K. Ditt: Zweite Industrialisierung und Konsum

Cover
Titel
Zweite Industrialisierung und Konsum. Energieversorgung, Haushaltstechnik und Massenkultur am Beispiel nordenglischer und westfälischer Städte 1880-1939


Autor(en)
Ditt, Karl
Reihe
Forschungen zur Regionalgeschichte 65
Erschienen
Paderborn 2011: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
957 S.
Preis
€ 72,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Nonn, Historisches Seminar, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Dieses Buch mag als ein Dinosaurier erscheinen. Und das nicht allein, weil Karl Ditt in seinem Vorwort andeutet, dass es vor der ‚kulturwissenschaftlichen Wende‘ in der Geschichtswissenschaft konzipiert wurde – in den frühen 1990er-Jahren. Auch mit einem Gewicht von mehr als anderthalb Kilogramm wirkt das Werk im Bücherschrank wie ein Brontosaurus. Nicht zu reden von seiner epischen Länge, die einen ohne weiteres glauben lässt, dass testlesende Kollegen zwar "permanent, letztlich aber nur mäßig erfolgreich, auf Kürzungen gedrängt" haben (S. XV). Schließlich die Fußnoten, die wie ein pleistozänischer Sumpf vom Boden der Seiten aufsteigen, und in denen der eigentliche Text manchmal unterzugehen droht. Anders als bei manchen Klassikern der "Historischen Sozialwissenschaft", bei denen Ditt in die Lehre ging, hat man bei ihm allerdings den Eindruck, dass er die im 150seitigen Literaturverzeichnis angegebenen Titel auch wirklich (fast) alle gelesen hat.

Wer eine international vergleichende Forschungsarbeit zumindest einmal projektiert hat, weiß die herkulische Energie zu würdigen, die zum Abschluss einer solchen Studie nötig ist. Das gilt in diesem Fall umso mehr, als Ditt wirtschafts-, sozial-, technik- und kulturhistorische Zugriffe miteinander verbunden, die nationalen Perspektiven mit vier Lokalstudien verknüpft hat. Er spürt der "zweiten industriellen Revolution" und der Ausbreitung einer Konsumgesellschaft in Haushalten und Freizeitverhalten der beiden untersuchten Länder anhand von vier lokalen Beispielen nach. Anders als die Verwaltungsstädte Münster und York sind die Industriemetropolen Dortmund und Leeds, dem früheren Einsetzen der englischen Industrialisierung geschuldet, zu Beginn des Untersuchungszeitraums noch sehr verschieden. Aber diese Unterschiede wachsen sich bis zum Zweiten Weltkrieg aus, und nicht zuletzt stehen gerade die Differenzen im Fokus.

Eher mag man sich noch fragen, ob der Begriff der "zweiten industriellen Revolution" trennscharf genug ist, um als Grundlage der Untersuchung zu dienen, zumal die gesetzten Zäsuren 1880 und 1939 aus dieser Sicht wenig zwingend erscheinen. Es geht freilich weniger um die Tauglichkeit dieses Begriffs als analytisches Instrument, als vielmehr um die von den "neuen Industrien", insbesondere der Energiewirtschaft, geschaffenen Konsummöglichkeiten für Privathaushalte. Zwei Leitfragen verfolgt Ditt dabei. Holte Deutschland den Entwicklungsvorsprung des industriellen Pioniers Großbritannien auf, und welche Konsequenzen hatte das für den privaten Konsum? Lassen sich deutsche und britische Gesellschaft bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs mit dem von der klassischen "Historischen Sozialwissenschaft" betonten Modell der Klassengesellschaft adäquat beschreiben, oder setzten sich eher konsumgesellschaftliche Strukturen und Wahrnehmungsmuster durch, die Klassenunterschiede nivellierten oder jedenfalls als subjektiv weniger relevant erscheinen ließen?

Um diesen Fragen nachzugehen, rollt Ditt in drei Abschnitten zunächst die Geschichte der "zweiten industriellen Revolution" mit Schwerpunkt auf der Entwicklung der Energiewirtschaft auf, untersucht dann das Ausmaß der Haushaltstechnik und wendet sich schließlich einer Analyse der "modernen Massenkultur" zu, mit besonderem Augenmerk auf Sport, Rundfunk und Kino. Jeder dieser drei Abschnitte könnte für sich schon als eine Monographie stehen. Die Herkunft des Autors aus der gesellschaftshistorischen Schule führt dazu, dass jeweils die "objektiven" Gegebenheiten im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, die subjektive Aneignung besonders im zweiten und dritten Teil für manchen Geschmack vielleicht etwas kurz kommt. Dennoch wird in Zukunft niemand, der sich mit den drei Themen auseinandersetzen will, an den hier gesammelten Informationen und ihrer Analyse im Einzelnen vorbei gehen können.

Das gilt auch für die Antworten auf die eingangs formulierten Leitfragen. Deutschland, so ein Ergebnis, holte den Vorsprung Großbritanniens im Bereich der energiewirtschaftlichen Entwicklung bereits vor dem Ersten Weltkrieg auf. Den Grund dafür macht Ditt in einer relativen Schwäche und Zurückhaltung des britischen Staats und der Kommunen aus. Dennoch blieb das Wohlstandsniveau in Großbritannien noch bis in die 1930er-Jahre höher. Warum das so ist, wird offengelassen. Eine Antwort drängt sich freilich auf: Gerade die liberale Tradition des "Nachtwächterstaats" auf der Insel dürfte eine Rolle dafür gespielt haben, dass der technische Fortschritt dem privaten Konsum zugutekam, statt zu großen Teilen vom öffentlichen Verbrauch aufgezehrt zu werden, wie das etwa in den 1930er-Jahren für Deutschland offenkundig ist.

Materielle Klassendifferenzen blieben in beiden Ländern gleichermaßen bestehen: Objektiv änderte sich an der Realität der Klassengesellschaft also nichts. Allerdings ließ der zunehmende Wohlstand, der alle Klassen trotz bestehender Unterschiede wie in einem Fahrstuhl nach oben katapultierte, den Abstand offenbar weniger spüren. Zudem nivellierten sich die Differenzen, anders als in der Haushaltstechnik, in den neu entstehenden Ausdrucksformen der Massenkultur: Auch wenn es hier klassenspezifische Präferenzen gab, war die Partizipation an Sport oder Kino nicht verschieden intensiv. Das lag wohl auch daran, dass die Konsumenten im Zweifelsfall ihr Geld eher für massenkulturelle Vergnügungen ausgaben, als für Arbeitserleichterung durch Haushaltstechnik. Das wiederum mag mit geschlechtsspezifischen Interessen und Machtstrukturen zu tun haben, die von Ditt zwar hier und da, aber insgesamt doch nur knapp berücksichtigt werden.

All das wird nicht nur außerordentlich breit belegt, sondern anhand von knapp 100 Bildern und 90 Tabellen auch plastisch veranschaulicht und differenzierend ausdiskutiert. Angesichts seines sturen Beharrens darauf, die Sümpfe der Archive zu durchwaten und die Mühen der empirischen Ebene auf sich zu nehmen, mag sich Karl Ditts Werk aus den mittlerweile vielfach beliebteren Vogelperspektiven, die globale Geschichte längerer Zeiträume auf oft wesentlich knapperem Raum luftig durchflattern wollen, tatsächlich wie ein Dinosaurier ausnehmen. Aber muss man nicht froh darüber sein, dass die Dinosaurier nicht ausgestorben sind?