches Paar oder Tandem bzw. europapolitischer Motor erfuhr, so ist es das Verdienst der vorliegenden Edition, nicht nur eine zumindest auf französischer Seite noch bestehende archivalische Überlieferungslücke für die deutsch-französischen Beziehungen der Jahre 1969 bis 1974 geschlossen zu haben, sondern diesen Zeitraum, der zu Unrecht eine eher gering geschätzte Epoche der Beziehungen zwischen beiden Ländern bildet, auch ein Stück weit rehabilitiert zu haben.

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