Titel
Amerika als Argument. Die deutsche Amerika-Forschung im Vormärz und ihre politische Deutung in der Revolution von 1848/49


Autor(en)
Lerg, Charlotte A.
Reihe
Amerika: Kultur – Geschichte – Politik 1
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 35,80
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Katharina Schneider, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Der Balanceakt zwischen liberalen und demokratischen Ideen gehörte zum Kernproblem in den politischen staatstheoretischen Debatten der Achtundvierziger1 während des Vormärz und der Frankfurter Nationalversammlung. In der Frage nach der Konzeption eines modernen Verfassungsstaats changierten sie zwischen beiden Polen, wobei der nationenübergreifende Blick Orientierung bot. Frankreich, England und die USA fungierten in diesem Zusammenhang häufig als Richtgröße für eigene Überlegungen, wurden die hier stattgefundenen Revolutionen und die Integration demokratischer und liberaler Elemente in die ihnen folgenden Staatskonzeptionen doch als Lehrbuch für eigene Herausforderungen wahrgenommen. Ohne den Blick auf die hier stattgefundenen Transferprozesse lassen sich die vormärzlichen Staatskonzeptionen nicht verstehen.2 Sowenig die staatstheoretischen Debatten also an nationalen Grenzen endeten, sowenig kann sich die Historiographie national beschränken.

Charlotte A. Lerg setzt hier an und stellt in ihrer 2011 bei transcript erschienenen Dissertation die Frage nach dem Stellenwert des transkontinentalen Rekurses auf die nordamerikanische Demokratie und seiner Funktion in Vormärz und Frankfurter Nationalparlament. Im Gegensatz zu bestehenden Studien fragt sie dabei nicht nach dem konkreten Einfluss des amerikanischen Beispiels auf die Paulskirchenverfassung und nach dem korrekten Verständnis der nordamerikanischen Konzeptionen (vgl. S. 21ff.). Vielmehr fokussiert sie die Anwendung und den kommunikativen Gebrauch des Rekurses für die Legitimation des jeweils eigenen Standpunktes. Damit folgt sie der für die Arbeit grundlegenden Ansicht, dass Konzepte nicht normativ, sondern stets in ihrer kontextuellen Anwendung zu verstehen seien, und stellt konkret die Frage, inwiefern „Amerika als Argument“ erscheint (vgl. S. 12f.).

Methodisch folgt sie damit Überlegungen der Intellectual History, ohne jedoch die Begriffsgeschichte Kosellecks aus dem Blick zu verlieren (vgl. S. 16ff.). Die Bedeutung der Begriffe ergebe sich demnach durch ihre kommunikative Anwendung im diskursiven Kontext, weshalb nicht nur die Begriffe, sondern auch die Akteure und ihre kommunikativen Intentionen fokussiert werden. Anders als der kontextualisierende Ansatz Quentin Skinners es nahelegt3, verortet sie jedoch weniger einen kanonischen Text in seinem diskursiven Kontext, da eine exponierte Stellung eines Textes im Kontext eine nachträgliche Konstruktion bedeute. Vielmehr senkt sie die Methode Skinners vom „Höhenkamm“ auf eine „mittlere Ebene“ (S. 18), indem sie von mehreren Texten des diskursiven Feldes gleichermaßen ausgeht (vgl. S. 26ff.).

Der Aufbau der Studie entspricht diesen methodischen und konzeptionellen Überlegungen. So beinhaltet der erste Teil der Arbeit die Darstellung der materialen und wissenschaftlichen kontextuellen Vorbedingungen der späteren Amerika-Rekurse während der Revolution. Der zweite Teil umfasst die kontextuelle Analyse der nun politisch gewendeten Begriffe im Umfeld der Verhandlungen. Damit folgt die Konzeption insgesamt der Absicht, die prozessuale Verlagerung vom belletristischen und wissenschaftlichen hin zum politischen Amerikabezug zu zeigen. Die Studie fokussiert insofern nicht nur den Rahmen der Frankfurter Verhandlungen, sondern dehnt den Untersuchungszeitraum auf die Zeit von 1750 bis 1850 aus.

So werden zunächst die im Zusammenhang mit den Auswanderungsbewegungen in den 1820er- und 1830er-Jahren stehende Belletristik und Ratgeberliteratur skizziert, die eine eher populärwissenschaftliche Fokussierung auf Nordamerika gelegt haben (vgl. S. 31-49). Diese stünden kaum im direkten Zusammenhang mit den früheren wissenschaftlichen und wenig politisierten Amerikabezügen zur Zeit der Unabhängigkeitskriege (vgl. S. 49-59).

Ab den 1820er-Jahren habe sich das Interesse an den staatstheoretischen Entwürfen der USA politisch intensiviert. Träger dieser Auseinandersetzung seien politisch motivierte Professoren gewesen (vgl. S. 59-74), die zumeist später an den Frankfurter Verhandlungen teilgenommen haben. Bedingung der Auseinandersetzung seien zahlreiche Übersetzungen, Importe und Editionen amerikanischer Primärquellen gewesen (vgl. S. 74-97). Exemplarisch für diesen sich ab 1820 herausbildenden wissenschaftlichen Diskurs im Vormärz werden die Schriften Friedrich von Raumers und Robert von Mohls hervorgehoben (vgl. S. 97-141).

Im zweiten Teil der Arbeit kommt Charlotte A. Lerg vor dem Hintergrund der beschriebenen vormärzlichen Amerikawissenschaften und ihren Bedingungen auf die Kernthematik der Arbeit zurück und fragt nach der politischen Verwendung der Amerikabezüge (vgl. S. 155). Dabei konzentriert sich die Analyse kapitelweise auf die Begriffe Defensive Revolution, Republikanische Monarchie, Föderativer Einheitsstaat und Geordnete Freiheit.

In Bezug auf die Frage nach angemessenen Formen der Revolution zeigt Charlotte A. Lerg, dass revolutionstheoretische Bezüge auf das amerikanische Beispiel häufig als politisches Statement für Mäßigung und Defensivität der Revolution verwendet worden seien – im Gegensatz zu den meist radikaldemokratisch ausgerichteten Frankreichbezügen (vgl. S. 187ff.).

Viel Aufmerksamkeit widmet sie der Kontroverse um den amerikanischen Föderalismus. So sei die nordamerikanische Debatte um die Ausgestaltung der Exekutiven, Judikativen und Legislativen des repräsentativdemokratischen Bundesstaates der USA argumentativ genutzt worden. Besonders in der Frage nach einem dem Föderalismus adäquaten Staatsmodell seien die Amerikabezüge durch die liberale Fraktion politisch verwendet worden, um für den Deutschen Bund eine konstitutionelle Monarchie zu legitimieren.

Der Studie gelingt insgesamt eine umfassende Darstellung der deutschen Amerika-Bezüge von der Entstehung der Amerikawissenschaften zur Zeit der Unabhängigkeitskriege bis hin zu ihrer politischen Anwendung im Umfeld des Frankfurter Parlaments.

Gemäß ihrem Bestreben, kein kohärentes Gesamtbild der Amerikabezüge in der Nationalversammlung abbilden zu wollen (S. 16ff.), zeigt Charlotte A. Lerg anhand eines umfangreichen Quellenkorpus die Heterogenität und Diversität der Bezüge. Darin spiegelt sich die methodischen Absicht, Konzepte nicht abstrakt-generalisierend, sondern stets im individuell-kontextuellen Bezug zu interpretieren.

Mit ihrer Orientierung an den Überlegungen der Cambridge School ist die Studie im Blick auf die aktuelle Vormärz-Forschung außerordentlich gelungen. Sie entspricht der hier stattgefundenen Wende von strukturalistischen Blickweisen, Meisternarrativen und gefährlichen Prozessbegriffen (Joas) hin zum konkreten Einzelfall, durch die der Vormärz und die Nationalversammlung als heterogenes Experimentierfeld und Laboratorium politischer Ideen herausgestellt werden.4

Wünschenswert wäre an einigen Stellen eine schärfere analytische Differenzierung der Belege gewesen. So wird im zweiten Teil der Arbeit nicht immer transparent, in welchen Fällen es sich konkret um Amerikabezüge in den Debatten der Nationalversammlung handelt und wann ein Rekurs auf Studien aus dem kontextuellen Vor- und Nachfeld vorliegt. Methodisch und sprachlich bleibt im zweiten Teil insofern manchmal unklar, welche Texte den diachronen und synchronen Kontext bilden und welche Äußerungen hier verortet werden sollen. Dies führt dazu, dass der Wandel eines zunächst eher wissenschaftlichen hin zu einem eher politischen Gebrauch der Begriffe als Argument nicht deutlich wird. Um ihn stärker hervorzuheben, wäre ein sprachlich und inhaltlich expliziterer Rückbezug des zweiten Teils der Studie auf die Ergebnisse des ersten Teils hilfreich gewesen.

Insgesamt zeigt sich, dass der Blick über den Kontinent hinaus den politischen Akteuren in ihrer Suche nach staatstheoretischen und politischen Modellen Orientierung und Argumentationshilfe bot. Dabei wird deutlich, dass der Amerikabezug besonders für liberale Modelle genutzt wurde, ohne dass, bis auf wenige Ausnahmen, die Differenz zu der radikaldemokratisch orientierten Argumentation aus der Perspektive der linken Fraktionen gleichermaßen explizit behandelt wird (vgl. S. 202, 212). Dies aber könnte verstärkt erklären, inwiefern amerikanische Modelle zur Legitimation teils konträrer politischer Interessen und insofern als rhetorische Strategie verschiedener fraktioneller Lager herangezogen wurden (vgl. S. 217). Perspektivisch ist die Studie insofern an die liberale Argumentation des eher mittleren und rechten Flügels der Nationalversammlung gebunden. Gerade vor dem Hintergrund der Emigration besonders der linken Radikaldemokraten im Nachgang der gescheiterten Revolution in die USA und deren lokalpolitischer Partizipation vor Ort5 wäre die Reaktion der Demokraten auf die liberale Argumentation im Nationalparlament von Interesse. Dass Charlotte A. Lerg primär die heterogene liberale Linie verfolgt, ist zwar legitim, bietet sie doch selbst ausreichendes Quellenmaterial. Sinnvoll wäre es allerdings, wenn die Entscheidung für diese Perspektive entweder konzeptionell zuvor betont oder im Verlauf der Argumentation als ein Ergebnis der Analyse herausgestellt würde. Dies tut der hohen Qualität der Studie allerdings keinen Abbruch, handelt es sich doch insgesamt um einen überaus lesenswerten und ertragreichen Beitrag zur aktuellen Vormärzforschung.

Anmerkungen:
1 Die Bezeichnung Achtundvierziger folgt hier der Definition Freitags. Der Sammelbegriff bezeichnet speziell die Agitatoren der Paulskirche und generell die politischen Oppositionellen im Vorfeld und während der 1848er-Revolution in Deutschland. Vgl. Sabine Freitag, Die Achtundvierziger. Lebensbilder aus der deutschen Revolution 1848/49, München 1998.
2 Uwe Backes, Liberalismus und Demokratie – Antinomie und Synthese. Zum Wechselverhältnis zweier politischer Strömungen im Vormärz, Düsseldorf 2000, S. 55f.
3 Quentin Skinner, Visionen des Politischen, Frankfurt am Main 2009, S. 60ff., ders., Reason and Rhetorik in the Philosophy of Hobbes, Cambridge 1996.
4 Backes 2000, S. 44ff.
5 Julius Fröbel, Ein Lebenslauf. Aufzeichnungen, Erinnerungen, Bekenntnisse, 2 Bde, Stuttgart 1890; Adolf Eduard Zucker (Hrsg.), The Forty Eighters. Political Refugees of the german revolution of 1848, New York 1950; Carl Wittke, Refugees of Revolution. The German Forty-Eighters in America, Philadelphia 1952; Jonathan Sperber, Rhineland Radicals. The Democratic Movement and the Revolution of 1848-49, Princeton 1991; Charlotte Lang Brancaforte, The German Forty-Eighters in the United States (German Life and Civilization 1), New York 1989.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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