Cover
Titel
Die Kommissare. Vom Aufstieg und Fall der Brüsseler Karrieren. Eine Sammelbiographie der deutschen und österreichischen Kommissare seit 1958


Autor(en)
Rothacher, Albrecht
Erschienen
Baden-Baden 2012: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
254 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Henrich-Franke, Fachbereich 1/Geschichte, Universität Siegen

Kaum einer politischen Institution der Welt, die so viel Macht und Einfluss besitzt wie die Europäische Kommission, ist so wenig Beachtung seitens der historischen Forschung zugekommen. Würden sich in fast jedem Staat Europas ganze Bücherregale mit geschichtswissenschaftlicher Literatur zu den nationalen Regierungen, ihren Regierungsmitgliedern oder gar höheren Verwaltungsangestellten füllen lassen, so reicht für die Europäischen Kommission schon ein kleines Bücherbrett aus. Mit Ausnahme des von Michel Dumoulin herausgegebenen Sammelbandes zu den ersten 15 Jahren der Kommissionstätigkeit und einigen Kurzbiographien der frühen EWG Kommissare liegen kaum nennenswerte Werke zum Thema vor.

Insofern stößt Albrecht Rothacher in eine Lücke der historischen Forschung, wenn er eine Monographie über die Europäische Kommission auf den Markt bringt, die Einblicke in die Funktionsweise (und Stellung) eines zentralen Organs europäischer Politik geben soll, um so einen Anreiz zu geben, „für eine vertiefte Beschäftigung mit europäischer Politik.“ (S. 10) Es geht Rothacher weniger um die Kommission als Institution als vielmehr um ihre einzelnen Mitglieder, die Kommissare. Dabei fühlt sich Rothacher weder der wissenschaftlichen Objektivität noch der wissenschaftlichen Distanz verpflichtet. Im Gegenteil, das Buch verfolgt das durchaus ambivalente Ziel, einer gleichzeitig kritischen Würdigung deutscher und österreichischer Kommissare wie einer kritischen Betrachtung der deutschen und österreichischen Besetzungspolitik hochrangiger Positionen in der Europäischen Kommission. Einerseits beklagt er die Zweit- oder gar Drittklassigkeit der einzelnen Kommissare. Andererseits möchte er mit seinem Werk erreichen, dass ihnen „endlich ein Mindestmaß an Gerechtigkeit widerfährt und ihre Lebensleistung für Europa dem drohenden Vergessen, der damnatio memoriae, entrissen“ wird (S. 8). Getrieben wird Rothacher von der Beobachtung, dass die französischen ‚Europäer’ (Schuman, Monnet, Delors) als Ikonen der Europäischen Einigung verehrt werden, deutsche Persönlichkeiten hingegen nicht. Damit wirft Rothacher auch die Frage auf, warum Deutschland, das immer ein Hauptmotor der Europäischen Einigung war, seit den Tagen Walter Hallsteins eher schwaches Personal nach Brüssel entsandte. War dies die deutsche Zurückhaltung nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs? Oder war es die politische Kultur des föderalen Deutschlands?

Das Werk ist als eine Sammelbiografie aller deutschen und österreichischen Kommissare konzipiert. In einleitenden Kapiteln werden zunächst die Arbeitsweise der Kommission, ihre innere Struktur und die Karrieren von Kommissaren thematisiert. Danach werden die Biographien der 17 deutschen und österreichischen Kommissare abgehandelt, die in ihrer jeweiligen Länge und ihrem inhaltlichen Gehalt sehr unterschiedlich ausfallen. Mitunter werden auch Kurzvorstellungen der jeweiligen Kabinettschefs wie Ernst Albrechts eingeflochten, die eine durchaus interessante Ergänzung darstellen. Die einzelnen Biographien basieren in weiten Bereichen auf den persönlichen Eindrücken und Erinnerungen Rothachers, die er in seiner jahrelangen Tätigkeit bei der Europäischen Union sammelte. Am Ende des Werkes steht ein Fazit, in dem Rothacher über Auswege aus der von ihm konstatierten Führungskrise der Europäischen Union reflektiert. Er beschließt das Buch mit einem flammenden Plädoyer gegen eine schleichende Renationalisierung und für eine föderale Reform der Europäischen Union, „im Sinne einer vollen Parlamentarisierung einschließlich der Wahl der Europäischen Kommission als europäische Regierung mit Ressortverantwortung aus dem Kreis des Europäischen Parlaments.“ (S. 244) Es ist Rothacher „ungemein wichtig“ angesichts des aktuell „weithin diskreditierten, in die Sackgasse des Bürokratismus und der politischen Korrektheit geratenen Integrationskonzeptes diese entscheidende europäische Vision nicht aus den Augen zu verlieren.“ (S. 244f.)

In den Ausführungen zu den einzelnen Kommissaren bringt das Werk dem europahistorisch interessierten Leser eigentlich wenig Neues. Dies kann bei 17 Biographien auf 190 Seiten auch gar nicht erwartet werden. Insbesondere bei den bekannten Kommissaren wie Walter Hallstein oder Hans von der Groeben finden sich bei Rothacher keine Aspekte, die nicht schon an anderer Stelle geschrieben worden sind. Dennoch werden die einzelnen Kommissare dem Leser näher gebracht, vor allem was ihre menschlichen Stärken und Schwächen betrifft. Insofern kann die Sammelbiografie durchaus dazu beitragen, einzelne Kommissare in zukünftigen Forschungsarbeiten zur Geschichte der Europäischen Union präziser zu verorten. Positiv hervorzuheben sind die vom Autor eigentlich zur Einordnung vorgesehenen einleitenden Kapitel zur Funktionsweise der Europäischen Kommission. Hier streift Rothacher einen bisher von der historischen Forschung kaum thematisierten Bereich des Regierens in der Europäischen Union. Aufgrund seines Insiderwissens stellt Rothacher die Veränderungen im Führungsstil und der internen Arbeit der Kommission mitunter recht unterhaltsam und pointiert dar. Die wachsende Komplexität des Regierens in der Europäischen Union, das aufgrund der ausgesprochenen Multilateralität zunehmend unplanbarer und unstrukturierter wird, zeichnet Rothacher gut verständlich nach. Wiederholt eingestreute Anekdoten, wie der Ausspruch Karl Heinz Narjes, der mit Blick auf die unstrukturierte Arbeitsweise der Kommission nachfolgende Historikergenerationen als „arme Schweine“ bezeichnet, „die unsere Papiere später einmal alle sortieren müssen,“ (S. 239) machen die Lektüre unterhaltsam.

Störend wirkt der mitunter sehr polemisierende und wenig distanzierende Stil des Buches. Freilich machen die sehr persönlichen Wertungen Rothachers den Charme des Buches aus, dennoch wäre ein wenig mehr Objektivität angemessen gewesen. Leider schießt der Autor in seinem Streben nach ‚Gerechtigkeit’ in der Bewertung einzelner Kommissare des Öfteren über das Ziel hinaus. Die ständigen Bemühungen um eine ‚Ehrenrettung’ der einzelnen Kommissare sind ebenso störend wie diffamierende Äußerungen zu einzelnen Politikern. Aussagen wie: „Wenn Leute wie Joseph Fischer oder Guido Westerwelle Außenminister werden, dann ist die Personaldecke dünn,“ sind einfach unpassend und überflüssig. Wenn Rothacher dann sogar beklagt, dass den deutschen und österreichischen Kommissaren keine Denkmäler gesetzt wird oder er ihr Konterfei auf Sonderbriefmarken verewigt sehen möchte, wirkt das ganze eher skurril. Stattdessen hätte er mehr Energie darauf verwenden sollen, sich mit dem eigentlichen Ziel des Buches, das heißt einer kritischen Würdigung deutscher und österreichischer Kommissare, substanziell auseinanderzusetzen. Viele der einleitend aufgeworfenen Fragen bleiben am Ende der Lektüre unbeantwortet. Ein kritisches, ausgewogenes und reflektierendes Fazit bleibt Rothacher dem Leser schuldig.

Insgesamt bleibt beim Rezensenten ein sehr gemischter Eindruck bestehen. Einerseits offenbart Rothacher dem Leser eine interessante Perspektive auf eine Institution und deren Mitglieder, über die die historische Forschung noch zu wenige Kenntnisse besitzt. Andererseits schränken die genannten Kritikpunkte den Lesegenuss doch ein.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension