Titel
Sarajevo, 1941-1945. Muslims, Christians, and Jews in Hitler's Europe


Autor(en)
Greble, Emily
Erschienen
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
$35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Petke, Technische Universität Berlin

Die vorliegende Studie der am City College of New York lehrenden Historikerin Emily Greble scheint auf den ersten Blick eine Verbindung zwischen dem in den letzten Jahren populär gewordenen Genre der Städtebiografien 1 und gruppenmotivierten Gewaltdynamiken während des Zweiten Weltkrieges herzustellen. Schnell wird allerdings klar, dass es nicht die Stadt, sondern die Einwohner sind, die im Mittelpunkt ihrer Studie stehen. Sarajewo dient hierfür als Brennglas, um den großen Konfliktlinien und ihren Akteuren, die weitläufig unter die Begriffe des Faschismus, Nationalismus und Kommunismus subsumiert werden, nachzuspüren und ihre Auswirkungen auf die Gemeinschaften der Stadt und ihren in Jahrhunderten gewachsenen Traditionen und dem ausgehandeltem Mächtegleichgewicht zu untersuchen.

Greble wählt als Unterscheidungskriterium das der Konfession und ruft damit zu Recht in Erinnerung, dass der Zweite Weltkrieg auch ein Aufeinandertreffen der Religionen bzw. religiös geprägter Gruppen darstellte. Dies droht gerade für die Geschichte des Balkans im Zweiten Weltkrieg durch das etablierte und stetig wiederholte Narrativ der Akteure Ustaša, Četniks und Partisanen marginalisiert zu werden. Sowohl diese Darstellung, wie auch das nach 1945 betonte Bild von Sarajewo als multikulturelles Idyll, dass die Stadt zu einem „hallmark of all that worked in Yugoslavia, a symbol of mulitculturalism at its best“ (S.1) hatte werden lassen, bedurften seit einiger Zeit einer kritischen Überprüfung. Diese ist jedoch nicht das erklärte Ziel der Autorin, vielmehr will sie mit ihrem Buch darüber aufklären, „how this multicultural idyll survived the calamities that overwhelmed Europe in the 1940s“ (S. 2). Hierdurch macht sie deutlich, dass die Existenz dieses Multikulturalismus von ihr nicht in Frage gestellt wird und so in gewisser Weise das Ergebnis bereits zu Beginn ihrer Studie feststeht. Dies ist umso verwunderlicher, beschreibt sie doch am Ende des Buches wie nach dem Einmarsch der Partisanen, die neuen Machthaber schnell daran gingen eine neue sinnstiftende und alle Gruppen integrierende Identität des Multikulturalismus sozialistischer Prägung zu schaffen (S. 238 f.). Hier hätte ein kritischer Ausblick auf die Jahre nach 1945 und dem Zusammenbruch während der 1990er-Jahre viel zur Dekonstruktion beitragen können. Stattdessen gibt Greble die Lesart der nachfolgenden Kapitel vor, indem sie die gewachsene Stadtkultur (city’s traditional culture) zum handlungsbestimmenden Rahmen erklärt. Dieser bestehe aus einem vor allem im Privaten wirkenden System konfessioneller Identitäten zum Einen und dem bürgerlichen Bewusstsein der Stadtbewohner (civic consciousness) zum Anderen, in deren Grenzen die Optionen für die Interaktionen der verschiedenen Gruppen festgelegt wurden (S. 3). Dass dies auch die Möglichkeit der Segregation in sich barg verschweigt Greble nicht, doch wie auch an anderen Stellen im Buch werden Punkte, die ihrer Lesart entgegenstehen, als nicht ausschlaggebend beiseite gewischt. In diesem Fall betont sie die bestehende besondere emotionale Bindung der Bewohner an die Stadt und den anderen Einwohnern gegenüber durch ihre Identität als Einwohner Sarajewos (Sarajlije) (S. 15). Dies führt zur problematischen Verwendung bzw. Nichtverwendung des Identitätsbegriffs in diesem Abschnitt. Dass Identitäten nicht nur konstruiert, sondern auch veränderbar sind führt Greble ebenso an wie den Begriff der multiplen Identitäten, der es ermöglicht in Abhängigkeit von Situation und Kontext einzelne oder mehrere Identitätsmerkmale zu betonen oder Handlungen und Loyalitäten daraus abzuleiten (S. 12-14). Eine klare Positionierung was diese Begrifflichkeiten für ihre Arbeit bedeuten könnten, umgeht sie, indem sie der als „relatively static“ bezeichneten konfessionellen Identität der Einwohner den Vorzug gibt (S. 13). Dass auch diese Einordnung unscharf ist und ebenfalls jene subsumiert, die einzig durch Geburt einer der Gruppen zugeordnet werden, ist ein weiteres Problem, das durch eingeführte Begrifflichkeiten wie Serbe, orthodoxer Serbe, kroatischer Moslem oder, im Falle von Konversionen, katholischer Jude nur unzureichend gelöst wird (S. 19). Die aufgewendeten 20 Zeilen für die Erörterung dieser Problematik sind hierfür eindeutig zu wenig.

Nach dieser Einleitung, die den Leser mit einigen Unklarheiten zurücklässt, folgt das erste Kapitel „Portrait of a city on the eve of war“ (S. 29-53). Nach den vorangegangenen kompakten und nicht immer befriedigenden Ausführungen schafft es Greble gekonnt die Komplexität auf eine anschauliche und persönliche Ebene zu transferieren. Hierbei wird deutlich, dass sich alle religiösen Gruppen, repräsentiert durch den Großmufti von Sarajewo Fehim Spaho, Leon Finci stellvertretend für die Gruppe der sephardischen Juden, dem kroatischen Pfarrer Božidar Bralo und dem serbischen Direktor des Nationaltheaters Borivoje Jevtić, vor gruppeninterne und externe Herausforderungen gestellt sahen. Die Verwirklichung nationaler Träume, politischer und religiöser Dissens und die Positionierung gegenüber den Großmächten Europas offenbarten die größten Konfliktpotenziale. Einzig die jüdische Bevölkerung Sarajewos sah sich durch den anwachsenden Antisemitismus der anderen Gruppen mit einem Prozess der vollständigen Exklusion bedroht. Leider weist Greble nicht nochmals auf diese Besonderheit hin, dessen Tragweite sich in den folgenden Monaten und Jahren zeigen sollte.

Der Angriff der deutschen Armee und ihrer Verbündeten und die Machtübernahme durch die kroatische Ustaša stellte dieses durch die bereits beschriebenen Spannungen belastete Verhältnis der Gruppen vor existentielle Herausforderungen.

Eindrücklich beschreibt Greble in den Kapiteln „Autonomy Compromised: Nazi Occupation and the Ustasha Regime“ (S. 54-87) und „Conversion and Complicity: Ethnically Cleansing the Nation“ (S. 88-118), die in den ersten Tagen vorherrschende Ungewissheit über den Kriegsverlauf, die Einverleibung Sarajewos in den neugegründeten „Unabhängigen Staat Kroatien“ und das Chaos der ersten Monate. Die anfangs unternommenen Versuche die Ordnung wiederherzustellen, führten, torpediert durch das Verhalten der Ustaša Gruppen in der Stadt, nicht zum gewünschten Erfolg. Greble konstatiert im Juni 1941 „a picture of hostility and hatred toward the Ustasha regime from all sides of the city“ (S. 65). Das Durchsetzen der ideologischen Leitlinien um jeden Preis vergrößerte die Skepsis der Einwohner gegenüber den neuen Machthabern nochmals. Die antiserbische und antijüdische Politik führte zur weiteren Verschärfung der chaotischen Zustände, da durch diese Maßnahmen die Mehrheit der LehrerInnen, AnwältInnen, ÄrztInnen und Verwaltungsangestellten aus dem öffentlichen Leben gedrängt worden waren. Trotzdem war es nicht der Faschismus der Ustaša, der die katholischen und muslimischen Gemeinschaften in zunehmenden Maße abschreckte, sondern vielmehr die Unfähigkeit, die notwendigen Belange der Stadt in Absprache mit den lokalen Eliten zu regeln.

Viele der angeführten Beispiele für zivilen Ungehorsam und die Unterstützung der bedrohten MitbürgerInnen erscheinen vor allem als Handlungen von Einzelpersonen. Dass die „Sarajevo’s leaders“ weiterhin „the city’s ethical code of neighborliness“ (S. 102) zu bewahren versuchten, erscheint etwas gewagt. Bereits drei Seiten weiter beschreibt Greble, wie gerade die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Versorgung der Gemeinschaften in der Stadt als Begründung für die Übernahme serbischen und jüdischen Eigentums bemüht wurden (S. 105 f.) und Juden zunehmend von „Muslim and Catholic town leaders [...] as a necessary sacrifice for participating in the new order“ gesehen wurden (S. 118).

Als Folge dieses "Opfers" und dem partiellen Verschwinden zweier städtischer Communities galt es das bisherige Kräfteverhältnis neu zu verhandeln. Diesen Prozess, der sich vor allem entlang der zunehmend in den Vordergrund tretenden ethnischen Identitäten vollzog, beschreibt Greble im 4. Kapitel „Between Identities: The fragile Bonds of Community“ (S. 119-147).

Die hier bereits anklingende Entfremdung der muslimischen Gemeinschaft von der staatstragenden katholisch-kroatischen, bricht endgültig im 5. Kapitel „Dilemmas of the New European Order: The Muslim Question and the Yugoslav Civil War“ hervor. Zunächst noch als Blüte des neuen kroatischen Staates umworben, fanden sich die Muslime bald als Bürger zweiter Klasse fern von jeglichen Entscheidungspositionen wieder. Grebles Leistung ist auch in diesem Kapitel einmal mehr die differenzierte Darstellung der Fragmentierung der einzelnen, hier besonders der muslimischen Gemeinschaften. Leider offenbaren sich durch diese sehr starke Binnenperspektive auch einige Schwächen. Es ist zwar richtig, dass Partisanen und Četniks Probleme bei der Gewinnung von Anhängern in Sarajewo hatten, doch ob dies einzig an dem Gegensatz zu den religiösen und soziokulturellen Normen der Stadt lag (S.156) ist so eindeutig nicht. Von nicht unerheblicher Bedeutung dürfte auch das massive kroatische und deutsche Truppenaufgebot gewesen sein. Gerade letzteres erschien den Muslimen der Stadt zunehmend als Chance, die eigene Position zu stärken. Die Aufstellung der vor allem aus muslimischen Bosniern bestehenden „13. Waffen-Gebirgs-Division der SS ‚Handschar‘ (kroatische Nr. 1)“ als Folge dieser Anbiederung zu beschreiben (S. 168 ff.), lässt jedoch den bereits mehrere Jahre zuvor begonnenen Aufbauprozess der Waffen-SS mit Hilfe von west- und später auch osteuropäischen Volksgruppen außer Acht.

Die letzten beiden Kapitel „An Uprising in the Making“ (S. 179-207) und „The Final Months: From Total War to Communist Victory“ (S. 208-240) beschreiben den totalen Zusammenbruch. Dieser vollzog sich in Raten: Der italienischen Kapitulation im September 1943 folgten Partisanenoffensiven, die beträchtliche Auswirkungen auf die Versorgung der Stadt hatten. Gravierender sollte sich der nahende Zusammenbruch des USK und der deutsche Rückzug auswirken. Überfüllt mit sich zurückziehenden deutschen Truppen, die jegliche Infrastruktur der Stadt requirierten, brachen auch die letzten staatlichen und zivilen Strukturen zusammen. Diese Lücke versuchten die verbliebenen konfessionellen Gemeinschaften so gut es ging aufzufüllen, indem sie sich um das Schulwesen und vor allem die Versorgung der Flüchtlinge und Bedürftigen kümmerten (S. 211-220). Doch auch diese konnten nichts gegen den Terror und die Gewalt der sich im März zurückziehenden Ustaša ausrichten.

Grebles Studie schafft es auf Grundlage einer sehr breiten Quellenbasis ein sehr differenziertes Bild der konfessionellen Gemeinschaften Sarajewos in den Jahren 1941-1945 zu zeichnen. Allerdings bleiben diese trotz der vielen angeführten Beispiele durch Formulierungen wie „Sarajevo’s leaders“ in entscheidenden Momenten anonym. Hier erscheint es, als habe Greble versucht, eine eindeutige Positionierung zu vermeiden. Auch wenn in dieser Form nicht angekündigt, liefert die Arbeit wichtige Informationen zu der muslimischen Gemeinschaft Sarajewos. Trotz aller kritisierten Schwächen vermag es die Studie wichtige Fragen neu zu stellen und den bisher wenig beachteten Aspekt der konfessionellen Identität im Europa des Zweiten Weltkrieges herauszustellen.

Anmerkung:
1 Stellvertretend seien hier die Arbeiten von Peter Ackroyd und Simon Sebaq Montefiore genannt. Peter Ackroyd, London: Die Biografie, München 2002 und Simon Sebaq Montefiore, Jerusalem: Die Biografie, Frankfurt a.M. 2011.

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