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Titel
Text-Ränder. Die kulturelle Vielfalt Ostmitteleuropas als Darstellungsproblem deutscher Literatur


Autor(en)
Joachimsthaler, Jürgen
Erschienen
Anzahl Seiten
3 Bände, Bd. 1: X, 483 S., Bd. 2: VIII, 461 S., Bd. 3: 476 S.
Preis
€ 148,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffen Hoehne, Hochschule für Musik, Weimar

Es ist ein voluminöses Werk, das Jürgen Joachimsthaler mit den drei Bänden „Text-Ränder“ vorgelegt hat, in dem er der „kulturellen Vielfalt in Mitteleuropa als Darstellungsproblem deutscher Literatur“ – so der Untertitel – nachspürt. Als Text-Ränder werden die Grenzen „zwischen dem im Text entworfenen Bedeutungsgewebe und einem ‚Anderen‘“ (I/S. 61) definiert, womit das Problem der Konzeption und Darstellung einer in diesem Falle germanistischen Nationalliteratur für ein Territorium, „das nicht von Deutschen allein besiedelt war“ (I/S. 78) untersucht wird. Verortet wird so das Spannungsfeld zwischen multikulturellem Staat und einem Nationalismus, der „in der Regel jede Integration des ‚Anderen‘ in das ‚Eigene‘“ untersagte (I/S. 79). Joachimsthaler richtet seinen Fokus auf den „deutschen“ Osten. Er bewegt sich mithin im Spannungsfeld zwischen deutscher, sorbischer, litauischer und polnischer Literatur, folgt deren Interdependenzen. Hierbei wird ein Konzept der Vielfalt erkennbar, welches durch die jeweiligen nationalliterarischen Traditionen überschrieben wurde und – zumindest partiell – in Vergessenheit geriet. Literatur sollte, das lässt sich als Ergebnis der nationalen Diskurse im Europa des 19. Jahrhunderts festhalten, „als Medium nationaler Selbstverständigung“ dienen (I/S. 101).

Methodisch erweitert zu Text-Reihen, geht es Joachimsthaler weniger um das singuläre literarische Werk, als vielmehr um „einzeltextübergreifend vagierende Themen, Phrasen, Ideologeme, Narrative und Wahrnehmungsdispositive innerhalb bestimmter […] Kommunikationskreise“ (I/S. 107), die mit dem Konzept der Semiosphäre, nach Juri Lotman eine gegenseitige Bezugnahme von Sprachsystemen, analysiert werden: „Nationalliteratur versehen die Bewohner nationaler Semiosphären mit Vorstellungen über eine gemeinsame Geschichte, mit Mythen und Identifikationsangeboten, aber auch mit ethischen und ethnischen Selbstbildern […].“ (I/S. 110)

Das Ziel der Untersuchung liegt nun darin, Text-Reihen deutscher Literatur vor dem Hintergrund interkultureller Verflechtung und kultureller Vielfalt in Mitteleuropa im Zeitalter der Nationalliteraturen (zwischen dem 18. Jahrhundert und der Gegenwart) zu rekonstruieren (I/S. 125). Dabei geht es nicht nur um Bilder des ‚Anderen‘, sondern vor allem um deren „jeweilige Repräsentation, Aufnahme oder Nichtaufnahme in deutsche Texte“ (I/S. 125). Dieses Phänomen verfolgt Joachimsthaler bis zur zeitgenössischen Entstehung einer „völkerübergreifend ‚mitteleuropäisch‘ angelegten interkulturellen Literatur“ (I/S. 129), für die als Beispiele unter anderem die polnische Zeitschrift „Borussia“ und die nach 16 Ausgaben 2005 leider eingestellte „Kafka. Zeitschrift für Mitteleuropa“ genannt werden, die in deutscher, polnischer, tschechischer und ungarischer Sprache erschien.

Betrachtet man den formalen Aufbau, so bietet der erste Band („Schreib-Weisen“) Beispiele für Techniken und Darstellungsweisen, mit deren Hilfe literarische Texte kulturelle Vielfalt darstellen, einbinden oder ausschließen (I/S. 148). Da sich hierbei eine chronologische Vorgehensweise verbietet, geht es eher um einen Überblick der Kulturkontakte nach Osten, weshalb man Darstellungen zum deutschen Orden, zu den Pruzzen und zu den Sorben bei deutsch-, polnisch- und sorbischsprachigen Autoren findet. Zurückgegriffen wird dabei vor allem auf literarische Texte in den unterschiedlichen relevanten Sprachen (Deutsch, Litauisch, Polnisch, Sorbisch etc.), aus denen zum Teil ausführlich zitiert wird und die als Beleg für das narratologische Konzept der „Textränder“ dienen, mit denen Vorstellungen von Nationalliteratur unterlaufen werden.

Im zweiten Band – überschrieben mit „(Post-)Koloniale Textur“ – erfolgt eine Orientierung auf die „postkoloniale“ Dimension deutscher Literatur anhand ausgewählter Texte unter anderem von Kristijonas Donelaitis, Ernst Wiechert, Hermann Sudermann und Johannes Bobrowski. Damit erhält auch die von der Forschung bislang übersehene litauische Tradition innerhalb der deutschen Literaturgeschichte Raum. Ferner wird das „Polnische“ als „Rückseite der Ostmarkenliteratur“ (II/S. 147–262) untersucht, wobei Joachimsthaler den Bogen bis zu Autoren in der DDR und der Bundesrepublik sowie unter Berücksichtigung der polnischen Seite (Bolesław Prus) spannt. Ergänzt werden diese „postkolonialen“ Analysen um ein umfangreiches Kapitel zu den Volksschulbüchereien in Oberschlesien. Zentrales Thema des zweiten Bandes sind somit „die Anwesenheit des Ausgeschlossenen“ und damit verbunden die Frage, „wie der nationale Gegensatz Handlungsmuster hervorbringt, die wider Erwarten und entgegen der ursprünglichen Intention in Konzepte einer Interkulturalität münden können“ (I/S. 149). Der Osten fungiert dabei in der deutschen Literatur und Publizistik als das ‚Andere‘, als Projektionsfläche unterschiedlicher Wunschvorstellungen (II/S. 148), aber auch als Ort unliebsamer Begegnungen (II/S. 151). Gerade die Alterisierung dient als Mittel zur Aufrechterhaltung der ideologisch motivierten Ziele, die insbesondere in der Textsorte Ostmarkenliteratur thematisiert und konstruiert wurden (II/S. 263).

Im dritten Band („Dritte Räume“) geht es um die Entstehung „dritter Räume“, um „das Herauswachsen an kultureller Vielfalt interessierter antinationalistischer Konzepte aus nationalistischen Vorgaben und Traditionen“ (I/S. 150), wobei insbesondere Oberschlesien als ein solcher Raum verstanden wird. „‚Gemischte‘ Kontexte erhielten den Wert eines gegennationalen ‚dritten Raumes‘, der nicht nur ein ‚Dazwischen‘ bildete, sondern in Distanz zu allen nationalen Kommunikationsräumen und Semiosphären deren jeweilige Zahlencodes, Rhetoriken und Ideologien durch Hybridisierung zu relativieren erlaubte.“ (III/S. 99). Bei diesen „dritten Räumen“, und hier wechselt Joachimsthaler die Perspektive, indem er auch die „nicht-germanistische“ Literatur verstärkt berücksichtigt, erfolgen nicht nur thematische Bezugnahmen auf kulturell heterogene Räume und Traditionen, sondern gerade auch Abgrenzungen gegenüber nationalsprachlichen Implikationen. Nachgegangen wird vielfältigen Synkretismen, einem kalkulierten „Vermengen des aus nationalliterarischer Sicht nicht Zusammengehörigen“ (IIIS. 226), was sich beispielsweise in Benennungen wie „Bresław“ für Breslau/Wrocław zeigt. Autoren wie Stefan Chwin oder Olga Tokarczuk knüpfen dabei mit polyglotter Mehrsprachigkeit, mit intertextuellen und -kulturellen Verweisen durch den Gebrauch polnischer, deutscher, tschechischer, russischer und lateinischer Zitate oder der Verwendung elaborierter Mischsprachen an Aufklärer wie Johann Georg Hamann an. Zentrales Thema dieser Literatur ist die Erfahrung eines durch die totalitäre Politik im Zeitalter der Extreme herbeigeführten Verlustes an kultureller Vielfalt, an das diese Deprivationsliteratur, so ein Terminus von Hubert Orłowski, anknüpft (III/S. 226). Angesichts lange Zeit verdrängter und tabuisierter Traditionen ist somit seit 1989 ein verstärktes Bemühen um erinnerungskulturelle Aneignung in jenen Gebieten und Kulturen zu beobachten, deren Bevölkerungen vernichtet oder vertrieben wurden. Hier bedarf es eines „sich-Zurechtfinden[s] in fremden Semiosphären und Zeichenwelten“, das zu einem „offenen Regionalismus“ (III/S. 249) führen kann, der für ganz Europa zunehmend eine Herausforderung darstellt. „Die Regionen sind offen, die Staaten verkörpern die Zwänge“, so hatte es der Banater deutsche Autor Richard Wagner treffend formuliert.1

Als Ergebnis seiner umfangreichen Studie prognostiziert Jürgen Joachimsthaler eine literarische Entwicklungstendenz, die „in Richtung eines gleichberechtigten Anerkennens aller Kulturen mit dem Ergebnis […] multi- und interkultureller Zustände als postnationale Zukunft Europas“ verläuft (III/S. 204). Es zeichnet sich eine neue, gemeinsame regionale Geschichte jenseits ethnischer Zuordnungen ab, die durchaus von idealistischer Diktion geprägt ist. Mit seinem Dreibänder legt Joachimsthaler nicht nur Ansätze für die literarisch-publizistische Neudeutung eines utopisch-visionären postnationalen Mitteleuropas2 jenseits nationalkultureller Limitierungen vor (III/S. 254), sondern weist zugleich einen Weg in eine postnationale Philologie, die sich auch sprachlich aus dem Gefängnis der nationalen Begrenzung herauslöst, da sie gleichermaßen germanistische und slavistische Phänomene reflektiert. Will man eine Literaturgeschichte für Ostmitteleuropa oder für Südosteuropa schreiben, sollte dies auf diese Weise erfolgen.

Anmerkungen:
1 Richard Wagner, Gegen die Zerstörung der Vielfalt, in: ders., Mythendämmerung. Einwürfe eines Mitteleuropäers, Berlin 1993, S. 101.
2 Allerdings verwendet Joachimsthaler in leicht missverständlicher Weise ein axial nach Nordosten verschobenes „Mitteleuropa“, wodurch die mit der Habsburgermonarchie konnotierten Bedeutungskomplexe ausgeblendet werden.

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