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Titel
Ulbrichts Soldaten. Die Nationale Volksarmee 1956 bis 1971


Autor(en)
Wenzke, Rüdiger
Erschienen
Anzahl Seiten
799 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Uhl, Deutsches Historisches Institut Moskau

Im Jahr 1982 beschwerte sich der langjährige Chef der Nationalen Volksarmee (NVA) und DDR-Verteidigungsminister Armeegeneral Heinz Hoffmann in einem internen Interview zur Geschichte der NVA heftig über Walter Ulbricht und dessen Rolle bei der Führung der ostdeutschen Streitkräfte. Immer wieder hätte der SED-Chef ihm gegenüber deutlich gemacht, wer das letzte Wort in militärischen Angelegenheiten hatte und das er seinen Minister – trotz dessen erfolgreicher bewaffneter Parteikarriere – niemals als Partner, sondern immer nur als Untergebenen betrachtete. An Hoffmanns Fähigkeiten habe Ulbricht mitunter laut gezweifelt: „Du hast doch keine Ahnung vom Militärwesen! […] Du machst sowieso nur das, was die Freunde“ – das heißt die Sowjets – „dir sagen“. (S. 418) Wie dieses Beispiel zeigt, hat der Militärhistoriker Rüdiger Wenzke sein neues Werk deshalb nicht umsonst „Ulbrichts Soldaten“ genannt.

Die Ulbricht-Ära stand für die Durchsetzung der Parteiherrschaft der SED auf allen staatlichen und gesellschaftlichen Ebenen. Dabei bildete die NVA keine Ausnahme, denn alle wichtigen militärpolitischen und militärischen Grundsatzfragen wurden, wenn nicht schon von Moskau vorgegeben, im Politbüro entschieden. Die letzte Entscheidungsgewalt lag dabei beim Ersten Sekretär selbst, wobei der seine Verfügungen auch ohne Konsultationen mit dem Politbüro und anderen Gremien treffen konnte. Zudem besaß Ulbricht seit 1960 als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrats einen direkten Zugriff auf den militärischen Machtapparat der DDR, von dem er in den Krisensituationen von 1961, 1962 und 1968 rigoros Gebrauch machte.

Zwar war Ulbricht formell der oberste Befehlshaber der NVA. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass im Ernstfall allein die sowjetische Seite über den Einsatz der ostdeutschen Truppen entschied. Gleichwohl drängte der SED-Chef ausdrücklich darauf, Anweisungen der Sowjets „vor ihrer Verwirklichung“ vorgelegt zu bekommen. Zudem war der Erste Sekretär – auch gegen den Widerstand der Sowjetunion – bestrebt, die Integration in den Warschauer Pakt zu erhöhen und er versuchte, nicht selten mit Erfolg, die ständigen Forderungen des sowjetischen Generalstabes nach der Erhöhung der Kampfkraft und der Stärke der NVA mit minimalem Aufwand für die DDR zu verwirklichen und die Sowjetunion finanziell stärker an der Modernisierung der ostdeutschen Streitkräfte zu beteiligen. Mit dieser eigenständigen Politik machte sich Ulbricht in Moskau keine Freunde, so dass gerade die sowjetischen Militärs seit Ende der 1960er-Jahre auf seine Ablösung drängten, die dann im Mai 1971 – freilich nicht allein aus militärpolitischen Gründen – erfolgte. Seinem Nachfolger Erich Honecker hinterließ er unter anderem eine moderne und schlagkräftig ausgerüstete Armee, die den ostdeutschen Staat nicht nur nach außen, sondern im Notfall auch gegen „innere Feinde“ verteidigen sollte.

Dieser Aufbau- und Konsolidierungsphase der NVA ist das, um es an dieser Stelle vorwegzunehmen, glänzende Buch von Wenzke gewidmet. In zwei großen Kapiteln widmet der Autor sich auf knapp 800 Seiten der Geschichte der ostdeutschen Streitkräfte in der Ära Ulbricht. Nach einer kurzen Einleitung beschreibt er zunächst den schwierigen Übergang von der nationalen Polizeitruppe, der Kasernierten Volkspolizei, zur Nationalen Volksarmee. Das zweite Kapitel setzt mit der Konsolidierung der NVA nach dem Mauerbau durch die allgemeine Wehrpflicht ein, die im Jahre 1962 eingeführt wurde. Durch die Wehrpflicht wurde unter anderem die Grundlage dafür gelegt, die ostdeutschen Streitkräfte in das Militärbündnis des Warschauer Paktes zu integrieren. Zur Umsetzung der sowjetischen Militärdoktrin, die nun auch in der NVA galt, war es zudem erforderlich, die ostdeutschen Streitkräfte mit Einsatzmitteln für Kernsprengköpfe auszustatten. Ebenfalls ab 1962 erfolgte dann tatsächlich die Ausstattung mit Kernwaffenträgern.

Gleichzeitig begann die Zufuhr moderner Waffen wie des Jagdflugzeugs MiG-21, des Kampfpanzers T-55 sowie von Raketenschnellbooten. Zudem wurden die vorhandenen Truppenstrukturen ständig ausgebaut; allein zwischen 1966 und 1970 erhöhte sich der Personalbestand der NVA um mehr als 20 Prozent. Mit einer Stärke von 140.000 Mann war die NVA damit faktisch bereit für einen Krieg, denn ihre Verbände konnten jetzt sofort aus den Kasernen heraus zu Kampfhandlungen übergehen. Ende 1970 galt der Kriegsbedarf der NVA an Munition, Treibstoffen, Verpflegung, Bekleidung und Ausrüstung für etwa einen Monat gesichert, was zeigt, dass eine bewaffnete Auseinandersetzung mit dem westlichen Gegner – und hier in erster Linie mit der Bundeswehr – nicht nur theoretisch angenommen wurde. Insgesamt waren Ulbricht und die SED Führung Anfang der 1970er Jahre mit dem Aufbau der ostdeutschen Streitkräfte „hochzufrieden“.

Rüdiger Wenzke hat jedoch mehr als eine reine Militärgeschichte der NVA in der Ära Ulbricht geschrieben. Ein besonderes Anliegen war es ihm, zu zeigen, dass die ostdeutschen Truppen ein Spiegelbild der DDR-Gesellschaft darstellten. Die Nationale Volksarmee war folglich kein Monolith, der aus „rotlichtbestrahlten“ roboterhaften Parteisoldaten bestand. Zwar versuchte die SED-Führung zumindest das Offizierskorps auf Linie zu trimmen, doch bereits die Masse der Unteroffiziere und einfachen Soldaten blieb auch während ihrer Armeezeit in innerer Distanz zum SED-Regime und standen der allgegenwärtigen Propagierung des Feindbilds Bundeswehr durchaus kritisch gegenüber. Noch 1966 erklärte sich nach Untersuchungen der Politischen Hauptverwaltung der NVA nur knapp die Hälfte der Mannschaften bereit, im Ernstfall auf die Soldaten der anderen deutschen Armee zu schießen.

Zudem erwies sich die in den Streitkräften postulierte „sozialistische Menschenführung“, die auf „kameradschaftliche und verständnisvolle Hilfe“ der Vorgesetzten setzte, als Fiktion. Denn Schikanen und eine gewollte Entindividualisierung begleiteten die Soldaten von der Einberufung bis zur Entlassung. Zwar distanzierte sich die NVA ganz bewusst von der Wehrmacht. Doch deren „Kommissmethoden“ – unmotivierte Stuben- und Anzugsappelle, übertriebene und entwürdigende Putzarbeiten aller Art, brutale physische Ausbildung – waren in der ostdeutschen Armee überall an der Tagesordnung. Gerade die Rekruten sahen sich diesen – nur in Ausnahmefällen disziplinarisch verfolgten – Übergriffen weitgehend hilflos ausgesetzt. Denn ein funktionierendes Beschwerdesystem unabhängig vom so genannten Dienstweg, also über die für die Missstände direkt verantwortlichen Vorgesetzten, existierte nicht.

Zur schwierigen Lage der neueinberufenen Soldaten trug auch die ab den 1960er Jahren einsetzende „EK-Bewegung“ bei. Dabei trachteten die im letzten Diensthalbjahr stehenden Soldaten (EK = Entlassungskandidat) danach, die verbliebene Armeezeit möglichst schnell und vor allem bequem hinter sich zu bringen. Dies konnte aber nur geschehen, wenn deren Aufgaben durch die noch nicht vor ihrer Entlassung stehenden Soldaten übernommen wurden. Wer sich in den Einheiten diesem System nicht bedingungslos unterordnete, unterlag ausgeprägten Mobbingmethoden, die sich bis zu physischen Übergriffen und Quälereien ausweiten konnten.

Die Ursachen die die „EK-Bewegung“ lagen vor allem in der Forderung nach ständiger Gefechtsbereitschaft und der ständigen Anwesenheit fast des gesamten Personalbestandes auf engstem Raum. Auf diese reagierten die Betroffenen mit Frust, Aggression und übermäßigem Alkoholkonsum. Zudem existierte nach Dienstschluss ein Machtvakuum, da sich die Soldaten und Unteroffiziere selbst überlassen waren: Nachdem die Offiziere nach Hause gegangen waren, übernahmen die EK das Kommando in den Einheiten und konnten, gestützt auf die informellen Hierarchiestufen der Mannschaften, die Rekruten ausbeuten.

Das EK-System war vor allem Ausdruck einer fehlenden Wehrmotivation sowie der Sinnlosigkeit des Dienstes. Dennoch hielt dieses System, gleichwohl es auch im Eigenverständnis in Opposition zur Armee stand, die NVA faktisch am Laufen, da es den Soldatenalltag in wesentlichen Punkten informell regelte. Gerade aus diesem Grund ging die Streitkräfteführung zunächst nur zögerlich gegen diese Übergriffe vor. Als SED-Chef Ulbricht zum Rücktritt gezwungen wurde, war die EK-Bewegung längst zu einer nicht mehr zu kontrollierenden Massenbewegung geworden, der sich kaum ein Soldat entziehen konnte, und die den Dienstalltag der Wehrpflichtigen mehr beeinflusste als jeder Parteiunterricht.

Wenzke widmet sich in seinem Buch jedoch nicht nur dem Dienst- und Alltagsleben der Soldaten. Er untersucht unter anderem auch das gespannte Verhältnis zwischen Armee und Kirche, das Frauen- und Männlichkeitsbild der Truppe und die Entwicklung des Repressionsapparats in der NVA. Gleichzeitig widmet er der Rolle der NVA im zeitgenössischen Kunstschaffen der DDR breiten Raum und zeigt zudem, wie SED und NVA versuchten, den Sport in den Dienst der Landesverteidigung zu stellen.

Rüdiger Wenzke hat mit seiner Arbeit zur NVA unter Ulbricht erneut ein innovatives und hervorragendes Standardwerk vorgelegt.1 Wer sich mit den ostdeutschen Streitkräften im Kalten Krieg und vor allen mit deren Innenleben beschäftigt, wird an diesem Buch nicht vorbeikommen. Auch für alle anderen Historiker ist „Ulbrichts Soldaten“ nur zu empfehlen.

Anmerkung:
1 Torsten Dietrich / Rüdiger Wenzke, Die getarnte Armee. Geschichte der kasernierten Volkspolizei der DDR 1952–1956, Berlin 2001; Rüdiger Wenzke (Hrsg.), Staatsfeinde in Uniform? Widerständiges Verhalten und politische Verfolgung in der NVA, Berlin 2005.

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