R. Mayhew (Hrsg.): Prodicus the Sophist

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Titel
Prodicus the Sophist. Texts, Translations, and Commentary


Herausgeber
Mayhew, Robert
Erschienen
Anzahl Seiten
XXIX, 272 S.
Preis
$ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Dreßler, Excellence Cluster Topoi, Humboldt-Universität zu Berlin

Prodikos von Keos war einer der großen Sophisten des ausgehenden 5. Jahrhunderts v.Chr. Er wird bei Aristophanes, Platon und Xenophon erwähnt und war demnach auch in Athen kein Unbekannter. Heute verbindet man mit seinem Namen vor allem seine Ansichten zur Entstehung der Religion, die berühmte Erzählung von Herakles am Scheideweg und seine sprachwissenschaftlichen Theorien. Die antike Überlieferung zu ihm hat nun der amerikanische Philosophiehistoriker Robert Mayhew in einer kommentierten und mit englischer Übersetzung versehenen Neuedition versammelt. Gegenüber den etwas mehr als 30 Testimonien und Fragmenten in der Vorsokratiker-Ausgabe von Diels und Kranz hat Mayhew mit insgesamt 90 Texten deutlich mehr zu bieten. Ein gänzlich neues Bild des Sophisten folgt daraus freilich nicht. So können etwa die 18 zusätzlich aufgenommenen Stellen im ersten Abschnitt zu „Life and Character“ nichts wesentlich Neues zum Bild des Sophisten beitragen – zumal sie fast sämtlich auch schon zu Zeiten von Diels und Kranz bekannt waren. Dass Prodikos in etwa zwischen 470 und 460 geboren wurde und zur Zeit des Sokrates-Prozesses (399) wohl noch gelebt hat, dass er eine markante Stimme hatte, verschiedentlich als Gesandter seiner Heimatstadt tätig war und im Übrigen durch Unterricht und epideiktische Reden in ganz Griechenland zu Ruhm und Reichtum gekommen ist, lässt sich alles den platonischen Dialogen entnehmen. Abgesehen von im Allgemeinen oft fragwürdigen Angaben zu Lehrer-Schüler-Verhältnissen sowie der späten und unglaubwürdigen Information, Prodikos habe in Athen den Schierlingsbecher trinken müssen, weil er die Jugend verdorben habe1, schöpften offenkundig auch die späteren Quellen ihr Material zumeist aus Platon. Die rein thematische Anordnung der Texte bei Mayhew bringt diese Abhängigkeiten meines Erachtens nicht genügend zum Ausdruck.

Die im zweiten Abschnitt versammelten Quellen zu Prodikos’ sprachwissenschaftlichen Interessen bezeugen vor allem sein Bemühen um den ‚korrekten Gebrauch der Worte‘ (onomaton orthotes).2 Demnach legte er zum einen Wert auf genaue Unterscheidungen zwischen oft synonym gebrauchten Begriffen und forderte zum anderen, dass ein und derselbe Ausdruck nicht in mehreren unterschiedlichen Bedeutungen verwendet werden sollte. Um die eine und wahre Bedeutung eines Wortes zu bestimmen, zog er offenbar – zumindest in einigen Fällen – auch dessen (vermutete) Etymologie heran. Ob jedoch die konkreten Definitionen und Differenzierungen von Begriffen in unseren Quellen tatsächlich auf Prodikos zurückgehen oder nur allgemein Beispiele für ein Bemühen um den richtigen Ausdruck sind, wie es in der Antike vor allem mit seinem Namen verbunden wurde, lässt sich im Einzelnen oft nicht mit Sicherheit klären. Auch ist nicht unbedingt anzunehmen, dass es ihm bei der genauen Bestimmung und Unterscheidung von Bedeutungen wie Platon und späteren Philosophen primär um ein philosophisch geschärftes Verständnis der Begriffe und der mit ihnen verbundenen Sachverhalte ging (vgl. S. 142f.).

Der dritte Abschnitt behandelt Prodikos’ Gedanken zu Naturphilosophie, Kosmologie und Religion. Als Hinweis auf eine etwaige Kosmologie des Sophisten führt Mayhew einen längeren Abschnitt aus Aristophanes’ Vögeln an (V. 685–722; Text 69). Der Chor der Vögel verspricht dort unter anderem Aufklärung über die „Entstehung der Götter“, worüber Prodikos in Tränen ausbrechen werde (V. 691–692). Die Erwähnung bezieht sich also offenkundig auf dessen Religionsentstehungstheorie, die sich als falsch erweisen werde. Mayhews Ansicht, dass auch der Rest des Abschnitts sein Material aus einer ansonsten unbekannten Kosmologie des Sophisten schöpft und nicht vielmehr, wie anzunehmen ist, kosmologisches Gedankengut verschiedener Provenienz versammelt, kann dagegen nicht überzeugen. Dem Autor ist zuzustimmen, wenn er seine vorsichtige Rekonstruktion von Aufbau und Inhalt der Horai ausdrücklich als „speculations“ bezeichnet (S. XXI–XXIII; Zitat: XXI). Zwar fehlt es nicht an Versuchen, überliefertes Gedankengut des Prodikos diesem Werk zuzuweisen3, dennoch ist festzustellen, dass der einen (zudem relativ späten) Quelle, die explizit auf diese Schrift verweist, nicht mehr als der Titel und die Angabe zu entnehmen ist, die Herakles-Erzählung sei darin zu finden gewesen (Schol. Aristoph. Nub. 361; Text 80).

Positiv anzumerken ist dagegen, dass Mayhew anders als viele frühere Herausgeber zu Prodikos’ Religionsentstehungstheorie auch zwei wichtige Stellen aus Philodems Schrift De pietate anführt, die leider nur fragmentarisch auf in Herculaneum gefundenen Papyri überliefert ist (Texte 70 und 72). Bekanntlich meinte Prodikos, dass der Glauben an die Götter ursprünglich durch die Deifizierung von nutzbringenden Naturphänomenen entstanden war. Nun könnte man die Theorie auch in dem Sinne verstehen, dass er damit erklären wollte, wie die Menschen durch solche Phänomene zu der richtigen Einsicht gelangt seien, dass es Götter gebe, die dafür verantwortlich wären.4 Dass der Volksglauben, der so entstanden sein sollte, jedoch für Prodikos keine reale Grundlage hatte, geht aus den Philodemos-Stellen klar hervor.5 Nach Mayhew durchlief die Religionsentstehung für Prodikos außerdem zwei aufeinanderfolgende Stufen, die Vergöttlichung nutzbringender Naturphänomene und sodann die Vergöttlichung menschlicher Kulturbringer (S. XVIIf., 180f. u. 187–190). Die Quellen legen allerdings nahe, dass die zweite Stufe eher späteren Denkern wie Euhemeros und Persaios zuzuschreiben ist, deren Theorien in der antiken Überlieferung zum Teil im Zusammenhang mit der des Prodikos auftauchen.6

Der letzte Abschnitt versammelt die Quellen zu Prodikos’ ethischem Denken. Den größten Raum nimmt hier naturgemäß die Herakles-Erzählung ein, die Xenophon in seinen Memorabilien wiedergibt. Während der Text bisher entweder als ernsthaftes Eintreten für die Tugend oder als sophistische Musterrede gelesen wurde, der über die tatsächlichen Ansichten des Autors wenig zu entnehmen sei, schlägt Mayhew eine dritte Deutung vor (S. XVIII–XX, 201–221): Der Sophist habe zeigen wollen, dass sowohl die Argumentation für als auch wider eine tugendhafte Lebensführung auf je eigene Weise gerechtfertigt seien. Wer sich für erstere Option entscheide, könne zwar mit Ruhm und Ansehen rechnen, müsse aber Mühen auf sich nehmen und auf Genüsse verzichten. Wer dazu nicht bereit sei, für den sei folglich das – unter moralischen Gesichtspunkten – schlechtere Leben das richtige. Eine solche Lesart des Textes im Sinne einer postmodernen Ambivalenz kann allerdings nicht überzeugen; in der Antike zumindest hat ihn niemand in diesem Sinne verstanden. Auch würde eine solche Deutung gängigen antiken Moralvorstellungen diametral entgegenlaufen. Dass für Prodikos alle moralischen Werte nur relativ und ohne feste Geltung gewesen seien, kann Mayhew auch nur dadurch plausibel machen, dass er dies zum gängigen „sophistic moral outlook“ erklärt (S. 209; vgl. XXIV). Die Sophisten haben jedoch auch in ethischen Fragen durchaus unterschiedliche Positionen vertreten, und mehrere haben die Bedeutung kollektiver Normen und Werte für die Gemeinschaft – trotz Einsicht in deren historische und kulturelle Bedingtheit – explizit betont.7 Auch waren für Herakles beide Lebenswege gerade nicht austauschbar: Hätte er sich gegen das tugendsame Leben entschieden und die sprichwörtlichen herkulischen Mühen nicht auf sich genommen, wäre er weder in den Olymp aufgestiegen noch zum Held von Prodikos’ Erzählung geworden.

Mayhew versammelt eine Vielzahl von Quellen, die in bisherigen Ausgaben nicht berücksichtigt wurden. Dass sich unser Bild des Prodikos in gleichem Maße verändert oder vertieft hätte, wird man allerdings nicht behaupten können. Viele Texte beziehen ihr Material offenkundig aus älteren, weithin bekannten Vorlagen, vor allem den platonischen Dialogen, und haben darüber hinaus wenig Neues beizutragen. Bei anderen ist letztlich nicht zu klären, was sie – abgesehen von der bloßen Nennung des Namens und einiger Allgemeinplätze, die sich in der antiken Überlieferung immer wieder mit ihm verbinden – an genuinem Gedankengut des Sophisten enthalten. Die Einführungen zu den Quellentexten gehen daher zum Teil auch über das hinaus, was in Anbetracht ihres tatsächlichen Beitrags zum Verständnis von Prodikos’ Denken nötig wäre. Wie vom Autor durchaus eingeräumt wird, bleiben so manche Rekonstruktionen seiner Theorien, die auf dieser Quellenbasis im Kommentarteil vorgenommen werden, notwendig spekulativ. Dennoch bietet die Ausgabe gerade wegen ihrer umfangreichen Präsentation des editorisch hervorragend aufbereiteten Quellenmaterials eine gute Grundlage, sich weiter mit Prodikos zu beschäftigen.

Anmerkungen:
1 Die Angabe findet sich nur in der Suda (Pi 2365 s.v. Prodikos; Text 1) und in einem Scholion zu Plat. Rep. 600c (Text 2) und geht offenkundig auf eine Verwechslung mit dem Fall des Sokrates zurück.
2 Für den Begriff vgl. Plat. Euthyd. 277e; Krat. 384b.
3 Vgl. Wilhelm Nestle, Die Horen des Prodikos, in: Hermes 71 (1936), S. 151–170; Neudruck in: Carl Joachim Classen (Hrsg.), Die Sophistik, Darmstadt 1976, S. 425–451.
4 Vgl. in diesem Sinne Xen. Mem. 1,4,11–14; 4,3,3–12.
5 Vgl. Philod. Piet. PHerk 1077, fr. 19,519–541 (Text 70), PHerk 1428, fr. 19 (Text 72). Auf die Bedeutung von Text 72 hat bereits Albert Henrichs hingewiesen: Two Doxographical Notes: Democritus and Prodicus on Religion, in: Harvard Studies in Classical Philology 73 (1975), S. 93–123.
6 Vgl. Philod. Piet. PHerk 1428 col. 2,28–3,13 (Text 71); Sext. Emp. 9,50–52 (Text 75); Min. Fel. Oct. 21 (Text 76).
7 Gegen eine Deutung von Protagoras’ Homo-Mensura-Satzes – den Mayhew mit McKirahan als „emblem of the whole Sophistic Movement“ liest (S. XXIV, Anm. 10) – im Sinne eines absoluten ethischen Relativismus spricht nicht zuletzt die Kulturentstehungserzählung, die Platon Protagoras zuschreibt (Prot. 320c–322d) und in der die Bedeutung eines gemeinwohlorientierten Verhaltens betont wird. Für eine ähnliche Position vgl. auch Anom. Iambl. 6–7.

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