J. Freytag u.a. (Hrsg.): City Girls

Cover
Titel
City Girls. Bubiköpfe & Blaustrümpfe in den 1920er Jahren


Herausgeber
Freytag, Julia; Tacke, Alexandra
Reihe
Literatur – Kultur – Geschlecht, Kleine Reihe, Band 29
Erschienen
Köln 2011: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
227 S., 70 Abb.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ingrid Leonie Severin, Schaalsee

Der vorliegende Band beruht auf Beiträgen zu einem Symposium, das den 65. Geburtstagen von Inge Stephan und Christina von Braun gemeinsam gewidmet war.1 Stephan hat seit 1994 an der Humboldt-Universität zu Berlin den Lehrstuhl "Geschlechterproblematik im literarischen Prozess" inne und zur Literaturgeschichte des 18. und 20. Jahrhunderts, zur allgemeinen Frauenforschung, zur feministischen Literaturwissenschaft und zur Kulturgeschichte der Geschlechter zahlreiche Beiträge veröffentlicht. Zusammen mit Christina von Braun konnte sie das Profil der Humboldt-Universität in den Gender Studies und der Literatur- und Kulturwissenschaft wesentlich schärfen und mit der Gründung des Graduiertenkollegs „Geschlecht“ als Wissenskategorie auch erweitern.

Die medienübergreifenden Beiträge untersuchen die Veränderung des Bildes und das Rollenverhalten der Frau zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Film, Fotografie, Literatur und bildende Kunst reagierten auf die „Neue Frau“, auf Bubiköpfe, Backfische, Blaustrümpfe, Flapper, Working Girls und Tippmamsells sehr unterschiedlich. Die Neue Frau erschien international, interkulturell und intermedial, und so weit reicht denn auch der Anspruch, die Themenfelder, die Inge Stephan am Herzen liegen, in dieser Schrift zu vereinen. Die Texte der insgesamt zwölf Autorinnen sind in drei Abschnitte gruppiert: „Die neuen Schreibkräfte“, „Die Frauen vor & hinter der Kamera“ und „Girls in Action“. Es folgen Kurzviten der Verfasserinnen, wenn auch leider keine Vita von Inge Stephan selbst.

Der erste Abschnitt beginnt mit zwei Untersuchungen zum „Alltagsmythos Sekretärin“ im neuen Genre des Sekretärinnenromans bekannter und neu zu entdeckender Autorinnen der 1920er-Jahre. Ariane Martin seziert in den Romanen von Irmgard Keun und Alice Berend die Neue Frau detailliert als ambivalente kulturelle Konstruktion, während Annegret Pelz anhand der Romane von Rudolf Braune, Christa Anita Brück und Vicky Baum unterschiedliche Typen der Sekretärin, angesiedelt zwischen der einfachen „Tipse“ und der intellektuellen Autorin, als Übergansphänomene herausstellt, und deren kritische Beurteilung durch Siegfried Kracauer und Kurt Tucholsky beleuchtet. Ihre interessante Übergangsthese untermauert sie durch weitere Beispiele aus den Romanen von Maria Leitner, Gina Kraus und Christa Winsloe. Der dritte Beitrag dieses Teils widmet sich Mela Hartwigs Roman „Das Weib ist ein Nichts“ in Hinsicht auf die Veränderungen in der Konzeption von autonomer Subjektivität seit der Jahrhundertwende.

In ihrem Beitrag beschreibt Lydia Strauss, wie die lebenslange Suche nach Identität sich bei einer Ausnahmeerscheinung und schillernden Künstlerin wie Else Lasker-Schüler auswirkte. Bei ihr verdichtete sich dies zur ständigen Maskerade, zu Verwandlungen und zum Spiel mit vielen Ichs, es führte formal zu einer intermedialen Grenzübertretung der Künste und ließ dies wie ein Schild gegen eine Wirklichkeit wirken, vor der nur die Fantasie Schutz bot. Die weiblichen Figuren und Gegenfiguren in Marieluise Fleißers Schriften und deren Zusammenhang mit ihrer begeisterten Faszination durch den Stummfilmschauspieler Buster Keaton untersucht Julia Freytag. In ihrem Beitrag zeigt sie anschaulich, wie diese Figuren für Unsicherheit und Sprachlosigkeit und gegen Weltgewandtheit und Sprachgewalt stehen. Eindrucksvoll zieht sie die Parallele zu Buster Keatons strauchelnden und wagemutigen Helden im Vergleich von Fleißers körpersprachlicher Figurenzeichnung und dem Gestischen ihrer Sprache mit Keatons stummem pantomimischem Spiel, dem Fleißer sich innerlich so verwandt fühlte.

Im zweiten Abschnitt der Festschrift wird zum ersten Mal die deutsche Rezeption des „Flappers“ im Film aufgezeigt. Dieser neue Typus, der in den 1920er-Jahren leicht verzögert aus den Vereinigten Staaten herüberschwappte, wird durch die Filme der berühmten Filmstars Clara Bow und Colleen Moore verbreitet. Aus der seriösen Neuen Frau wird der vergnügungsorientierte Flapper mit „sex-appeal“. Raffinierte Vermarktung, Filmverleihe, Werbung und Rezensionen in den neuen Massenmedien machten ihn populär. Isabelle Stauffer zeigt auf, wie er auch in der Literatur als Typus erkennbar wurde und seine Spuren hinterließ.2

Dagmar von Hoff veranschaulicht in ihrem Beitrag detailliert das neue Selbstbewusstsein von Frauen hinter der Kamera. So entwickelte etwa die französische Avantgardefilmerin Germaine Dulac in ihren Filmen eine eigene Kunstform, die dicht am Unbewussten siedelte. Von Hoff beschreibt dies anhand des Films „L’invitation au Voyage“, dessen Ausgangspunkt Charles Baudelaires „Les Fleurs du Mal“ gewesen ist. Sie belegt, wie die Regisseurin Dulac Literatur und Film einander annäherte, indem sie Poesie und lyrische Qualitäten in den Rhythmus der filmischen Aussage integrierte: „Dies ist eine Transferleistung, die zugleich in der Wahrung des poetischen Moments besteht und die Signatur der Modernität in ihrer melancholischen Ambivalenz betont“ (S. 139). Barbara Kosta illustriert, wie die Zigarette, vormals Genussmittel und Accessoire der höheren Stände, einerseits zum Artefakt und zur breit akzeptierten Gewohnheit und anderseits zum festen Bestandteil des Bildes der modernen Neuen Frau wurde. Neben Bubikopf, garconhaft modischer Kleidung und nervöser Rastlosigkeit mutierte die Zigarette zum Signet für Emanzipation; sie symbolisierte das Neue, die Befreiung von bürgerlichen Normen, den Bruch mit den Moralvorstellungen der Wilhelminischen Zeit und mit der Reduktion der Frau auf eingeengte Geschlechterrollen. Mit der Zigarette in der Hand wurde die Neue Frau öffentlich inszeniert und zwischen Glamour und Halbwelt zur Schau gestellt. „Die Zigarette in Frauenhänden entpuppt sich als Zeichen eines komplexen semiotischen Systems der Geschlechter in der Zwischenkriegszeit“ (S. 145).

Sportlich und modisch gekleidet – das sind die segelnden, boxenden, fechtenden schwimmenden und Flugzeuge steuernden neuen Frauen, die „girls in action“, die im dritten Teil des Buches ihren Platz finden. Sie waren Indikatoren einer sich verändernden Ikonografie des Vitalen und Dynamischen, wie sie Ulrike Vedder genauer untersucht. Die neuen Posen als Teil einer neuen Körpertechnik wurden zur autosuggestiven Psychotechnik. Vedder beschließt ihren Aufsatz mit einem Ausblick auf die Puppe als Zeichen und als Modell. Wie radikal in dieser Zeit sowohl die Akteure wie das Publikum sich veränderten, belegt Renate Berger in dem Beitrag über die tanzende Ausnahmeerscheinung Valeska Gert, deren intensive Ausdrucksvarianz unter anderem Sergej Eisenstein und Bertolt Brecht inspirierte.

Alexandra Tacke führt uns vor Augen, wie sich das Bild der Weiblichkeit durch den Topos der freien, in Dynamik und Schnelligkeit abhebenden Sportfliegerinnen wandelte. In ihren Beispielen aus Literatur und Film analysiert sie die Ambivalenzen des neuen Rollenbildes der Fliegerinnen, wie sie einerseits prototypisch für Faszinationskraft durch das Neue und andererseits für den inneren Konflikt zwischen neuem und altem Frauenbild standen. Heike Melba-Fendel widmet sich dem wandelnden Bild der „It-Girls“ von den Flapper-Mädchen der 1920er-Jahre über Clara Blow bis zum Scheitern in der Weltwirtschaftskrise und endet mit einem kurzen Ausblick auf deren Wiederauferstehen in den 1960er- bis 1980er-Jahren. Auch schlägt sie einen Bogen in die Gegenwart, indem sie strukturelle Parallelen aufweist.3

Die im hohen Maße anschaulichen Aufsätze kreisen das Phänomen der Neuen Frau intermedial ein und belegen gleichzeitig, wie weit das Feld noch offen ist für zukünftige Forschungen und Diskurse. Die Bandbreite der Positionen hat von den Forschungsarbeiten Inge Stephans wichtige Impulse bezogen. Die spannenden Untersuchungen sind fachübergreifend gestreut und belegen, dass auf diesem Gebiet beachtliche und aufschlussreiche Einsichten gerade aus diesem intermedialen Ansatz resultieren und noch folgen können. Dem eingangs formulierten Anspruch wird die Publikation für den Film, die Fotografie und die Literatur in ihren Fallstudien gerecht. Zu kurz scheint mir allerdings die bildende Kunst mit ihrem ergiebigen Bildinventar der Metropolenkultur der 1920er-Jahre zu kommen, in der sich zahlreiche Darstellungen des neue Frauentypus mit ihrem Glamour, mit ihren Überschneidungen zur Halbwelt, zur Revue und zum Varieté finden lassen. Sie würden eine wertvolle Ergänzung des fächerübergreifenden Ansatzes darstellen, ganz zu schweigen von den Vertreterinnen der populären Musik, die so überaus zur Popularisierung des neuen Typs beigetragen haben. Die Anregung dazu ist gegeben.

Aber alles in allem ist die vorliegende Aufsatzsammlung eine anregend lohnende Lektüre und ein wichtiger Beleg für den gegenwärtigen Stand der Erforschung des Frauenbildes. Abschließend noch ein Ausblick: „Mit Bubikopf, Gehrock und Zigarettenspitze – die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts“ ist das Thema der lit.COLOGNE-Gala 2012, die am Freitag, 16. März 2012, in der Philharmonie Köln stattfindet.

Anmerkungen:
1 Er folgt auf die Festschrift für Christina von Braun, vgl. Ulrike Auga u.a. (Hrsg.), Dämonen, Vamps und Hysterikerinnen: Geschlechter- und Rassenfigurationen in Wissen, Medien und Alltag um 1900, Bielefeld 2011; Vgl. das Symposium „City Girls. Dämonen, Vamps und Bubiköpfe in den 20er Jahren“. Anlässlich des 65. Geburtstages der Professorinnen Christina von Braun und Inge Stephan veranstaltet im Kino Babylon und im Institute for Cultural Inquiry, Berlin, vom 2.-4.7.2009 <http://www.ici-berlin.org/de/events/103/>, (21.2.2012).
2 Interessant in diesem Kontext ist der europäische Einfluss in den USA als eine Art Umkehrung des Phänomens. Vgl. dazu Shelley Stamp, “Exit Flapper, Enter Woman”, or Lois Weber in Jazz Age Hollywood, in: Framework 51, No 2, Fall 2010, S. 358-387, sowie die Dissertation von: Maira Elena Buszek, Pin-up Grrrls. Feminism, Sexuality, Popular Culture, Durham 2006.
3 Den neuen Frauen-Trends war übrigens 1925 die Pariser Weltausstellung „Arts Déco“ gewidmet, dokumentiert in einer Ausstellung von 2008, vgl. <http://www.arte.tv/de/1786486,CmC=1786488.html>, (21.2.2012).

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