O. v. Wrochem (Hrsg.): Skandinavien im Zweiten Weltkrieg

Titel
Skandinavien im Zweiten Weltkrieg und die Rettungsaktion Weiße Busse. Ereignisse und Erinnerung


Herausgeber
von Wrochem, Oliver
Reihe
Neuengammer Kolloquien 2
Erschienen
Berlin 2012: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
420 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Lappenküper, Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh; Helmut-Schmidt-Universität Hamburg

Zu welchen Perversionen auch im Kern gut gemeinte Taten im Unrechtssystem des Nationalsozialismus führen konnten, verdeutlicht geradezu prototypisch die so genannte „Aktion Weiße Busse“ in der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Im Frühjahr 1945 wurden etwa 21.000 KZ-Häftlinge aus dem Lager Neuengamme bei Hamburg mit weiß gestrichenen Bussen des Schwedischen Roten Kreuzes nach Dänemark bzw. Schweden transportiert und dort in die Freiheit entlassen. Im Mittelpunkt der Aktion stand der Vizepräsident des Schwedischen Roten Kreuzes und Neffe des schwedischen Königs Gustav V., Graf Folke Bernadotte, der die Bedingungen der Rettung seit Mitte Februar mit Reichsführer-SS Heinrich Himmler ausgehandelt hatte. Als Hauptquartier diente Bernadotte das Schloss des Fürsten Otto (II.) von Bismarck und seiner aus Schweden stammenden Frau Ann-Mari in Friedrichsruh. Vor der Hand eine großartige Tat, die mit jenen von Oskar Schindler oder John Rabe in einem Atemzug genannt werden könnte, kostete die Aktion Tausende andere Häftlinge das Leben. Denn um den seit Mitte März aus dem gesamten Reich hergeholten Skandinaviern für ihren Zwischenaufenthalt in Neuengamme Platz zu schaffen, wurden mehr als 2.000 Franzosen, Russen und Polen von dort in mehrere Außenlager verlegt, wo nicht wenige von ihnen elendig starben.

Umfassend aufgearbeitet ist die facettenreiche Geschichte der Aktion Weiße Busse und die Rolle des Hauses Bismarck bis heute nicht. Umso verdienstvoller ist ein die Ergebnisse einer Tagung vom Mai 2010 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zusammenfassender Sammelband, der das Schicksal der skandinavischen Häftlinge von der Verschleppung über die Inhaftierung bis zur Rettung beleuchtet. Eingebettet in das Verhältnis Nazi-Deutschlands zu Skandinavien während des Zweiten Weltkrieges, geht es in den acht Forschungsbeiträgen und dreizehn Zeitzeugenberichten neben der nicht selten unklaren Faktizität der Ereignisse auch um die kaum minder verschwommene Erinnerung der Beteiligten.

Die Haltung Hitler-Deutschlands zu Skandinavien war nach der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges zunächst von der Vorstellung der Bluts- und Wesensverwandtheit geprägt. Wie Therkel Stræde für das „Musterprotektorat“ Dänemark (S. 23) zu zeigen vermag, übten die Nationalsozialisten ihre dortige Gewaltherrschaft nicht nur „zeitverspätet“, sondern auch „in milderer Form als in anderen Ländern“ aus (S. 30). Als Reaktion auf eine massiver auftretende Widerstandsbewegung setzte ab September 1944 eine zunehmend rigidere Besatzungspolitik ein, in deren Verlauf Tausende von Dänen im Lager Frøslev interniert und dann nach Neuengamme verschleppt wurden, wo ihnen notabene auch gut 30 dänische SS-Freiwillige als Bewacher gegenüberstanden.

Wie in den übrigen deutschen Konzentrationslagern nahmen die skandinavischen Häftlinge, neben 1.700 Dänen noch 300 Norweger sowie 2.000 kurzfristig untergebrachte dänische Polizisten, in Neuengamme „eine privilegierte Position“ ein (Simone Erpel, S. 62), was sich darin niederschlug, dass sie während ihrer Haftzeit „Pakete von Angehörigen und internationalen humanitären Organisationen“ empfangen durften (Henrik Skov Kristensen, S. 44) und dann noch vor Kriegsende entlassen wurden. Folgt man der Schilderung Jörg Wollenbergs, war die zunächst von dänischer Seite initiierte, dann von schwedischer erreichte Freilassung eine „Gegenleistung“ (S. 170) für den von Graf Bernadotte hergestellten Kontakt zu den Westalliierten, von dem sich Himmler einen Separatfrieden erhoffte.

Ungeachtet der nicht zu leugnenden humanitären Grundidee gibt die Aktion in mehrfacher Hinsicht Anlass „zu kritischen Nachfragen“ (Wollenberg, S. 164): Zum einen gilt es nach der Öffnung relevanter Archivbestände inzwischen als zweifelsfrei erwiesen, dass jüdische Skandinavier erst nach einer Intervention der Vertreter des Jüdischen Weltkongresses in Schweden einbezogen wurden. Zum zweiten wurde zur Vorbereitung der Aktion in Neuengamme für die zu Tausenden aus Außenlagern, KZs und Zuchthäusern hertransportierten skandinavischen Gefangenen ein separates „Skandinavierlager“ geschaffen, für das mehr als 2.000 kranke Nichtskandinavier aus dem „Schonungsblock“ in diverse Außenlager verbracht wurden. Dieselben Weißen Busse, die die ausgezehrten Häftlinge abtransportierten und damit vielfach in den Tod fuhren, brachten den Skandinaviern die „Erlösung“ (Jens-Christian Hansen, S. 107). Graf Bernadotte, die „Galionsfigur der dänisch-schwedischen Rettungsaktion“ (Therkel Stræde, S. 22), war also einen „Pakt mit dem Teufel“ eingegangen (Michael Grill / Ulrike Jensen, S. 80).

Anders als in der Bundesrepublik, wo die Aktion Weiße Busse bis auf den heutigen Tag weitgehend „ein akademisches Thema“ geblieben ist (Izabela A. Dahl, S. 197), hat sie in Skandinavien zu einer intensiven gesellschaftlichen Debatte geführt, die „geradezu prototypisch“ belegt, „vor welche Herausforderungen eine kritische Vermittlung des historischen Geschehens während des Nationalsozialismus gestellt ist“ (Oliver von Wrochem, S. 9). Wie schwer sich die Gesellschaften dabei mit dem moralischen Dilemma des „exchange of human lives“ tun, unterstreicht Ingrid Lomfors (S. 145). Nicht alle Schweden, Norweger und Dänen wollen wahrhaben, dass es sich bei der Aktion Weiße Busse entgegen einer langlebigen Legendenbildung eben nicht um eine allgemeine humanitäre Rettungsaktion, sondern primär um die Rettung skandinavischer Häftlinge handelte.

Manch interessantes Detail steuern die im letzten Teil des Bandes zu Wort kommenden Zeitzeugen mit ihren nicht selten „unglaublich[en]“ Geschichten bei (Kåre Gilhus, S. 278). Während ehemalige Busfahrer ihre seinerzeitigen Rettungsfahrten offenherzig als „Abenteuer“ beschreiben (Sten Olsson, S. 345), spricht aus den Erzählungen der Überlebenden noch immer die unbeschreibliche Freude heraus, dem sicher geglaubten Tod entkommen zu sein: „Das war wie im Märchen, wie im Märchen“ (Per Stoveland, S. 322). Allerdings weisen die erinnerungskulturellen Überlieferungen auch manche Ungereimtheit und einige Widersprüche zu den auf „dürftig[er]“ Quellenlage (Grill / Jensen, S. 71) beruhenden wissenschaftlichen Erkenntnissen auf. Dennoch wird die vorliegende Publikation ungeachtet störender Redundanzen einen wichtigen Beitrag dazu leisten, den „weite[n] Weg“ zur Beseitigung der Differenzen (Henrik Sommerlund, S. 206) zu verkürzen. Ihr zentrales Verdienst dürfte überdies neben der vom Herausgeber Oliver von Wrochem herausgestellten allgemeinen Anregung „zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen“ (S. 9) nicht zuletzt darin liegen, die skandinavischen Forschungen für eine den nordischen Sprachen nicht mächtige deutsche Leserschaft geöffnet zu haben.

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