H.-D. Heimann u.a. (Hrsg.): Armutskonzepte der Franziskaner

Cover
Titel
Gelobte Armut. Armutskonzepte der franziskanischen Ordensfamilie vom Mittelalter bis in die Gegenwart


Herausgeber
Heimann, Heinz-Dieter; Hilsebein, Angelica; Schmies, Bernd; Stiegemann, Christoph
Erschienen
Paderborn 2012: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
XXIV, 632 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ramona Sickert, Mittelalterliche Geschichte, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

Die Idee der Christusnachfolge in Armut war, verbunden mit den Geboten der Keuschheit, Demut und des Gehorsams, seit jeher ein zentraler Baustein im Lebensentwurf von Religiosen – nicht nur im Mittelalter. Paradigmatisch für die religiös begründete freiwillige Besitzlosigkeit steht die Figur des Franziskus von Assisi, der mit seiner Gemeinschaft ein radikales Armutspostulat vertrat, das über die individuelle Besitzlosigkeit hinaus auch den kollektiven Eigentumsverzicht umfasste. Dieses umfassende Armutsgebot provozierte nicht nur die zeitgenössischen Außenbeobachter der Franziskaner, es führte auch innerhalb des Ordo Fratrum Minorum zu zahlreichen Kontroversen und wirkte darüber hinaus als Prägekraft für das jeweilige Selbstverständnis der Gemeinschaften in der sich vielfältig ausfächernden franziskanischen Ordensfamilie.

Während ordenshistorische Grundlagenforschungen1 und Arbeiten zu den Stifterpersönlichkeiten Franziskus und Klara von Assisi2 auch von der Frage der Armutsforderung motiviert waren und die paupertas als Leitidee im Institutionalisierungsprozess der Mendikanten3 insbesondere für die mittelalterliche Geschichte gut erforscht ist, existierte bislang keine umfassende Darstellung der Armut, die sich auf die franziskanischen Orden konzentriert und eine weitere Zeitspanne über das Mittelalter hinaus umfasst. Mit eben dieser Problematik befasst sich der vorliegende Sammelband. Der Band vereint die Ergebnisse einer interdisziplinären Konferenz, zu der vom 17. bis 19. Februar 2011 Forscher aus den Bereichen der Ordensgeschichte, über die Kirchen-, Bildungs- und Kunstgeschichte bis hin zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie der Bauhistorie in Paderborn zusammentrafen.4 Die Tagung fand im Vorfeld und in Vorbereitung der Ausstellung „Franziskus – Licht aus Assisi“ statt, die von Dezember 2011 bis Mai 2012 im Erzbischöflichen Diözesanmuseum Paderborn zu sehen war.

Die Konferenz hatte sich zum Ziel gesetzt, das Spannungsverhältnis zwischen Kontinuität und Wandel franziskanischer Armutskonzepte als spezifisches Movens der Ordensgeschichte epochenübergreifend zu ergründen. Der imposante Sammelband zur Tagung vereint auf über 630 Seiten 27 exemplarische Studien zur Geschichte der paupertas bei den Franziskanern, Klarissen und Terziarinnen, den Konventualen, Observanten und Kapuzinern, die in sechs Sektionen gegliedert sind und eine Zeitspanne von der Vorgeschichte der Franziskaner bis in das 20. Jahrhundert umfassen. Die erste Sektion „Armut als religiös-soziologisches Phänomen im Mittelalter“ bietet zwei Beiträge zur Geschichte der Armut, zum gesellschaftlichen Kontext und den religiösen Armutsbewegungen vor den Franziskanern. Der zweite, mit „Armut als Ärgernis und Herausforderung“ überschriebene Abschnitt vereint Aufsätze, in denen die Spannbreite zwischen Armutsideal und gelebter „gelobter Armut“ ausgelotet wird. Die Verbindungen von Bildungsvorstellungen und Armutsideal bei Franziskanern und Klarissen nimmt die dritte Sektion in den Blick, während im nachfolgenden Abschnitt Beiträge zum Streit um die Armutsforderung bei Franziskanern und Klarissen versammelt sind. Im fünften Abschnitt stehen unter den Schlagworten Pauperisierung, Ordensverfall und -erneuerung Perspektiven auf die franziskanische Armut im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit im Zentrum des Interesses. Der Verbindung von sozialer Frage und solidarischer Armut widmen sich schließlich die Beiträge der sechsten Sektion, die sich mit Fragen der franziskanischen Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert auseinandersetzen. Der Band wird beschlossen von einem Verzeichnis der Kürzel, einem detaillierten Personen- und Ortsregister sowie einem Nachweis der zahlreichen Abbildungen im Text.

An dieser Stelle ist es unmöglich, auf alle Artikel des Sammelbandes erschöpfend einzugehen, nur einige zentrale Punkte seien hervorgehoben. Dass zwischen dem Ideal der paupertas und der konkret gelebten Besitzlosigkeit in einzelnen Phasen der Ordensgeschichte zum Teil gravierende Differenzen bestanden, ist bekannt und wurde in der Forschung hinreichend thematisiert. Die detaillierte Betrachtung kulturell und zeitlich variabler Varianten gelebter Armut und der Praktiken der Umdeutung des Armseins jedoch, wie sie in dem Band vorgenommen wird, ist neu. Die Spannung zwischen dem Ideal der altissima paupertas und den Versuchen der Umsetzung, Angleichung oder Umdeutung der Armut in verschiedenen Etappen franziskanischer Lebensrealität kommt in vielen der einzelnen Beiträge zur Sprache. Bereits im 13. Jahrhundert verwandelte sich das Armutsideal zur Fiktion, wie Leonhard Lehmann in seiner Untersuchung der Schriften von Franziskus und Klara feststellt. Nach dem Tod der Ordensstifter wurde so „aus der gelebten Armut immer mehr eine gedachte, aus der gelobten immer mehr eine diskutierte und hinterfragte“ (S. 65). Am Beispiel der volkssprachlichen Verkündigung der Minoriten im 13. und 14. Jahrhundert analysiert Michael Rupp die Transformation der Forderung nach Besitzlosigkeit zum geistlichen Begriff innerer Armut. Diese Umdeutung des Armseins als Chance und seelischer Reichtum einerseits und andererseits der Verweis nicht auf den absoluten Verzicht, sondern auf die Beschränkung auf das Notwendigste (bei David von Augsburg) oder auf den verantwortlichen Umgang mit Besitz (in einer unter dem Namen Bertholds von Regensburg überlieferten Predigt) machen deutlich, wie das Armutsideal im Alltag umgesetzt werden sollte. Die Intention dieser volkssprachlichen Predigten bestand nach Rupp offenbar darin, „dasjenige aus der Tradition zu übermitteln, was sich im geistlichen Leben bewährt hat“ (S. 149). In seinem Vergleich der Kustodien Halberstadt und Thüringen zeigt Bernd Schmies, dass die Umsetzung der Armutsforderung jeweils von lokalen Umfeldbedingungen abhängig war. Obwohl die Konvente in den geldwirtschaftlich ausgerichteten urbanen Zentren als ökonomisch handelnde Akteure auftraten und für die stellvertretende Ausübung von Vermögensgeschäften und die Besitzverwaltung Prokuratoren eingesetzt wurden, blieb das Wirtschaften der franziskanischen Brüder beschränkt auf die „existenzsichernde Versorgung auf der Grundlage des von ihnen angebotenen seelsorglichen Leistungsangebots“ (S. 305). Jens Röhrkasten, der Theorie und Praxis franziskanischer Armut im Mittelalter analysiert, betont, dass nicht die Armut im Zentrum franziskanischer Lebensweise stand, sondern als Voraussetzung für ein Leben nach den Evangelien in der Nachfolge Christi zu bewerten sei. Wie Röhrkasten am Beispiel englischer Franziskaner im 13. Jahrhundert verdeutlicht, wurde im Verlauf der franziskanischen Ordensetablierung, die eine sukzessive Verschiebung der Armutspraxis zur Folge hatte, die symbolische Dimension der paupertas gegenüber ihrer praktischen Seite immer mehr betont.

Als zentrale Merkmale sind die kulturelle Produktivität und innovative Kraft des Armutskonzeptes hervorzuheben, die etwa von Hillard von Thiessen in seinem Beitrag zur Wahrnehmung des erneuerten Armutsideals der Kapuziner in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit vorgestellt werden. Trotz der Anpassung ihres Armutsgebotes an die Erfordernisse der Seelsorge nach 1536 wurden die Kapuziner weiterhin als der paupertas verpflichtete, glaubwürdige Religiose wahrgenommen, so dass sie zu einem der Hauptträger der katholischen Reform im Zeitalter der Konfessionalisierung avancierten. In ihrem Rekurs auf die Thesen von Giacomo Todeschini5 geht auch Annette Kehnel auf das kreative Potential franziskanischer Armut im Kontext der Entstehung eines wirtschaftlichen Vokabulars und Expertenwissens ein und weist darauf hin, dass die von der Armutsforderung inspirierten Diskurse über den Wert der Arbeit und über weitere ökonomische Begriffe mit der Hervorbringung einer innovativen Wirtschaftsweise kulturelle Paradoxien produzierten.

Mit der Sichtbarkeit und damit auch Öffentlichkeit franziskanischer paupertas ist ein weiterer grundlegender Aspekt der Armutsforderung angesprochen, der in mehreren Beiträgen thematisiert und von Annette Kehnel gar als „die große Innovation der Bettelorden für das Spätmittelalter und darüber hinaus“ (S. 235) bezeichnet wird. Die öffentlichkeitswirksam vorgetragenen Auseinandersetzungen um das Armutsgebot werden im Beitrag von Jürgen Miethke zum „theoretischen Armutsstreit“ dargestellt, der eindrucksvoll zeigt, wie sich eine Kontroverse um Begriffe ausweiten und weitreichende Wirkungen für den Orden, für Papst und Kurie und darüber hinaus entfalten konnte. Von Peter Bell wird die Zeichenhaftigkeit des franziskanischen Habits anhand spätmittelalterlicher italienischer Franziskuszyklen als „vestimentäre Kommunikation“ vorgestellt, die stets im öffentlichen, gesellschaftlichen Bereich erfolgte. Bell vermag zu zeigen, wie die in den Bildzyklen nur im gesellschaftlichen Raum gewechselten Gewänder des Franziskus als Medium dienten, um einzelne Etappen der Identität des Heiligen zu markieren. Der Beitrag zum Zusammenhang von franziskanischer Architektur und Armutsgebot von Matthias Untermann führt mit dem zweifach angelegten Kreuzgang ein Spezifikum franziskanischer Klosterbauweise und eine Differenz gebauter Sichtbarkeit nach innen und außen vor Augen: während der erste, halböffentliche Kreuzgang als Zugeständnis an „die Erwartungen der städtischen Öffentlichkeit an ein Kloster […] zu werten sei, sollte der zweite, um vieles schlichter gehaltene Kreuzgang den Brüdern selbst vor Augen führen, dass Franziskaner […] gar nicht wissen, was ein Kloster ist“ (S. 344).

Anders hingegen spielte die öffentliche Sichtbarkeit der Armut in den Klarissenklöstern und den Niederlassungen des weiblichen Drittordenszweiges keine bestimmende Rolle, wie etwa in dem Beitrag von Angelica Hilsebein zur Überlieferung der Klarissenklöster in Esslingen und München deutlich wird. Die aus der Verpflichtung der Klarissen zur Klausur ab 1263 resultierenden finanziellen Zuwendungen, die durch die Verhinderung von Bettel und Seelsorge zum Lebensunterhalt notwendig waren, lassen die Klarissen im 14. und 15. Jahrhundert als weibliche Religiose mit Eigenbesitz die Rolle von Käuferinnen, Verkäuferinnen, Kreditgeberinnen oder Stifterinnen übernehmen. So bestimmt auch Almut Breitenbach, die Norm und Praxis von Wissen und Bildung anhand süddeutscher Klarissenklöster analysiert und Armut in diesem Zusammenhang als ideelle Verweigerung der Aneignung von Wissen im Sinne von geistigem Besitz beschreibt, die Klausur als bedeutenden, den Zugang zu Bildungsmöglichkeiten für die Klarissen beschränkenden Faktor. Armut bezeichnet hier nicht mehr die äußere Besitzlosigkeit eines religiösen Lebens sine proprio, sondern die paupertas als geistlichen Begriff und als spirituelles Werkzeug auf dem Weg zu Gott.

Mit der konsequenten Anwendung neuerer kulturwissenschaftlicher Fragestellungen und komparatistischer Forschungsansätze, wie sie im Aufsatz von Otto Gerhard Oexle über die pauperes in der mittelalterlichen Gesellschaft eingefordert werden, gelingt es den Autoren, den „Reichtum der Armut“ als stets umkämpftes, dynamisches Element in der Wirkungsgeschichte der verschiedenen Gemeinschaften der franziskanischen Ordensfamilie auszumachen und zu zeigen, dass es gerade die Kontroversen um die rechte Armut in der Nachfolge Christi waren, die zur immerwährenden Auseinandersetzung mit dem ursprünglichen Armutsideal geführt haben, so dass die „franziskanische Idee“ auch noch nach Jahrhunderten ihre Attraktivität bewahren konnte. Der Band vermag darüber hinaus zu zeigen, dass die „Gelobte Armut“ bis in die Gegenwart hinein jeweils verschieden gedeuteter, aber dennoch zentraler Bestandteil der Identität der verschiedenen Gemeinschaften in der Nachfolge Franziskus und Klaras ist und ein noch längst nicht zur Gänze erschlossenes Feld nicht nur der vergleichenden Ordensforschung darstellt.

Anmerkungen:
1 So etwa Ulrich Horst, Evangelische Armut und päpstliches Lehramt. Minoritentheologen im Konflikt mit Papst Johannes XXII. (1316–34), Stuttgart 1996 und Dieter Berg, Armut und Geschichte. Studien zur Geschichte der Bettelorden im Hohen und Späten Mittelalter, Kevelaer 2001.
2 Aus der Fülle der Darstellungen zu den Ordensgründern seien hier nur die jeweils neuesten zu Franziskus genannt: Nikolaus Kuster, Franziskus. Rebell und Heiliger, Freiburg 2009 und zu Klara von Assisi: Bernd Schmies (Hrsg.), Klara von Assisi. Zwischen Bettelarmut und Beziehungsreichtum. Beiträge zur neueren deutschsprachigen Klara-Forschung, Münster 2011.
3 Gert Melville / Annette Kehnel (Hrsg.), In proposito paupertatis. Studien zum Armutsverständnis bei den mittelalterlichen Bettelorden, Münster 2001.
4 Angelica Hilsebein, Tagungsbericht Gelobte Armut. Armutskonzepte der franziskanischen Ordensfamilie zwischen Ideal und Wirklichkeit in der Zeit vom Mittelalter bis in die Gegenwart. 17.02.2011-19.02.2011, Paderborn, in: H-Soz-u-Kult, 31.03.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3602> (30.03.2012).
5 Giacomo Todeschini, Ricchezza francescana. Dalla povertà volontaria alla società di mercato, Bologna 2004.