D. Bellingradt: Flugpublizistik um 1700

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Titel
Flugpublizistik und Öffentlichkeit um 1700. Dynamiken, Akteure und Strukturen im urbanen Raum des Alten Reiches


Autor(en)
Bellingradt, Daniel
Reihe
Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 26
Erschienen
Stuttgart 2011: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
548 S.
Preis
€ 72,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kai Lohsträter, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg

Das 17. Jahrhundert ist in den letzten Jahren verstärkt als Schlüsselzeitraum mediengeschichtlicher und mithin gesellschaftlicher Transformationen der Frühen Neuzeit in den Blick der historischen Forschung gerückt. Besondere Aufmerksamkeit fand dabei die Entfaltung der periodischen Presse (Zeitungen, Zeitschriften und ähnliches), durch die nicht nur die publizistische Dokumentation des Weltgeschehens eine in Europa bis dato unbekannte quantitative Dimension erreichte, sondern die gleichzeitig auch den Boden für die Etablierung neuer Formen des kritischen Räsonnements und einer medialen Öffentlichkeit bereitete1, ohne die die Aufklärungsbewegung als gesellschaftliche Massenbewegung nicht denkbar gewesen wäre. Daniel Bellingradts Dissertation setzt genau in dieser Phase des kommunikationsgeschichtlichen Wandels ein. Allerdings liegt sein Fokus nicht auf den Periodika, sondern auf dem gedruckten Gelegenheitsschrifttum, das in seiner massenhaften bibliothekarischen und archivalischen Überlieferung ein beredtes Zeugnis für den medialen Verdichtungsprozess liefert.

Fragen zur Rolle der „fliegenden Blätter“ (S. 11) im frühneuzeitlichen Medienverbund fanden bisher allenfalls am Rande Beachtung – beispielsweise in den ereignisbezogenen Studien zur Reformation, zum Dreißigjährigen Krieg oder zur Französischen Revolution. Bis heute gibt es weder eine systematische Erschließung dieser Drucke noch eine Einigung über die Binnendifferenzierung des bei näherer Betrachtung ausgesprochen heterogenen Quellenkorpus aus „Flugblättern“, „Flugschriften“, „Broschüren“, „Pamphleten“ oder anders benannten Erscheinungsformen.2 Auf eine Gattungsdebatte lässt sich Bellingradt mit dem zusammenfassenden Terminus der „Flugpublizistik“ allerdings nicht ein (S. 12-15). Im Zentrum seiner Untersuchung steht die Frage nach der Bedeutung der Gelegenheitsdrucke für die (politische) Öffentlichkeit in den urbanen Gemeinwesen des Alten Reiches im ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert (S. 25f., 32f., 371).

Für die Studie wurden mit den Reichsstädten Köln und Hamburg sowie den beiden urbanen Zentren Kursachsens, der Messestadt Leipzig und der Residenzstadt Dresden, vier großstädtische Milieus ausgewählt. Die ersten drei zählten zudem zu den frühneuzeitlichen Medienzentren; um 1700 gab es allein in Köln 20 Druckwerkstätten (S. 99). Es handelt sich insofern um ausgesprochen interessante kommunikationsgeschichtliche Hochburgen. Allerdings liegt genau in dieser engen Selektion auch eine verpasste Chance. Denn Vergleiche der Ergebnisse mit Mittel- oder Kleinstädten, die die urbane Landschaft in Deutschland in der Frühen Neuzeit prägten, oder gar mit ländlichen Räumen bleiben so zukünftigen Untersuchungen überlassen. Es ist davon auszugehen, dass sich dabei größere Differenzen zeigen als in der Gegenüberstellung der katholischen Reichsstadt Köln mit den lutherischen Gemeinwesen, obgleich Bellingradt recht hat, wenn er die Flugdrucke aus dem katholischen Milieu als eine „bedeutende Leerstelle der Forschung“ (S. 36) kennzeichnet.

Das Herzstück der Arbeit bilden sechs mikrohistorische Analysen, in denen die flugpublizistische Begleitmusik vornehmlich politischer oder inner- und interkonfessioneller Konflikte der 1660er- bis 1720er-Jahre exemplarisch untersucht wird. Es geht sowohl um Auseinandersetzungen um die reichsstädtische Unabhängigkeit (Köln), um innerstädtische Machtkonfrontationen (Köln, Hamburg), Streitigkeiten zwischen protestantischen Frömmigkeitsbewegungen (vor allem Pietismus) und lutherischer Orthodoxie (Hamburg) sowie zwischen Protestantismus und Katholizismus (Dresden) als auch um den medialen Umgang mit Verbrechen (Leipzig, Dresden). In den detaillierten Darstellungen gelingt es Bellingradt, ein aufschlussreiches und in weiten Teilen überzeugendes Bild der flugpublizistischen (Konflikt-)Dynamiken und ihrer beeinflussenden Elemente (Ehre, Ökonomie, Meinungsbeeinflussung etc.) zu zeichnen. Die Nutzung von „fliegenden Blättern“ war in Köln, aber auch in den anderen untersuchten Städten eine „bekannte und effektive Handlungsoption“, die häufig strategisch „zur Beschleunigung des eigenen Anliegens“ (S. 124) genutzt wurde. Insbesondere für Hamburg konstatiert der Verfasser um die Wende zum 18. Jahrhundert bereits eine höchst entwickelte mediale Öffentlichkeit (S. 250), wobei sowohl die städtischen Eliten wie auch ihre Kritiker die Flugpublizistik als Meinungsverstärker oder zumindest als „Impulsgeber“ funktionalisierten (S. 254). Das Ergebnis unterstreicht die neuere Forschungstendenz, den Strukturwandel der Öffentlichkeit ins 17. Jahrhundert vorzuverlegen (S. 257, 367, 371).

Eine damit zusammenhängende weitere Stärke der Arbeit ist der konsequente Ansatz, dem medienspezifischen Tunnelblick durch die Einbeziehung der zeitgenössischen Multi- und Intermedialität entgegenzutreten. Dazu gehört die gleichzeitige Berücksichtigung von textlichen und bildlichen Kommunikationsstrategien, der Korrelationen zwischen Flugdrucken und anderen Verbreitungsmedien (Periodika, zeitgeschichtliche Literatur u.ä.) sowie des Verhältnisses zu den traditionellen Formen der oralen Kommunikation. Gerade an dem letztgenannten Punkt tritt die Flugpublizistik deutlich als Bindeglied des frühneuzeitlichen Transformationsprozesses von der Präsenzkommunikation zur verbreitungsmedialen Abwesenheitskommunikation3 in den Blick (S. 255ff., 371, 373). Dies ist ein bemerkenswertes empirisches Resultat der Arbeit, wenngleich die vom Verfasser intendierte kritische Zusammenführung mit Rudolf Schlögls systemtheoretisch inspirierter mediengeschichtlicher Lesart der Frühen Neuzeit Mängel in der theoretischen Reflexion aufweist (zum Beispiel S. 11, 15, 27f.).

Ergänzt werden die mikrohistorischen Analysen durch exkursartige Ausführungen zu den Akteuren sowie den strukturellen Rahmenbedingungen der Flugpublizistik. Im Kölner Kapitel findet man eine „Topographie der Offizinen“ (S. 96-100). Ins Hamburger Kapitel sind hingegen eine Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Begriff des „Pasquills“ (S. 236-242) und seiner Bedeutung in der medialen Auseinandersetzung sowie eine Untersuchung zu Autoren, Druckern bzw. Verlegern, Distribuenten und Rezipienten der Flugpublizistik (S. 242-250) integriert. Mit Blick auf Kursachsen spürt Bellingradt ferner der Frage nach dem Verhältnis von „alltäglicher Zensurnorm und alltäglicher Zensurpraxis“ nach (S. 259-286, hier 260). All diese Aspekte gehören zu den größeren Lücken der mediengeschichtlichen Forschung, und die Beschäftigung mit ihnen ist entsprechend begrüßenswert. Gleichwohl bleiben die Ergebnisse hierzu letztlich begrenzt. Größere blinde Flecken weist sowohl die Sozialstrukturanalyse der meist anonymen oder pseudonymen Verfasser (S. 255f., 445-450) als auch die Untersuchung des Publikums der Drucke auf. Denn in den meisten Fällen sind nicht einmal die Auflagenzahlen bekannt, so dass Bellingradt auf begründete Mutmaßungen angewiesen bleibt (S. 214, 245-251).

Neben der Quellenproblematik erscheint es vor allem in diesem Zusammenhang als konzeptionelle Schwäche, dass das Korpus der Flugpublizistik weitgehend undifferenziert behandelt wird. Anzunehmen ist, dass sich das Publikum gelehrter und mitunter in Latein und Französisch verfasster Streitschriften von dem deutschsprachiger und eventuell bebildeter Nachrichtenpublikationen unterschied. Eine andere strukturelle Schwäche der Arbeit liegt in der fragmentarischen Vergleichsperspektive. Dies gilt insbesondere für die Analyse der Zensurpraxis, die in der mediengeschichtlichen Forschung bislang weitgehend ausgespart wurde. Umso bedauerlicher ist, dass die interessanten Ergebnisse zur Kommunikationskontrolle in Kursachsen nicht systematisch mit der reichsstädtischen Situation in Beziehung gesetzt werden.

Dennoch oder gerade wegen der offen bleibenden Fragen ist Bellingradts Dissertation eine anregende und lesenswerte Arbeit, die nachdrücklich zu einer breiter angelegten frühneuzeitlichen Mediengeschichte und vor allem zur stärkeren Berücksichtigung der „fliegenden Blätter“ auffordert. An vielen Stellen legt der Verfasser den Finger in die Wunde. Angesichts des Spektrums der Erscheinungsformen dürfte eine neue differenzierende Gattungsdebatte unausweichlich sein – möglicherweise aber eher funktional als formal ausgerichtet. Dies erfordert allerdings auch eine stärkere theoretische Fundierung. Ferner führt die Studie exemplarisch vor, wie fruchtbar der intermediale Ansatz für das Verständnis frühneuzeitlicher Kommunikationsformen ist. Des Weiteren unterstreicht die Arbeit die Notwendigkeit einer intensiveren Hinwendung zu den Quellen. Viele grundlegende Aspekte lassen sich anders kaum erhellen. Dass dies mit erheblichem Rechercheaufwand verbunden ist, merkt man der Dissertation an – ebenso allerdings, dass die Thematik noch viele weitere Studien verträgt. Es handelt sich um eine „Pionierarbeit“ (S. 378) zu ausgewählten mediengeschichtlichen Pionierstädten. Ob die These, dass das gedruckte Wort um 1700 in den urbanen Räumen des Alten Reiches „nahezu eine Alltagserscheinung“ (S. 369) war, auch für die peripheren Städte gilt und wie die gesamtgesellschaftliche Konsolidierung aussah, bleibt ein spannendes Problem der Erforschung der Medientransformationen der Frühen Neuzeit.

Anmerkungen:
1 Volker Bauer / Holger Böning (Hrsg.), Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert. Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit, Bremen 2011; Rudolf Schlögl, Politik beobachten. Öffentlichkeit und Medien in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 25 (2008), S. 581-616.
2 Andreas Würgler, Medien in der Frühen Neuzeit, München 2009, S. 100f.; Ulrich Rosseaux, Flugschriften und Flugblätter im Mediensystem des Alten Reiches, in: Johannes Arndt / Esther-Beate Körber (Hrsg.), Das Mediensystem im Alten Reich in der Frühen Neuzeit (1600-1750), Göttingen 2010, S. 99-114.
3 Rudolf Schlögl, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 155-224.

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