Titel
Wer ist hier Muslim?. Die Entwicklung eines islamischen Bewusstseins in Deutschland zwischen Selbstidentifikation und Fremdzuschreibung


Autor(en)
Spielhaus, Riem
Erschienen
Würzburg 2011: Ergon Verlag
Anzahl Seiten
225 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Birgit Rommelspacher, Alice Salomon Fachhochschule, Berlin

Spätestens seit dem 11. September 2001 stehen Muslime in Deutschland – wie auch in vielen anderen westlichen Staaten – unter öffentlicher Dauerbeobachtung. Kaum ein Tag vergeht, indem nicht irgendein Ereignis in der Welt als Anlass genommen wird, um Muslime öffentlich oder auch im privaten Gespräch aufzufordern, dazu Stellung zu nehmen. Wie aber wirkt sich das auf die als Muslime adressierten Menschen aus? Riem Spielhaus ist dieser Frage in ihrer Dissertation nachgegangen, indem sie davon betroffene Menschen gefragt hat, wie sie auf die Zumutung anhaltender öffentlicher Thematisierung reagieren.

Doch wer gehört eigentlich zu „den Muslimen“? Wer kann beanspruchen, für „die“ Muslime zu sprechen und in welchen Angelegenheiten? Die Mehrheitsgesellschaft hat darauf simple Antworten parat: Alle, die aus muslimisch geprägten Ländern kommen, sind Muslime. Diese sollten sich auch möglichst rasch auf eine gemeinsame Vertretung einigen, damit der deutsche Staat einen Verhandlungspartner hat. Solche Antworten täuschen eine Homogenität mithilfe kategorischer Simplifizierungen und einem radikalen Reduktionismus vor, indem „die“ Anderen auf „ihre“ Religion als bestimmendes Identifikationsmerkmal festlegt werden. Alleine darin liegt bereits ein gewaltträchtiges Moment. So wird dies auch von vielen der so Etikettierten empfunden. Das ist ein Ergebnis der Untersuchung, bei der Spielhaus Interviews mit Protagonisten des muslimischen Lebens in Deutschland geführt hat, also mit Menschen, die in der politischen und medialen Debatte präsent sind und dort als Muslime wahrgenommen werden. Darüberhinaus hat sie einschlägige Texte in vier überregionalen Tageszeitungen über einen Zeitraum von vier Jahren analysiert sowie eigene Beobachtungen bei verschiedenen Veranstaltungen ausgewertet.

Die pauschale Etikettierung als Muslim ist verletzend, weil nie nach dem eigenen religiösen Selbstverständnis gefragt wurde und zudem unterstellt wird, dass das angebliche Muslimisch-Sein die eigene Identität wesentlich bestimmt. Mit der Einordnung in eine feste Kategorie geht eine Kollektivhaft in Bezug auf alles einher, was irgendwie mit „dem“ Islam in Verbindung gebracht wird. Viele, die sich bisher nicht als Muslime verstanden haben, werden so zu einer Stellungnahme gedrängt. Die Dominanz der Negativberichterstattung erzeugt das Gefühl, permanent unter Verdacht zu stehen, sich verteidigen und für die „eigene“ Religion entschuldigen zu müssen – ohne zuvor mit ihr besonders identifiziert gewesen zu sein. Oft ist der einzige Bezug zum Islam die eigene Sozialisation in einem mehr oder weniger stark muslimisch geprägten Milieu. Nun kehren die so Adressierten in ihrer Erinnerung dahin zurück; die oft groben Diffamierungen führen dazu, sich mit Menschen der „eigenen“ Herkunft zu solidarisieren. Denn, wie etwa Lale Agkün, ehemalige SPD Bundestagsabgeordnete, sagt, mit jedem Angriff wächst die Solidarität. So werden auch Menschen mit säkularem Selbstverständnis zu Muslimen gemacht.

Mit ihrer Solidarisierung wehren sie sich zugleich auch gegen Vereinnahmungen, die sie zur Ausnahme erklären wollen, da sie, wie Angehörige der Mehrheitsgesellschaft oft betonen, sich ja angepasst und verwestlicht hätten und „eigentlich“ keine Muslime mehr seien. Der Preis für eine solche Eingemeindung wäre für diese „nichtmuslimischen Muslime“ nicht nur sich von den Menschen distanzieren zu müssen, mit denen sie aufgewachsen sind, sondern zudem auch die Spaltung in „gute“ und „böse“ Muslime mit zu tragen. Die Kehrseite der Vereinnahmung und „Ent-Islamisierung“ der „westlichen“ Muslime ist die Exotisierung der „authentischen“ Muslime, die sich vermeintlich vor allem durch religiösen Fanatismus und Traditionalismus auszeichnen. Man würde also diese Klischees bestätigen, würde man als säkularer, moderner oder wie auch immer verstandener „westlicher“ Muslim den Verführungen einer Eingemeindung als „Ausnahme“ nachgeben.

Aber es sind nicht nur sich als säkular oder atheistisch verstehende „Muslime“, die in eine quasireligiöse Rolle gedrängt werden, sondern auch diejenigen, die sich selbst als religiös verstehen, werden zu neuen Auseinandersetzungen genötigt. Das hat unter anderem den Effekt, dass sie sich mit ihrem Glauben intensiver beschäftigen müssen, um dann auch in der Lage zu sein, sich gegen die Arroganz und Unkenntnis der öffentlichen Diskurse wehren zu können. Die Diskriminierung führt dazu, wie Spielhaus zeigt, dass viele, die sich vorher nur partiell mit ihrer Religion identifiziert haben, dies jetzt nun deutlich stärker tun.

In jedem Fall wird wie auch immer muslimischen „Muslimen“ eine Identitätsdebatte aufgedrängt. Sie werden in ein „Wir“ hinein gezwungen. Dieser Zwang macht aber, und das ist sicherlich der spannendste Aspekt in Spielhaus’ Analyse, auch neue Subjektpositionen möglich. Er zwingt zur Stellungnahme und ist damit auch Anlass und Ermöglichung von Selbstpositionierung und gesellschaftlicher Einflussnahme. Die Paradoxie liegt also darin, dass je mehr „die“ Muslime durch Diskreditierungen an den Rand gedrängt werden sollen, desto mehr werden sie in der Gesellschaft sichtbar und können diese Position auch für sich nutzen. Im Rekurs auf Judith Butler spricht Spielhaus von der „ermächtigenden Kraft diskursiver Verletzungen“.

Allerdings sollte die Chance der Selbstpositionierung nicht über den alltäglichen Kampf hinwegtäuschen, den es kostet, sich ständig gegen einseitige und falsche Zuschreibungen wehren zu müssen. Vor allem kann dies auch die Entwicklung und produktive Nutzung anderer Identitätsbezüge überschatten. Das gilt gerade auch für Menschen, die etwa als PolitikerInnen oder JournalistInnen in der Öffentlichkeit stehen und in der Regel sehr stark mit ihrer Profession identifiziert sind. Die Übernahme von Verantwortung im öffentlichen Diskurs birgt für die einzelnen ProtagonistInnen auch Gefahren: Zum einen, werden sie nun als SprecherInnen wahrgenommen und damit für das gesamte Geschehen rund um das Muslim-Sein verantwortlich gemacht; zum anderen ordnen sie sich damit selbst in die vorgegebenen Kategorisierungen als Muslime ein, selbst wenn ihnen diese Identitätsdimension unter Umständen nicht besonders wichtig ist. Zuschreibungen werden so bis zu einem gewissen Grad bestätigt – eine Möglichkeit, dieser Spannung zu entgehen, gibt es nicht, da sie der Dialektik von Fremdzuschreibung und Selbstidentifizierung notwendig innewohnt. Man kann nur hoffen, dass die Kraft der Transformation, die sich durch die Korrektur des öffentlichen Bildes entfaltet, größer ist, als die Kraft der Retardation, die sie in eingefahrenen Wahrnehmungsmustern festhalten möchte. Spielhaus konstatiert jedenfalls, dass es inzwischen eine recht vielstimmige öffentliche Präsenz von Muslimen unterschiedlichster Positionen und Professionen im öffentlichen Diskurs gibt, die die Chance der öffentlichen Wahrnehmung in ihrem Sinn zu nutzen wissen. Entscheidend war dabei wohl, dass Zuschreibungen nicht länger ignoriert, sondern aufgegriffen und umgedeutet wurden – und das mit wachsendem Selbstbewusstsein; etwa nach dem Motto eines stolz getragenen T-Shirts mit dem Aufdruck: „Don’t panic, I’m islamic“.

Aber es gibt auch Prozesse der Selbstpositionierung, die nicht alleine als Reaktion auf äußere Zuschreibungen zu verstehen, sondern Veränderungen in der eigenen Lebenswirklichkeit geschuldet sind. So hat das teilweise recht enge Zusammenleben von Muslimen unterschiedlichster Herkunftsregionen etwa in Großstädten eine Verständigung notwendig gemacht. Dies war nur möglich, indem exklusivistische Behauptungen abgelegt und kulturelle Eigenarten gegenüber islamischen Grundsätzen abgewogen wurden. Das wird deutlich am Beispiel der Schura Hamburg, eine der ersten Moscheezusammenschlüsse in Deutschland, auf die Spielhaus in ihrer Analyse ausführlich eingeht. Dieser Zusammenschluss entstand aus einer sich immer intensiver entwickelnden Zusammenarbeit verschiedener Moscheegemeinden, die zunehmend die Notwendigkeit sahen, ihre eigenen Interessen auch öffentlich zu vertreten und politisch durchzusetzen. Die anfänglich auf bescheidener Basis selbstorganisierten Gemeinden waren zunächst sehr introvertiert. Gemeinsame Nutzung von Moscheeräumen, aber auch gemeinsame Hilfsaktionen im Rahmen des Bosnienkrieges verstärkten wechselseitige Kontakte. Schließlich führten Konflikte mit der Mehrheitsgesellschaft zur Notwendigkeit, in die Gesellschaft hinein zu gehen. Aber: „Politik machen und Dialoge führen, das kann keiner alleine“, so eine Interviewpartnerin aus der Moscheegemeinde. Immer mehr Themen standen zur Verhandlung an, wie etwa der muslimische Religionsunterricht, das Bestattungswesen oder die Imamausbildung. Mit den gestiegenen Anforderungen gingen auch weitere Differenzierungen und Professionalisierungen einher. Die Moscheegemeinden bildeten nun zum Teil übergreifende Ausschüsse für Jugendliche, Frauen, wie auch für innerislamische, interreligiöse und interkulturelle Dialoge und Öffentlichkeitsarbeit. Insofern ist auch dies Beispiel der Schura Hamburg exemplarisch für die Entwicklung eines muslimischen Selbstbewusstseins im Widerstreit von „Selbstidentifikation und Fremdzuschreibung“ – hier nun allerdings auf der verbandlichen Ebene.

Das Buch von Spielhaus war überfällig. Nach all den unzähligen „Islamdiskussionen“ war es Zeit nun auch einmal zu fragen, wie das die so als Muslime Angesprochenen selbst erleben. Es gibt zwar inzwischen eine Reihe von Untersuchungen zu Identifikationsprozessen etwa bei als muslimisch adressierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen, aber eben nicht aus der Perspektive derer, die die Chance haben, diese Diskurse auch selbst mit zu bestimmen. Mit dieser Untersuchung werden nicht nur unterschiedliche Prozesse der Selbstpositionierung in der Auseinandersetzung mit Fremdzuschreibungen deutlich, sondern generelle Dynamiken von öffentlichen Diskursen. Insofern ist dies ein sehr aufschlussreiches und anregendes Buch. Auch wenn es zuweilen etwas an Stringenz mangelt und manche Positionen deutlicher hätten zusammengefasst werden können, ist das Buch sehr gut zu lesen. Es gibt interessante Einblicke in die diskursiven Prozesse, die eine „neue“ muslimischen Gemeinschaft in Deutschland in aller ihrer Heterogenität konstituieren und hat deshalb auch völlig zurecht 2010 den Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien erhalten.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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