Titel
Demokratie als Lebensform. Genese, Entwicklung und Relevanz der Sozialen Gruppenarbeit


Autor(en)
Gebhard, Stefan
Erschienen
Anzahl Seiten
349 S.
Preis
€ 88,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Steffi Koslowski, Reinbek

Die Soziale Gruppenarbeit gilt neben der Einzelfallhilfe und der Gemeinwesenarbeit als eine der drei klassischen Methoden der Sozialen Arbeit. Bis auf wenige Ausnahmen1 ist die Forschungssituation hinsichtlich der Entwicklung der Sozialen Gruppenarbeit in Deutschland sowie mit Blick auf internationale Einflussfaktoren als ungenügend zu bewerten. Auf dieses Desiderat reagiert Gebhard mit der vorliegenden Studie. Das Ziel seiner Veröffentlichung, die als Dissertation 2006 an der Universität Zürich eingereicht wurde, ist die Analyse der Methode der Sozialen Gruppenarbeit, die in ihrer historischen Entwicklung in Deutschland dargestellt, in ihren internationalen Bezügen verortet und in ihrer gegenwärtigen Ausprägung untersucht und bewertet werden soll. Dieser Intention entsprechend ist die Arbeit in drei Bereiche gegliedert: Nachdem zunächst die Geschichte der Sozialen Gruppenarbeit rekonstruiert wird, beleuchtet der zweite Teil die gegenwärtige Situation und deren Position im System der Sozialen Arbeit. Abschließend wird ein "alternativer "Zugang“ zum Forschungsgegenstand vorgestellt.

Orientiert an und geprägt durch den Pragmatismus, so die Bestandsaufnahme Gebhards, hat sich die Gruppenarbeit in den Vereinigten Staaten von Amerika seit den 1920er-Jahren als Methode der demokratischen Erziehung etabliert (S. 7). Damit verbunden war ein Konzept von Gesellschaft, das Demokratie nicht nur als Regierungs-, sondern vielmehr als eine Lebensform begreift. Aufgrund bestehender Ähnlichkeiten und Berührungspunkte zur Sozialarbeit (ebd.) haben sich in Folge beide Felder einander angenähert, so dass die group work zur Sozialen Gruppenarbeit wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Methode dann im Rahmen der Re-education in Deutschland eingesetzt und zum festen Bestandteil der Sozialarbeit. Im Laufe ihrer deutschen Rezeption hat sie eine wesentliche Transformation durchlaufen, aufgrund derer aus dem einstigen Hilfsmittel im Dienste der Demokratie eine therapeutische Dienstleistung entstanden ist (S. 8). Als Gründe dieser Entwicklung nennt Gebhard zum einen eine allgemeingesellschaftliche Tendenz zur Psychologisierung unterschiedlicher Lebensbereiche und zum anderen die strukturelle Konzeption des Bildungs- und Sozialwesens entlang von Selektionskriterien (S. 301f.). Die für demokratische Gesellschaftsentwicklung essentielle Bedingung und Wertschätzung einer Pluralität der Lebensformen wurde so verhindert und zugunsten einer vermeintlichen Homogenität der Lebenspraxen geopfert (S. 302). Soziale Arbeit, so Gebhard, orientiere sich grundlegend am Begriff einer "individuelle[n] Hilfe in Notlagen" und versuche, diese im Namen gesellschaftlicher Normalität zu harmonisieren und auszugleichen. Demokratie verstanden als soziale Größe und Lebensform, so konstatiert Gebhard abschließend, "spielte dabei keine Rolle" (ebd.), was sich seiner Ansicht nach in der aktuellen Situation und Ausrichtung der Sozialen Gruppenarbeit widerspiegelt. Gebhards alternativer Zugang (Kap. 4) untersucht den Zusammenhang zwischen der Arbeitsform und der zugrundeliegenden Philosophie. Dabei geht er der Frage nach, wie sich dieser effektiv gestalten lässt und welche Bedeutung ihm heute beigemessen werden kann (S. 301).

Hinsichtlich der von Gebhard vorgenommenen historischen Verortung fällt auf, dass er die Gruppenarbeit im Kontext des Pragmatismus als genuin angloamerikanisches Konzept (S. 10) beschreibt. Gruppenarbeit als unterrichtliche Sozial- und Organisationsform war jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur eine amerikanische Forderung, wie unter anderem in Roger Cousinets (1881-1973) Konzept der "travail libre par groupe" sehr deutlich zum Ausdruck kommt.2 Sicherlich kann, wie Gebhard ausführt, keine direkte Verbindung zwischen reform- und gruppenpädagogischen Ansätzen dieser Zeit gezogen werden (S. 167); eine alleinige Fokussierung des angloamerikanischen Kontextes jedoch wird dem Untersuchungsgegenstand nicht gerecht.

Die Argumentationslinien sind teilweise unübersichtlich angelegt und nicht leicht nachvollziehbar. So geht Gebhard zum Beispiel in seiner Darstellung der Geschichte der Gruppenarbeit (Kap. 1.3) zunächst ausschließlich auf Mary Parker Folletts "The New State. Group Organization – The Solution of Popular Government" (1918) ein, bevor er einzelne Beispiele zur Institutionalisierung (zum Beispiel in Form der 1936 gegründeten "National Association for the Study of Group Work") und zur Inkorporation der Gruppenarbeit in das Feld der Sozialarbeit dokumentiert. Der in weiten Teilen reproduktive Charakter der Darstellung erschwert nicht nur das Lesen, sondern steht einer systematisch-historischen Rekonstruktion, die unterschiedliche Handlungsfelder und Akteure beleuchtet, insgesamt entgegen.

Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn im Rahmen einer Thematisierung historischer Anschlussmöglichkeiten und ihrer Defizite diejenigen Bewegungen herangezogen werden, deren Analogien zur Gruppenarbeit offensichtlich sind (S. 161): Jugendbewegung und Reformpädagogik. Es fällt auf, dass Gebhard in diesem Zusammenhang die aktuelle Forschung wenig bis gar nicht berücksichtigt. Wenn er zum Beispiel – unter Verweis auf Carl Wolfgang Müller3 – Reformpädagogik als Bewegung definiert, die zeitlich zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und der Phase der ersten formaldemokratischen Republik auf deutschem Boden, also den 1920er-Jahren zu verorten ist (S. 164), dann klammert er neuere Erkenntnisse, die die Perennität des Phänomens betonen, völlig aus.4 Auch seine Feststellung, dass mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933 sämtliche Bestrebungen dieser Art zunichte gemacht wurden (S. 167), hält vorliegenden Forschungsergebnissen nicht stand 5.

Abschließend ist zu konstatieren, dass Gebhards Untersuchung der Entstehung und Entwicklung der Sozialen Gruppenarbeit in ihrem historischen Kontext wichtige Zusammenhänge beschreibt und damit ein bislang bestehendes Forschungsdesiderat bearbeitet. Insbesondere die Ausführungen zur Entwicklung der Sozialen Gruppenarbeit in Deutschland nach 1945 sowie zur aktuellen Situation im System der Sozialen Arbeit sind hier zu würdigen. Die Form der Darstellung ist jedoch insgesamt wenig systematisch.

Anmerkungen:
1 Vgl. Gisela Konopka, Soziale Gruppenarbeit: Ein helfender Prozess, Weinheim 2000 oder Carl Wolfgang Müller, Wie Helfen zum Beruf wurde: Eine Methodengeschichte der Sozialarbeit, Bd. 2, 1945-1990, Weinheim 1992.
2 Ehrenhard Skiera, Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart: Eine kritische Einführung, München 2003, S. 388.
3 Carl Wolfgang Müller, Gruppenpädagogik: Auswahl an Schriften und Dokumenten, Weinheim 1970.
4 Jürgen Oelkers, Reformpädagogik: Eine kritische Dogmengeschichte, 4. Aufl. Weinheim 2005.
5 Vgl. z.B. Ullrich Amlung u.a. (Hrsg.), „Die alte Schule überwinden“: Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1993.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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