Titel
Schwestern. Interaktion und Ambivalenz in lebenslangen Beziehungen


Autor(en)
Bollmann, Vera
Erschienen
Anzahl Seiten
267 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Karla Verlinden, Vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften, Universität zu Köln

Die sozial- und kulturgeschichtlich ausgerichtete Historiographie erforscht die Institution Familie seit rund 30 Jahren. 1 Bei der Analyse von personalen Binnenstrukturen in familialen Kontexten beschränkte sie sich bislang allerdings zumeist auf Ehe- und Verwandtschaftsverhältnisse sowie auf Eltern-Kind-Dynamiken. Geschwisterbeziehungen und ihr prägender Charakter für individuelle Entwicklungsverläufe blieben dabei in der Regel außer Acht. Mit Blick auf die vorliegende Arbeit wäre es jedoch von hohem Erkenntnisinteresse, sich Geschwisterbeziehungen – und wie in diesem Fall: Schwesternbeziehungen – profunder anzunähern. Und dabei verspräche nicht nur die Betrachtung historisch populärer Schwesternkonstellationen wie beispielsweise Frieda und Else von Richthofen, Virginia Woolf und ihre (Halb)Schwestern oder aber Annette und Maria Anna von Droste-Hülshoff einen Gewinn für die Historische Familienforschung. Doch nicht nur in den Geschichtswissenschaften gibt es das Desiderat Schwesternbeziehungen. Auch in der soziologischen Forschung findet sich zu diesem Sujet eine Leerstelle. Die wenigen soziologischen Studien, die sich mit Schwestern auseinandersetzten, erkennen zwar die tiefere Bedeutung von Schwesternbindungen als bei geschlechtsheterogenen Geschwisterbeziehungen, vermögen es jedoch nicht, dies zu begründen.

Anders dagegen bei der Studie von Vera Bollmann, die 2011 als Dissertation im Fach Soziologie an der Universität Vechta angenommen wurde. Sie sieht Schwesternschaft als „soziale Konstruktion” und „gesellschaftliches Produkt sozialhistorischer Prozesse” (S. 12) und rekonstruiert dies sachkundig auf der Basis narrativer Interviews. Ihre Forschungsarbeit bietet einen wichtigen Beitrag für den eher marginalen Forschungsstand der Familiensoziologie hinsichtlich Geschwisterbeziehungen. Mit den bisherigen Theorien und Ergebnissen der Forschung über Geschwisterbeziehungen setzt sich Bollmann im ersten Kapitel kritisch auseinander. Zumeist werde bei den Forschungsfragen übersehen, dass Geschwister durchaus auch eine „unabhängige und eigenständige, intragenerationale horizontale Bindung” auszeichne (S. 20). Die Autorin konstatiert, dass das Geschwistersystem auch von dem Elternsystem unabhängig wirke, sich im Erwachsenenalter „zu einem völlig autonomen Subsystem” entwickle und „eines der über den Zeitverlauf am längsten und stabilsten sozialen Systeme” sei (S. 20). Zudem mangle es den veralteten Studien oftmals an einer reflektierteren ‚Genderperspektive‘. Diese Aspekte vernachlässige die Familiensoziologie und überlasse die Deutungshoheit der Psychologie. Vor dem Hintergrund dieser Desiderate erscheinen das spezifische Studiensample Bollmanns (bestehend aus Frauen, die älter als 64 Jahre alt sind) und die Interviewanalysekategorien (Geschlecht, Alter und Generation) innovativ.

Der kompakte historische Überblick des ersten Kapitels zu „Familie und Geschwister von der vorindustriellen Zeit bis heute” (S. 21-33) überzeugt, da die Autorin einen Bogen zu ihrer Grundannahme, dass Geschwisterschaft weniger „biologischen Regeln” als vielmehr „sozialen Erwartungen” folge (S. 32), schlägt. Bollmann stellt dabei vielfältige Einflussfaktoren wie Sozialisationsbedingungen, Position in der Geschwisterreihe (und deren Auswirkung auf Rivalität, Konkurrenz und emotionale Bindung), Solidarität, Interaktion, Individualisierungsprozesse sowie Nähe und Distanz vor.

Im zweiten Kapitel widmet sich die Soziologin gesonderten Spezifika von Schwesternschaft in Abgrenzung zu Brüderschaften und geschlechtergemischten Geschwisterbeziehungen. Mit Bezugnahme auf Modelle und Thesen zu Individualisierungsprozessen hebt Bollmann die Bedeutung von Schwesternschaft als „nicht-wählbare Herkunftsbindung” der sozialen Gruppe hervor (S. 70). Dieser Annahme wird anschließend in der Interviewanalyse mithilfe folgender Fragestellung nachgegangen: Kommt es im Alter der Frauen zu einer „Retraditionalisierung bzw. Rückbindung” zu den Schwestern und „welche Handlungs- und Strukturphänomene konstituieren Schwestern als soziale Gruppe?” (S. 70).

Im dritten Kapitel legt Bollmann ihr methodisches Vorgehen dar. Um der „biografischen Relevanz” von Schwesternbeziehungen auf den Grund zu gehen, stützt sie sich in der Analyse auf Thesen Fritz Schützes zu den „Prozessstrukturen des Lebensablaufs”. 2 Demnach sind es die „Erfahrungsaufschichtungen” und deren Dynamik innerhalb der Schwesternbeziehung auf der einen und die äußeren Einflussbedingungen auf der anderen Seite, welche den „Identitätswandel” der einzelnen Schwestern bedingen (S. 86). Diese Prozessstrukturen möchte Bollmann in den Erzählbiografien analysieren und zusätzlich mit Hilfe der offenen Methode der Grounded Theory Kernkategorien herausarbeiten. Um den Kommunikationsdynamiken innerhalb der Interviewsituation gerecht zu werden, erweitert Bollmann ihr Interpretationscluster um ein integratives, texthermeneutisches Analyseverfahren. Die Beschreibung dieser Methode kommt jedoch etwas zu kurz, da sie die Mehrebenenbetrachtung kommunikativer Interaktionsprozesse des Interviews lediglich auf die Sprache bezieht und auf die Frage reduziert, wie sich diese gestalte. Das warum und die Frage, mit welchem interaktionistischen Ziel die Probandin spezielle Worte auswählt (beispielsweise als Appell oder Rechtfertigung), greift Bollmann in den Interviewanalysen leider nicht auf. Dass die Autorin ihre Rolle als jüngere Frau, Interviewerin und Wissenschaftlerin sowie deren mögliche Wirkung auf ihr Gegenüber und den Interviewverlauf und -inhalt nicht reflektiert, kann als methodische Lücke kritisiert werden.

Die Analysen der Interviews sind mit Blick auf die konkreten Forschungsfragen fundiert, wenngleich mit einer differenzierteren Methode der Output noch ausführlicher hätte ausfallen können.3 Bollmann arbeitet anhand des Interviewmaterials Prozessstrukturen heraus, die sie nach verschiedenen Einflussstrukturen sortiert. Die acht Erzählungen ordnet sie im vierten Kapitel den Kategorien ‚Sozialisationsmuster‘, ‚ähnliche Biografieverläufe‘ und ‚Kollektivität‘ zu, denen sie passende Sequenzen der Interviews und deren Analyse folgen lässt. Die Interpretation der narrativen Erzählungen folgt nach einer kurzen Vorstellung der anonymisierten Probandinnen unter einer theoretischen Leitlinie (beispielsweise „Besondere Beziehung zur Schwester als Sozialisationsresultat”); ein Zwischenfazit rundet jeweils die Analyse der Einzelinterviews ab. Dieses Vorgehen führt zu Übersichtlichkeit und ermöglicht eine Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses.

Nach den Einzelfallanalysen folgt im fünften Kapitel der kontrastive Fallvergleich, bei dem Bollmann sich den wiederkehrenden Gesprächsthemen widmet. Zentrale Kategorien der acht Interviews sind Geschlecht, Generation, Erinnern, Nähe und Distanz sowie Alter. Diese bringt Bollmann jedoch nicht nur mit äußeren, sozialen Einflussfaktoren in Zusammenhang; sie erkennt sie auch als Ergebnis der ‚internen‘ Rollen- und Handlungserwartungen zwischen Schwestern, die aus den strukturellen Dynamiken innerhalb der Schwesternbeziehungen heraus entstünden (vgl. S. 251). Für die wiederkehrende Kategorie Geschlecht fasst Bollmann zusammen, dass die Konstruktion von Geschlechtsrollen sich in der untersuchten Generation in einem lebenslangen Prozess durch die Übernahme der normativen, traditionellen Rollenerwartungen an Weiblichkeit wie beispielsweise Versorgungs- und Erziehungsaufgaben vollzöge (vgl. S. 230). In Bezug auf den Generationenzusammenhang arbeitet die Soziologin heraus, inwiefern sich die Erfahrungen und Lebensumstände, vor allem in Bezug auf Bildungschancen, zwischen Schwestern mit größerem Altersabstand durch gesellschaftliche und historische Wandlungsprozesse unterscheiden und sich in „Schwesternambivalenzen” (S. 238) ausdrücken könne. Hat beispielsweise eine jüngere Schwester aufgrund der Bildungsexpansion seit den 1950er-Jahren mehr Möglichkeiten zur Erreichung eines höheren Bildungsabschlusses gehabt, so gerät das Egalitätsprinzip, das zwischen Geschwistern herrsche, ins Wanken.

Mit ihren Ergebnissen erweitert die Autorin die bislang eng gefasste soziologische Forschungsperspektive, die zumeist nur gesellschaftliche und elterliche Sozialisationsaspekte hinsichtlich Geschwisterbeziehungen betrachtete, um die Erkenntnis, dass es eigene dynamische schwesterliche Aushandlungsprozesse gibt, in denen soziale Kategorien wirksam bearbeitet werden. Die Studie appelliert zurecht an die sozialwissenschaftliche Familienforschung, Schwesternbeziehungen stärker als bislang in den wissenschaftlichen Blick zu rücken und sich nicht nur auf die Ehe- und Eltern-Kind-Beziehungen bzw. auf geschlechtsheterogene Geschwisterkonstellationen zu beschränken. Denn die schwesterliche Beziehung, so zeigt es Bollmann, ist eine „Konstruktion weiblicher Subjektivität” und bedingt die „weibliche und familiale Identität” (S. 42) ebenso wie die Eltern-Tochter-Beziehung. Der Gewinn der vorliegenden Studie ist es, dass zum einen die bisher wenigen (psychologischen) Ergebnisse zu Schwesternbeziehungen bestätigt sind und zum anderen erweitert werden müssen. Schwesternschaft ist ein dynamischer Konstruktionsprozess, der sich auf den komplexen Ebenen von Lern-, Sozialisations- und Identitätsprozessen abspielt – dies zeigt Bollmann mit ihren Interviews deutlich auf. Zugleich bietet sie zahlreiche Anknüpfungspunkte für weitere Forschungsarbeiten, etwa die Anwendung der herausgearbeiteten Kategorien auf historische Quellen, die Schwesternschaft zum Inhalt haben. Darüber könnte der Historiographie das Sujet Schwesternschaft neu eröffnet werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. bspw. Ingeborg Weber-Kellermann, Die Familie. Geschichte, Geschichten und Bilder, Frankfurt am Main 1976; Heidi Rosenbaum, Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1982.
2 Fritz Schütze, Prozessstrukturen des Lebensablaufs, in: Joachim Matthes / Arno Pfeifenberger / Manfred Stosberg (Hrsg.), Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive. Kolloquium am Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum der Universität Erlangen-Nürnberg, 2. Aufl., Nürnberg 1983, S. 67-156.
3 Vgl. bspw. Harald Welzer, Hermeneutische Dialoganalyse. Psychoanalytische Epistemologie in sozialwissenschaftlichen Fallanalysen, in: Gerd Kimmerle (Hrsg.), Zur Theorie der psychoanalytischen Fallgeschichte. Tübingen 1998, S. 111-138.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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