Titel
Schulgeschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis in die Gegenwart


Autor(en)
Geißler, Gert
Erschienen
Frankfurt am Main 2011: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
1003 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Kerrin Klinger, Institut für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Sucht man in Bibliothekskatalogen unter den Stichworten ‚deutsche Schulgeschichte‘, so sind zwar unzählige Sammelbände und Einzeldarstellungen mit diesem Begriffspaar verschlagwortet, doch als Titelbestandteile finden sie sich eher selten. Schon allein deshalb gebührt der „Schulgeschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart“ des Berliner Bildungsforschers Gert Geißler Beachtung. Geißler schildert in seiner Monographie die historische Entwicklung des deutschen Bildungswesens bis in die 1990er-Jahre mit einem Ausblick ins neue Jahrtausend. Geißler schlägt in diesem äußerst umfangreichen, überlegt gestalteten und abwechslungsreich bebilderten Werk, das im vergangenen Jahr im Peter Lang Verlag erschien, einen Bogen von der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft bis ins wiedervereinigte Deutschland des 21. Jahrhunderts. Dabei werden die klassischen Etappen von Renaissance und Reformation, über die preußischen Schulreformen des frühen 19. Jahrhunderts, Kaiserreich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus bis zu den beiden deutschen Staaten nach 1945 absolviert. Die jüngste Geschichte vor und nach dem „Beitritt“ wird besonders in Hinblick auf die ostseitigen Entwicklungen geschildert – was mit den Forschungsinteressen, die Geißler in den vergangenen Jahrzehnten verfolgte, korrespondiert. Schulgeschichte wird hier als eine Historie politischer Einflussnahmen rekonstruiert, wobei es darum gehe, die „komplexen Verhältnisse, in denen Bildungspolitik heute steht“ (Vorbemerkung), zu erklären. In diesem Sinne blickt Geißler zurück und fügt in einem teleologischen Zugriff schulgeschichtliche Entwicklungsschritte des deutschen Sprachraumes in einer großen Erzählung zusammen, „die sich hauptsächlich ereignis- und sozialgeschichtlich an die Genese von Unterrichtsinstitutionen hält“ (ebd.).

Die ‚vorpreußische‘ Zeit wird auf knapp 100 Seiten in geläufiger Weise summarisch abgehandelt. Mit dem Begriff „deutsch“ und der Zitation verschiedener Beispiele für schulpolitische Verordnungen mit geographisch unterschiedlicher Herkunft wird eine Einheitlichkeit suggeriert, wie sie nur zur erklärenden Unterfütterung aktueller Gegebenheiten sinnvoll erscheinen kann. An dieser Stelle zeigt sich eine der Schwierigkeiten, vor denen die Autoren derartiger Gesamtdarstellungen grundsätzlich stehen. Gerade die mannigfaltigen Einflussnahmen, denen Schulen und schulähnliche Institutionen vor der Reichseinigung in den vielen, mitunter kaum vergleichbaren deutschen Einzelstaaten ausgesetzt waren, sind in ihrer Komplexität nur schwer zu fassen. Die Herausgeber von „Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung“1 entledigten sich dieser Problematik, indem sie mit ihrer Schilderung erst um 1800 einsetzen und sich auf die von Preußen ausgehenden Impulse konzentrieren. Auch Geißler wird mit der Wende zum 19. Jahrhundert ausführlicher, wobei er den Detaillierungsgrad seiner Ausführungen bis zur Gegenwart weiter steigert. Dies spiegelt sich auch in der stärkeren inhaltlichen Untergliederung der Darstellung wider. So werden die institutionellen, politischen und sozialen Verhältnisse, in denen Kinder sozialisiert wurden, stärker miteinbezogen. Als Ursache für den Erfolg des deutschen Bildungswesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im internationalen Vergleich betrachtet Geißler – hier hat er vor allem Preußen im Blick – den starken Führungsanspruch des Staates und die damit einhergehende Einschränkung privater Initiativen. Auch in der Kaiserzeit habe das deutsche Schul- und Bildungswesen an der internationalen Spitze gestanden. Diese Position sei Resultat der Qualität staatlicher Aufsicht und der weitreichenden Alphabetisierung gewesen, aber vor allem der hohen Standards der höheren Bildungseinrichtungen. Hier verweist Geißler vorsichtig auf den Aspekt der Selbstinszenierung der deutschen Pädagogen, konstatiert aber, diese Ansicht sei vor dem Ersten Weltkrieg auch von Sachverständigen des Auslandes geäußert worden. Die Zeit der Weimarer Republik wird als eine Übungsphase charakterisiert, in der sowohl Ideen der Vergangenheit als auch Neuerungen erprobt und so Grundsteine späterer, auch problematischer Entwicklungen gelegt worden seien. Geißler resümiert, dass das Schulwesen zwar vielfältiger, aber aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Lage auch uneinheitlich gesteuert und mangelhaft ausgestattet gewesen sei. Das Kapitel zur weitreichend ideologisch gleichgeschalteten und gleichschaltenden Schule während des Nationalsozialismus findet sich etwa in der Mitte des Buches. Die Zeit nach 1945 erfährt in der Studie die größte Aufmerksamkeit. Besonders in der Gegenüberstellung von ost- und westdeutschem Bildungssystem gelingt Geißler eine fundierte und differenzierende Darstellung. Er vermeidet einen sentimentalen Unterton und schildert die deutsche Schulgeschichte als eine offene Entwicklung. Gleichwohl schwingt ein impliziter Bewertungsmaßstab mit: Als Richtwerte lassen sich etwa Schulabgängerzahlen und die soziale Durchlässigkeit des Bildungswesens ausmachen. Eine größtmögliche soziale Gleichheit zu schaffen, hatte sich gerade das Bildungssystem der DDR auf seine Fahnen geschrieben – wenngleich auch hier ungleiche Bildungschancen existierten, wie Geißler einräumt. Letztlich geht es Geißler aber immer wieder um die soziale Verantwortung des Staates und die Einheitlichkeit des Schulwesens, die er an die jeweilige politische Ordnung rückbindet. So schließt er seine Geschichte mit folgender Diagnose: „Im Ergebnis von Entwicklungen, die sich über das ganze 20. Jahrhundert hinweg vollzogen haben, bleibt es im deutschen Schulwesen bei einem Zustand, in dem sich strukturkonservative und strukturreformerische Elemente in einer Weise begegnen, dass sich eine strukturelle Idee nach keiner Seite hin entfalten kann.“ (S. 946)

Geißlers Darstellung fußt im Wesentlichen auf Gesetzestexten, Daten der Ereignisgeschichte und wirtschafts- und sozialhistorischen Statistiken, so sie verfügbar sind, sowie einschlägigen Monographien. Die theoretischen Hintergründe zu schulgeschichtlichen Entwicklungen oder zur Unterrichtsgestaltung, wie sie sich in den zeitgenössischen pädagogischen und schulpolitischen Debatten wiederfinden ließen, werden dabei nur am Rande thematisiert. Es finden sich nur wenige Namen in der Darstellung, weder die politischer Entscheidungsträger noch die von Pädagogen und anderen Theoretikern. Geißler vermeidet es, eine Geschichte großer Persönlichkeiten zu schreiben, was sich auch stilistisch in einer auf Verallgemeinerung bedachten Sprache niederschlägt, die den Handbuchcharakter – mit Marginalien und Kursivierungen umgesetzt – unterstützt. Dieser wird durch die Referenzierung einschlägiger Überblicksdarstellungen oder Studien zu einzelnen Regionen oder Institutionen vervollständigt. Geißler kommentiert und erläutert die in den Fließtext eingestreuten historischen Abbildungen von Schulsituationen und Faksimile von Schriftdokumenten jeweils separat in der Bildunterschrift mitunter ausführlich. Besonders mit zahlreichen Klassenfotos und Portraitaufnahmen fügt er seinen sprachlich formell gehaltenen Schilderungen einen lebendigeren und persönlicheren Blick hinzu. Thematisiert werden öffentliche und private Schulformen, von der Elementar- bis zur höheren Bildung, aber auch die Lehrerausbildung, Sonder- und Förderschulen, Kindertagesstätten, Heime, Berufsschulen oder außerschulische Organisationen für Kinder und Jugendliche. In der Ausrichtung seiner Darstellungen folgt Geißler einer sozialwissenschaftlich begründeten Argumentation. So geraten die ideengeschichtlichen Hintergründe – besonders für die Zeit vor 1945 – etwas ins Hintertreffen. Überblickswerke dieser Art – vom „Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte“ einmal abgesehen – stehen nicht selten im Kontext universitärer Lehre und sind als Einführungen auf das für bestimmte Zeitspannen jeweils Wesentliche zugespitzt. Bei Geißler ist die Darstellung hingegen auf einen Zeitpunkt ausgerichtet und zwar auf die Situation des deutschen Schulwesens in den 1990er-Jahren und die sich in dieser Zeit vollziehende Übernahme des westdeutschen Bildungssystems in den Gebieten der ehemaligen DDR. Er schreibt daher weniger eine Geschichte der Schule in Deutschland, die jeden einzelnen Entwicklungsabschnitt gleichermaßen berücksichtigen würde – wenngleich er dem Anspruch auf Vollständigkeit folgt –, sondern er erklärt den Status quo als historisch gewachsenen und ist dabei insbesondere darum bemüht, Wissenslücken zu den ostdeutschen Verhältnissen zu schließen.

Anmerkung:
1 Hans-Georg Herrlitz u.a. (Hrsg.), Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. 5. akt. Aufl., Weinheim 2009.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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