A. Hungerbühler: Zur Kultur des Bergführerberufs

Cover
Titel
„Könige der Alpen“. Zur Kultur des Bergführerberufs


Autor(en)
Hungerbühler, Andrea
Reihe
Materialitäten 19
Anzahl Seiten
446 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Daniel Dietschi, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Die Person des Bergführers verkörpert wohl aufs Prägnanteste die Metapher der Führung. In der Ausübung einer hochalpinen beruflichen Tätigkeit verweist jene (als Residual) auf vor- und hoch-moderne Tage, in denen Führung noch ein legitimiertes Prinzip der adäquaten Situationsbewältigung sowie einer sinnvollen Horizontsetzung darstellte. Vorausgesetzte Expertise stand in direktem Zusammenhang mit einer erwarteten Einschätzung der Lage und der Anleitung von Handlungen. Einer explizit asymmetrischen Beziehung war die einseitig zugewiesene Verantwortung eingeschrieben. Den Führungsmetaphern werden heute denn auch leicht „gerontokratische und latent antidemokratische Tendenzen“ attestiert.1

Aktuell ist der Begriff der Führung vor allem noch im Wirtschaftsleben gängig. Ohne gleich Konsequenzen fürchten zu müssen, können Führungspersonen implizite Verantwortungsdimensionen mitunter vernachlässigen oder übergehen. Diese Missachtung steht möglicherweise in einem ursächlichen Zusammenhang mit der verblassten Bedeutung von Führungsmetaphern im sozialen Leben. Eine gelingende Koppelung von (Selbst-)Führung und Verantwortung erweist sich im bisweilen hochriskanten alpinen Berufs- und Freizeitraum hingegen auch heute noch als existenziell bedeutsam. Andrea Hungerbühlers kultursoziologische Abhandlung lässt sich mit einer imaginären Klammer zweier Metaphern fassen: ‚Führung‘ und ‚Natur‘ – beide werden darin explizit zwar nicht analysiert, als durchscheinende orthogonale Struktur sind sie für die Studie aber gleichwohl bedeutsam.

Hungerbühler leistet in ihrer weitgespannten historischen, systematischen und empirischen Untersuchung eine gewissermaßen spätmoderne Annäherung an die „Könige der Alpen“. Mit den theoretischen Werkzeugen der Berufs- und Professionssoziologie, der gender-studies und der Männlichkeitsforschung greift sie die Geschichte und die Praxen dieses Berufstandes auf. Dabei sind die beiden Dimensionen der „symbolischen Repräsentation“ und der „Identitätskonstruktion“ innerhalb des Berufs(-bildes) interesseleitend und mit Hilfe eines kategorialen Untersuchungsrasters, bestehend aus „Nation“, „Beruf“ und „Geschlecht“ (S. 17), arbeitet Hungerbühler die Transformation des Bergführerberufs heraus. Dem von ihr in Anlehnung an Lyotard als „Große Erzählung“ bezeichneten gängigen Narrativ der touristischen und wissenschaftlichen Alpenerschließung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert2 stellt sie eine eigene ‚sozialkonstruktivistische Erzählung‘ entgegen. Die allmähliche, im ersten Narrativ als kontingente Begleiterscheinung auftretende Herausbildung des Bergführerberufs wird darin als fortschreitendes Mythologisierungsprodukt einer sich zunehmend zur Alpennation stilisierenden Schweiz dargestellt.

Diese nationale Fokussierung verleiht der Studie eine gewisse Prägnanz. Im Interesse einer nationalen schweizerischen Identität wurden die Alpen in historisch unterschiedlichen Phasen des staatlichen Einigungs- und Selbstvergewisserungsprozesses als Gründungs-, Bewahrungs- und Inszenierungsmotiv instrumentalisiert. Die alpine Kulisse fungierte dabei als identitätskonstitutiver Projektionsraum für politische, kulturelle und kulturkritische Anliegen sowohl der Behörden wie auch bildungsbürgerlicher Kreise. Insbesondere in den Jahren der Nationalstaatsgründung um 1848 sowie der „Geistigen Landesverteidigung“ der 1930er- (und bis in die 1960er-) Jahre versprach der Rückgriff auf den Mythos Alpen (bzw. dessen Stärkung) eine erhebliche nationale Bindungskraft. Kulminationspunkt und personifizierte Heroengestalt bildete dabei die Figur des (männlichen) Bergführers in einer zur Weiblichkeit (um)gedeuteten Alpennatur.

Die vorgenommene Engführung von gesellschaftlich und individuell identitätsstiftenden Kategorien auf den ‚Sonderfall‘ der Berg​nation Schweiz mag durch die alpin geprägte Kleinräumigkeit und die dezidiert politische Bezugnahme darauf legitim sein. Allerdings stellt sich dann die Frage, weshalb in den an die Schweiz angrenzenden Ländern des Alpenraumes der Beruf des Bergführers ebenfalls maskulin dominiert und heroisch stilisiert worden ist. Die von Hungerbühler skizzierten Entstehungsgeschichten der entsprechenden (nicht-schweizerischen) nationalen Alpen-Vereine belegen ähnliche Codierungsmuster genauso wie beispielsweise die politisch instrumentalisierten Charakterzuschreibungen im Dienste nationaler bzw. rassischer Auszeichnung durch die nationalsozialistische Propaganda. Ein nationales Alleinstellungsmerkmal für die Schweiz ist in dieser Deutlichkeit also kaum gegeben. Die Betrachtung größerer Zusammenhänge hätte sowohl die nationalstaatliche wie auch die geschlechtersegregative Perspektive auf ideologische Zeitströmungen hin befragen und erweitern können. Hinweise darauf liefern die in der Studie aufgeführten kolonialistisch-imperialen Rhetoriken und Metaphoriken im Zuge der Erstbesteigungen von Gipfeln und Wänden im 19. und 20. Jahrhundert. Diese international betriebene Rekordjagd bediente sich fast ausnahmslos chauvinistischer Begründungsmuster und -figuren und wurde befeuert durch die umlaufenden Groß-Ideologien der Zeit.

Ihren künstlerisch-dokumentarischen Niederschlag fanden die Konzepte der (männlichen) Eroberung einer weiblich konnotierten Natur in fiktionalen und (auto-)biografischen literarischen und filmischen Erzeugnissen des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts. In dem Textgenre stechen die Auseinandersetzungen mit der wuchtigen und latent bedrohlichen Schönheit der Alpennatur – ihrer „widersprüchlichen Faszination“ (S. 137) – hervor sowie die idealisierenden, heroisierenden und charismatischen Typisierungen des Bergführers. Mit der Anwendung des von Max Weber ausdifferenzierten Charismabegriffs gelingt Hungerbühler eine Analyse vom Bild des Bergführers vor allem der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hier wäre es allerdings lohnenswert gewesen, eine noch schärfere Differenzierung zwischen einem charismatischen Führungsbegriff und dem idealtypischen Rollenmodell des Bergführers herauszuarbeiten. Webers Definitionen weisen synkretistische Züge auf und vernachlässigen bestehende Vorbildtypologien der Zeit.3

Anhand von zwei unterschiedlichen, jeweils zeittypischen Fallbeispielen arbeitet Hungerbühler Themengefäße heraus, mit denen sie das Profil und Selbstverständnis heutiger Bergführerinnen und -führer als Berufsleute auf entsprechende Resonanzen untersucht. Dazu gehören Fragen nach biografisch-sozialisatorischen Heranführungen an den Bergsteiger- und Klettersport; Übergangsmotiven vom (leidenschaftlichen) Hobby zum Beruf; (professionellem) Verhältnis zum Kunden; und schließlich nach existenziellen Erfahrungsmomenten am Berg hinsichtlich natur- und berufsbedingter Gefahren und quasi-mystischer Faszination am Berg. Auffallend bei den Aussagen der 22 befragten ProbandInnen ist (trotz aller zeitläuftiger Veränderung) das relativ stabile Rollenverständnis heutiger Berufsleute im Vergleich mit demjenigen älterer Kollegen. Die Überzeugung einer (auch charismatischen) Vorbildfunktion scheint nach wie vor verbreitet. Freiheitsideal, Zuverlässigkeit und Krisenfestigkeit sind nicht bloße Fremdzuschreibungen. Obgleich der Brennpunkt nationaler Tugendhaftigkeit etwas weniger aufscheint, bleibt die Charismatisierung bestehen. Einen gewichtigen Anteil daran dürfte dem gesteigerten Bedürfnis des spätmodernen Individuums nach unvermittelter und authentischer Naturbegegnung zukommen, das in der Person des Bergführers inkarniert und garantiert zugleich erscheint.

Zum Schluss führt Hungerbühler ihre Untersuchung auf die (theoretische) Klimax der Geschlechterkonstruktion. Wie gestaltet sich die Spannung von Alpinismus als einer „maskulin codierte[n] soziale[n] Praxis“ (S. 313) und „Feminität“ im Bergführerberuf? Die offiziellen Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Ende 2012 verzeichnete der Schweizer Bergführerverband bei seinen Mitgliedern einen Frauenanteil von 1,8 Prozent (vgl. S. 15). Aufgrund der maskulin dominierten Bergsportvereine machen interessierte Frauen sozialisatorische und verbandstypische Exklusionserfahrungen meist schon in jungen Jahren. Das nach wie vor männlich ‚imprägnierte‘ Verständnis vom Leben am Berg verfestigt sich in einem entsprechenden Habitus des draufgängerischen, kompetitiven und kameradschaftlichen Bergbezwingers. Die interviewten Bergführerinnen geben denn auch Behauptungs- und Bewährungsstrategien an, um in diesem „hegemonial maskulinen“ und „homosozialen Raum“ (S. 316) zu bestehen, ja überhaupt Zugang zu finden. Als Prämisse der durchgeführten Untersuchungsweise fungiert die sozial-konstruktivistische Differenz von sex und gender. Falls ein (natürliches) vorsoziales Geschlecht (sex) besteht, wird es im (berg-)sozialisierenden Umgang zum berufs(un)typischen Geschlecht (gender) zugerüstet. Selbst wenn man die Unterscheidung sex/gender dekonstruiert und die Unmöglichkeit eines vor-sozialkulturellen und vor-diskursiven natürlichen Zustandes postuliert – ein Verfahren, das Judith Butler vorgeschlagen hat4 –, bleibt dennoch die Frage nach einem natürlichen Rest. „Natur ist der Modus einer Struktur und kein Inhalt. Sie bezeichnet das notwendige Scheitern der Sinngebung.“5

Die Befreiung von geschlechts(stereo)typischen Zuschreibungen ist ein historisch noch zu leistender Vorgang, gewiss. Die Studie von Andrea Hungerbühler weist diese Notwendigkeit zumindest anhand des Bergführerberufs nach. Sinnierend über die Motive seines Bergebesteigens gibt Ull, ein Protagonist aus Ludwig Hohls „Bergfahrt“, sich selbst eine tiefgründige Antwort: „Dies war es: Um dem Gefängnis zu entrinnen… Und nun?“6

Anmerkungen:
1 Johannes Bilstein, Implizite Anthropologeme in pädagogischer Metaphorik, in: Winfried Marotzki / Lothar Wigger (Hrsg.), Erziehungsdiskurse, Bad Heilbrunn 2008, S. 51–73 (hier S. 68).
2 Zur Bedeutung und Transformation der (gebirgigen und maritimen) Natur in Zusammenhang mit dem ideengeschichtlichen Denken der Neuzeit siehe Jürgen Goldstein, Die Entdeckung der Natur. Etappen einer Erfahrungsgeschichte. Naturkunden No. 3, herausgegeben von Judith Schalanksy, Berlin 2013.
3 Max Schelers Untersuchungen zur Vorbildthematik und die von ihm geleisteten Typologisierungen zeichnen ein insgesamt noch differenzierteres Bild. Insbesondere unterscheidet er dabei Vorbild- von Führungsfunktionen und weist dem Charisma eine je spezifische Bindung an einzelne Typen zu. Vgl. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Gesammelte Werke, Bd. 2, 5. durchgesehene Auflage, Bern 1966 (1. Auflage 1916); ders., Vorbild und Führer, in: Schriften aus dem Nachlass, Bd. 1: Gesammelte Werke, Bd. 10, Bern 1957, S. 257–344.
4 Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991.
5 Edgar J. Forster, Das Unverfügbare, in: Eckart Liebau / Helga Peskoller / Christoph Wulf (Hrsg.), Natur. Pädagogisch-anthropologische Perspektiven, Weinheim 2003, S. 13–21 (hier S. 16).
6 Ludwig Hohl, Bergfahrt, Frankfurt am Main 1991 (hier S. 88).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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