G. Hausmann: Mütterchen Wolga

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Titel
Mütterchen Wolga. Ein Fluss als Erinnerungsort vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert


Autor(en)
Hausmann, Guido
Reihe
Campus Historische Studien 50
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Campus Verlag
Anzahl Seiten
494 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietmar Wulff, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Theoretische Innovationen in der Geschichtswissenschaft erreichen die osteuropäische Geschichte oftmals mit beträchtlicher Verspätung. Gehören Erinnerung, kollektives Gedächtnis oder Erinnerungsorte spätestens seit Pierre Nora, also seit mehr als einem Vierteljahrhundert, zu den Leitbegriffen westlicher Geschichtswissenschaft, so gerieten diese Kategorien in Bezug auf die russische Geschichte erst im letzten Jahrzehnt in den Fokus. Guido Hausmann hat nun eine gelehrte Studie vorgelegt, die Russlands längsten, bekanntesten und populärsten Fluss, die Wolga, in beeindruckender Weise als Erinnerungsort erschließt.

Der Verfasser will ergründen, wie der Fluss zu einem komplexen Erinnerungsort wurde, wie die Meistererzählung von Mütterchen Wolga entstand, die der russischen Gesellschaft und ihrer Geschichte Sinn verlieh sowie für einzelne Bevölkerungsgruppen identitätsstiftend war. Die Monographie streift dabei eine Vielzahl von Themen: Dazu gehören geographische Gegebenheiten der russischen Geschichte, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte der mit der Wolga verbundenen Regionen, die religiösen und kulturellen Traditionen der dort siedelnden Völker und Nationalitäten sowie technische Aspekte von Schifffahrt und Handel. Dennoch handelt es sich um keine kleinteilige Darstellung – der Autor orientiert sich an komplexen, immer wiederkehrenden Forschungsfragen, die den Band zusammenhalten. Zunächst geht es in jedem der sechs Kapitel um das vorhandene und zugängliche Wissen über die Wolga sowie um die dem Fluss zugeschriebenen Bedeutungen, seitdem er nach der Eroberung der Khanate Kasan und Astrachan im 16. Jahrhundert zum russischen Staatsterritorium gehörte. Dann behandelt der Autor die Entwicklungen, Erweiterungen und Veränderungen dieses Wissens, dessen Ausnutzung und Inanspruchnahme. Drittens interessiert ihn die Frage, ob die Wolga durch ihre wirtschaftliche, soziale, kulturelle und politische Bedeutung und ihre Funktionen, durch all die Zuschreibungen und Identifikationsangebote zu einem Erinnerungsort wurde, der im 19. Jahrhundert sowohl imperialen als auch nationalistischen Deutungsmustern genügte. Weil sich die Darstellung auf diese Schwerpunkte konzentriert, bleibt ein roter Faden in der Darstellung stets erkennbar, obgleich es in jedem Kapitel um verschiedene Erinnerungsgemeinschaften geht, die zudem auf unterschiedlichen Zeitebenen agieren.

Die Nogaier an der unteren Wolga entwickelten den Fluss zu ihrem Erinnerungsort, weil er sie als Quelle bescheidenen Wohlstandes an bessere Zeiten erinnerte. Für das Nomadenvolk waren erfolgreiche Wolga-Überquerungen Gegenstand der Heldenverehrung und -verklärung, denn sie erforderten Mut und Tapferkeit. Freilich macht Hausmann zu Recht auf die Fragilität und Lückenhaftigkeit der Überlieferung aufmerksam und den unklaren Umstand, bis wann die Wirkungsmacht der Erinnerung nogaischer Eliten reichte. Überquerungen spielten auch bei der religiösen Aneignung des Flusses durch die Russen eine entscheidende Rolle. Die wundersame Rettung von Schiffbrüchigen bei der Überfahrt symbolisierte die Christianisierung bislang unberührter Territorien in vorpetrinischer Zeit. Wie Hausmann überzeugend am Beispiel des Tolgski-Klosters nahe der Stadt Jaroslawl nachweist, bildeten sich auf Grundlage dieser Überlieferung regionale Erinnerungsgemeinschaften, die teilweise bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts fortbestanden.

Zu den überzeugendsten Abschnitten der Monographie zählen diejenigen über die imperiale Aneignung der Wolga durch die Autokratie im 18. und 19. Jahrhundert. Mit profunder Literaturkenntnis – selbst abgelegene Titel der russischsprachigen Regionalgeschichtsschreibung entgingen der Aufmerksamkeit des Autors nicht – und unter Einbeziehung von Quellenmaterial aus zentralen und lokalen Archiven der Wolgaanrainerstädte zeichnet Hausmann plastisch nach, wie die Wolga Teil der imperialen Geographie des Zarenreiches wurde. Der Ausbau des Kanalsystems zwischen der Hauptstadt St. Petersburg und der Wolga, die geographische Erschließung des Flusses sowie seine wachsende Rolle als Wirtschaftsfaktor machten ihn zu einem verschiedene Landesteile verbindenden Verkehrsweg und nachhaltigen Symbol für die Macht des Russischen Imperiums. Die Wolga-Fahrt der Kaiserin Katharina II. im Jahr 1767 steht für die bewusste Ausnutzung dieses Symbols zur Stabilisierung der autokratischen Herrschaft.

Das Kapitel über die Treidler stellt die Wolga nicht, wie eigentlich zu erwarten wäre, in einen wirtschaftlichen oder sozialen Kontext, sondern betont deren kulturelle Bedeutung. Das Liedgut der Wolga-Treidler erlangte paradoxerweise in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als dieser hart arbeitende Berufsstand wegen des Aufkommens der Dampfschifffahrt im Aussterben begriffen war, einen gesamtrussischen Bekanntheitsgrad. Da die Lieder die Lebenswelten einfacher russischer Menschen beschrieben, ihre Sorgen und Nöte, aber auch die starke Naturverbundenheit der Treidler, enthielt diese spezifische Art von Wolga-Folklore ein Identifikationsangebot für eine gesamtrussische Erinnerungsgemeinschaft. Berührungspunkte zu anders motivierten, zum Beispiel orthodoxen Erinnerungsgemeinschaften bestanden indes nicht, wie der Verfasser einräumt. Kapitel über die Kosakenrebellion des Stenka Rasin um 1670 sowie über die Entwicklung der Dampfschifffahrt und deren Bedeutung für die Entwicklung der Wolga zum Erinnerungsort runden die Darstellung ab.

Das Fazit des Verfassers fällt differenziert und ausgewogen aus. Das Wolga-Narrativ bot sowohl imperiale als auch russisch-orthodoxe Identifikationsmöglichkeiten, später enthielt es auch ein zivilisatorisch-universalistisches Angebot. Anders formuliert, „in der Wolga [konnten] sowohl der Jordan als auch der Nil und sogar der Rhein gesehen und gefunden werden“ (S. 435). Diese Vielfalt machte die Wolga als Erinnerungsort attraktiv für die verschiedensten Gemeinschaften, sie weckte indes auch den Eindruck von Beliebigkeit. Hausmann argumentiert souverän. Er breitet nicht nur jene Quellen aus, die seine Ausgangsthese untermauern, sondern führt immer wieder auch Sachverhalte an, die nicht zu ihr passen oder ihr gar widersprechen. Dazu gehört der Umstand, dass die nichtrussischen Nationalitäten im Wolgaraum (mit Ausnahme der Nogaier) sich mit dem Fluss als Erinnerungsort kaum identifizierten, aber auch, dass er ungeachtet der zahlreichen Klöster an seinem Ufer kaum als Medium zur Darstellung orthodoxen Lebens taugte.

Es bleiben nur wenige Wünsche offen. Mehr hätte man gern über Erinnerungskonkurrenz im eigenen Land, durch andere russische bzw. ukrainische Flüsse wie etwa Don oder Dnjepr, erfahren. Zudem ruft das Thema geradezu nach Visualisierung und Benutzung bildlicher Quellen. Tatsächlich spielen sie nur eine untergeordnete Rolle in der umfangreichen Studie. Interessant wäre es auch gewesen zu erfahren, warum die Wolga im 20. Jahrhundert als Erinnerungsort eine so untergeordnete Rolle spielte. Allerdings hätte der Verfasser zur Klärung dieser Frage seinen Untersuchungszeitraum verlassen müssen. Diese Wünsche beeinträchtigen den Wert des Buches jedoch keineswegs. Guido Hausmann ist eine großartige „Flussgeschichte“ gelungen, die auf viele Jahre Bestand haben wird.

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