Titel
Der Armut auf den Leib rücken. Die Professionalisierung der Sozialen Arbeit in der Schweiz (1900-1960)


Autor(en)
Matter, Sonja
Erschienen
Zürich 2011: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
€ 55,50
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Sabine Hering, Department Erziehungswissenschaft und Psychologie, Universität Siegen

Die der Publikation zugrunde liegende Arbeit, die 2009 bei der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern als Dissertation eingereicht wurde, widmet sich der Entwicklung der Ausbildung zur Sozialen Arbeit in der Schweiz seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Ende ihrer Existenz als ‚soziale Frauenschulen‘: „Der Fokus der Untersuchung richtet sich auf den Zeitraum zwischen 1900 und 1960, in dem die Grundlagen des Schweizer Sozialstaats ausgestaltet wurden, ein Zeitraum auch, in dem auf unterschiedlichen institutionellen Ebenen Wissen im Bereich des Sozialen produziert wurde.“ (S. 14)

Sonja Matters ausgezeichnet recherchierte, kenntnisreich ausgeführte und gut lesbare Darstellung konzentriert sich auf die wesentlichen Aspekte dieser Entwicklung. Sie diskutiert das Verhältnis zwischen Frauenbewegung und der Verberuflichung der Armenpflege, die Einbindung der Schweizer Organisationen in die internationalen Strukturen, die Strategien zur Qualifizierung und Akademisierung, die Diskurse über Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit und die Rolle der konfessionellen Wohlfahrtsverbände im Prozess der Professionalisierung.

Im Mittelpunkt stehen die drei Wohlfahrtsschulen, die in dem Untersuchungszeitraum in der Schweiz gegründet wurden: Zürich, Genf und Luzern. Noch vor der Sozialen Frauenschule Alice Salomons in Berlin öffneten die ‚Kurse zur Einführung in weibliche Hülfstätigkeit für soziale Aufgaben‘ in Zürich ihre Tore. Vorbild dieser von Maria Fierz und Mentona Moser gegründeten Einrichtung waren aber zunächst nicht die in Deutschland existierenden ‚Frauen- und Mädchengruppen für soziale Hilfstätigkeit‘, sondern die Settlements in London, in denen beide Gründerinnen hospitiert und sich die notwendigen theoretischen und methodischen Qualifikationen angeeignet hatten.

Aus der englischen Settlementbewegung übernahmen Fierz und Moser vor allem die Vorstellung, „dass Frauen einen wesentlichen Beitrag zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit leisten müssten und berechtigt seien, alternative Ansätze zu bestehenden Fürsorgepraktiken zu formulieren. (S. 64) Grundsätzlich übernahmen die beiden Schweizerinnen das Postulat der Settlementbewegung, „nach den Ursachen von Armut zu fragen und sich von einer moralisierenden Armutsinterpretation zu lösen.“ (S.64)

Diese gesellschaftskritische Position wurde vor allem von Mentona Moser vertreten, die bereits 1909 ihr Amt niederlegte, weil ihre Zweifel an der Wirksamkeit des ‚Flickwerks bürgerlicher Wohlfahrtsstrategien‘ angesichts der durch den Kapitalismus erzeugten sozialen Missstände sie dazu bewogen, sich der Schweizer Sozialdemokratie, später der kommunistischen Partei anzuschließen und ihre sozialen Aktivitäten in der Internationalen Roten Hilfe fortzusetzen.

Ihre Nachfolgerin wurde Marta von Meyenburg, welche die Schule zunächst zusammen mit Maria Fierz und ab 1920 alleine leitete und ausbaute: „Die kapitalistische Ordnung wurde nicht mehr in Frage gestellt, vielmehr vertraten Fierz und von Meyenburg die Ansicht, dass Frauen über ihr sozialarbeiterisches Engagement und ihre Fähigkeit zur sozialen Mütterlichkeit die negativen Erscheinungen der kapitalistischen und männlich geprägten Gesellschaftsordnung verbessern könnten.“ (S. 67)

Nach dem Ersten Weltkrieg wurden aufgrund der Erfolge der Züricher Schule und des gestiegenen Bedarfs weitere Ausbildungsstätten für Soziale Arbeit ins Leben gerufen, welche sich weitgehend an dem Modell der Sozialen Frauenschule von Alice Salomon orientierten: Die Gründungen in Genf standen – wie in Zürich – dem fortschrittlichen Flügel der Frauenbewegung nahe, die Schule in Luzern dem Schweizerischen Katholischen Frauenbund. In der Genfer ‚Ecole d´études sociales pour femmes‘ „sollte den Frauen nicht nur der Weg geebnet werden, sich für ein neues Berufsfeld vorzubereiten. Gleichzeitig wollten sie Frauen dazu ausbilden, in einem gesellschaftspolitisch brisanten Bereich zu intervenieren.“ (S. 71f.) In Luzern bekannte man sich zu den Grundsätzen des Katholizismus, strebte aber ebenfalls die Ausbildung sozial und politisch engagierter Fürsorgerinnen an.

Obwohl die Schulen in Genf konfessionell ‚neutral‘ waren, stimmten sie mit der Luzerner Einrichtung in vielen Punkten überein. Alle drei erhoben ein Schulgeld, das den Zugang für Frauen aus der Unterschicht weitgehend verunmöglichte – und vermutlich auch verunmöglichen sollte. Alle drei strebten eine qualifizierte Ausbildung für bezahlte Hauptamtliche in differenzierten Berufsfeldern an. Und alle drei waren trotz des ‚Reinheitsgebots‘ als Einrichtung von Frauen für Frauen auf die enge Zusammenarbeit mit einflussreichen Männern und die Unterstützung von etablierten Organisationen wie der ‚Schweizerischen Armenpflegerkonferenz‘ angewiesen, obwohl sie – vor allem in den zunehmend brisanter werdenden Diskussionen über Eugenik und Volkstum seit Beginn der 1930er-Jahre – inhaltlich nicht immer mit diesen einer Meinung waren.

Ein großer Teil der Arbeit von Sonja Matter widmet sich der ‚Wissensproduktion‘ in der Sozialen Arbeit, dem Einsatz von Methoden (speziell der Frage der Einzelfallhilfe bzw. dem Case Work) und der Frage der Praxisanteile – also den inhaltlichen Aspekten der Ausbildung an den drei Schulen. In der Analyse der Curricula zeigt sich, wie auch in den Kontroversen mit der Armenpflegerkonferenz, dass selbst in der ‚neutralen‘ Schweiz die Anfälligkeit für die Ideen des Faschismus sichtbar und spürbar wurde und ihren Niederschlag nicht zuletzt in der Ausbildung zur Sozialen Arbeit fand. Es zeigt sich aber auch die Hinwendung zum Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten nach dem Zweiten Weltkrieg – interessanterweise festgemacht an der Debatte um die Einzelfallhilfe als adäquate Umsetzung der Menschenrechte in der Sozialen Arbeit.

Im Gegensatz zur Mehrheit der Länder Europas, in denen es die Aufteilung in Universitäten und ‚Fachhochschulen‘ (und deren jeweilige Vorgängereinrichtungen) nicht gegeben hat, teilt die Schweiz das Schicksal mit Deutschland, die Ausbildung zur Sozialen Arbeit an Sozialen Frauenschulen, später an Wohlfahrtsschulen angesiedelt und deshalb den ‚Sprung an die Universitäten‘ erst spät und gegen große Widerstände geschafft zu haben. Sonja Matter stellt den Kampf um die Öffnung der Universitäten für die Ausbildung zur Sozialen Arbeit, der in der Schweiz bereits 1908 einsetzte und erst nach Abschluss des Untersuchungszeitraums 1961 zu gewissen Erfolgen geführt hat, eindrucksvoll dar – ebenso wie die Auseinandersetzungen um die Öffnung des Berufs für Männer, welche gleichermaßen der Entwicklung in Deutschland ähneln.

Die Arbeit von Sonja Matter ist vor allem deshalb lesenswert, weil sie die Aufmerksamkeit auf die Entwicklung der Sozialarbeitsausbildung in einem Land lenkt, das in der Regel bei der Debatte um Wohlfahrtsstaat und Professionsentwicklung eher übersehen wird. Der Umstand, dass die erste Ausbildungsstätte in der Schweiz schon vergleichsweise früh entstanden ist und mit einer sehr gut organisierten, dem fortschrittlichen Flügel nahestehenden Frauenbewegung eng verknüpft war, ist weitgehend unbekannt. Und auch die umfangreichen Verbindungen zu den internationalen Wohlfahrtsorganisationen werden häufig übersehen. Matter liefert mit einer Aufarbeitung dieser Tatsachen eine ganze Reihe von Hinweisen und Ansätzen dafür, wie wichtig es ist, die Schweiz – mehr als es bisher erfolgt ist – in komparative Studien zur Wohlfahrtshistoriographie einzubeziehen.

Zu loben ist auch das sehr umfangreiche Literaturverzeichnis, gegliedert in Quellen, zeitgenössische Darstellungen und aktuelle Publikationen. Zusätzlich dazu wäre ein Personen- und Schlagwortverzeichnis sicher hilfreich gewesen. Leseunfreundlich ist der in Historikerkreisen so beliebte Großeinsatz von Fußnoten, der aufgrund des reichen Quellenstudiums sicherlich für die Dissertation unvermeidlich war, bei der Publikation aber auf das Wesentliche reduzierbar gewesen wäre.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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