K. Andresen u.a. (Hrsg.): "Nach dem Strukturbruch"?

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Titel
"Nach dem Strukturbruch"?. Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er-Jahren


Herausgeber
Andresen, Knud; Bitzegeio, Ursula; Mittag, Jürgen
Reihe
Politik- und Gesellschaftsgeschichte 89
Erschienen
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nina Kleinöder, Institut für Geschichtswissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

"Arbeit. Sinn und Sorge" betitelte das Deutsche Hygiene-Museum 2009/10 in einem Ausstellungsprojekt vergangene und gegenwärtige Formen der Arbeitswelt. Arbeit als Sinnbild des Wandels – die Verortung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als individualisiertes Phänomen erfolgte hier nun auch jenseits des beispielsweise in den Industriemuseen thematisierten Wandels körperlicher Schwerstarbeit.1 Auch in der wissenschaftlichen Forschung wird der Faktor Arbeit zunehmend als Kristallisationspunkt vielfältiger Formen des Wandels begriffen: "Arbeit ist eine der wichtigsten Instanzen der Vergesellschaftung in der Industriemoderne, ein strukturprägender Faktor von enormer Durchschlagskraft" (S. 345). In diesem Sinne sollen in dem von Knud Andresen, Ursula Bitzegeio und Jürgen Mittag vorgelegten Sammelband neben den großen ökonomischen, politischen und sozialen Veränderungslinien seit den 1970er-Jahren über die Annäherung an Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelten die Brüche und Kontinuitäten der bundesdeutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik wie im Brennglas nachgezeichnet werden (S. 18).

Dieser Ansatz ist zudem anschlussfähig an die seit einigen Jahren diskutierte These vom Umbruchcharakter der 1970er-Jahre. Hinzu kommt die Frage nach den Veränderungen von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt, wie sie insbesondere im sozialwissenschaftlichen Kontext bereits thematisiert und in der historischen Forschung angeschnitten wurde. Dieser Umbruch, von Jean Fourastié noch als "Große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts" (1954) charakterisiert, rückte spätestens mit der Hypothese vom Strukturbruch "Nach dem Boom" (2008) auch in den Fokus zeithistorischer Forschungsperspektiven.2 Die Buchautoren Doering-Manteuffel und Raphael leisten auch den einleitenden Keynote-Beitrag des Sammelbandes. Zur Überprüfung der Strukturbruch-These wurde ein loses Forschernetzwerk der Friedrich-Ebert- und der Hans-Böckler-Stiftung versammelt. Der theoretische Zugriff wird in drei Hauptteilen als Wandel der allgemeinen Rahmenbedingungen, in Fallstudien zu Arbeitswelten und Arbeitsbeziehungen sowie zu den damit zusammenhängenden Interessenpräsentationen konkretisiert.

Der erste Block thematisiert allgemeine ökonomische, politische und soziale Veränderungen als Rahmenbedingungen: Die ersten beiden Beiträge von David Furch zum deutschen Corporate Governance-System entlang der Rolle der "Deutschland AG" und von Andrea Rehling zur Konzertierten Aktion und den veränderten Konstellationen der Korporatismuspartner stimmen dabei zum Auftakt der These eines Strukturbruchs in den 1970er-Jahren zu. Demgegenüber äußert sich Jan-Otmar Hesse anhand des Indikators der Selbständigenquote skeptischer und interpretiert das Jahrzehnt als Zäsur, jedoch nicht als eindeutigen Bruch. Anne Seibring stellt das Aktionsprogramm "Humanisierung des Arbeitslebens" in den Mittelpunkt, in dessen Umfeld sie verschiedene Elemente des Wandels, insgesamt jedoch auch nur einen begrenzten Umbruch ausmacht. Dieser kritischen Bewertung schließt sich Monika Mattes in ihrer Untersuchung zur Rolle der Frauen im Wandel der Arbeitswelt an und betont aus geschlechterspezifischem Blick auch die Chancen eines solchen Perspektivwechsels jenseits des Niedergangs männlicher Industriearbeit.

Der zweite Teil bündelt Fallstudien zu verschiedenen Arbeitswelten: Nina Weimann-Sandig führt in einem Beitrag zu deutschen Energieversorgungsunternehmen den Privatisierungsprozess aus, in dessen Konsequenz sie einen grundlegenden Wandel der Arbeitsbeziehungen und Interessenvertretungen in einem komplexen Geflecht verschiedener "Subsysteme" (S. 157) belegt. Knud Andresen überprüft die Leitthese des Sammelbandes anhand des Indikators der Berufsausbildung, an dem er diachron zwar einen Fortbestand formeller Merkmale konstatiert, jedoch zugleich einen grundlegend veränderten und individualisierten Weg in die Berufstätigkeit seit den späten 1960er-Jahren aufzeigt. Rüdiger Hachtmann thematisiert die verlängerten Rationalisierungsdebatten innerhalb der Gewerkschaften seit der Weimarer Republik, in denen er eine zunehmende "diskursive Unübersichtlichkeit" (S. 205) erkennt, mag aber trotzdem in dem von ihm gewählten Fallbeispiel nicht von einem Strukturbruch im Sinne eines "Ende[s] des Fordismus" (S. 207) sprechen.

Der dritte Teil fokussiert den Wandel der Interessensrepräsentation. Anhand eines historischen Vergleichs der betrieblichen Interessenvertretungen in Deutschland und Frankreich stärkt der Beitrag von Ingrid Artus dabei weniger die These des Strukturbruchs sondern implementiert vielmehr den Begriff eines "Scharnierjahrzehnts" (S. 242). Die Beiträge von Stephan Meise und Thilo Fehmel treten daran anschließend ebenfalls für eine Modifikation der Strukturbruchthese ein. Meise lenkt den Blick auf die regionalen Besonderheiten und die akteursbezogene Dimension. Fehmel betont die Notwendigkeit auch einer begrifflichen Reflexion: Am Beispiel der Tarifautonomie mahnt er, die semantische Komponente des Strukturbruches scheinbar zeitloser Leitbegriffe nicht zu vernachlässigen. Christian Testorf belegt in seiner Untersuchung zur Tarifpolitik zwischen 1966 und 1974, dass makroökonomische oder wirtschaftspolitische Zäsuren dieser Zeit die Ausrichtung gewerkschaftlicher Interessenpolitik und korporatistischer Vorstellungen nicht grundlegend veränderten. Abschließend wendet Viktoria Kalass den Blick auf aktuelle Wandlungsprozesse der Interessenrepräsentation. Ausgehend vom Lokführerstreik im Sommer 2007 unterstreicht sie in ihrem Beitrag noch einmal die Strukturbruchthese anhand der langfristigen Veränderungen im Bahnwesen wie zum Beispiel der Privatisierung.

Der vierte und letzte Teil beschließt den Band mit einem Resümee von Winfried Süß und Dietmar Süß. Es fungiert dabei weniger als Zusammenfassung der versammelten Beiträge sondern leistet vielmehr einen Ausblick auf aktuelle Entwicklungen und Forschungsperspektiven der Zeitgeschichte der Arbeit. Die Potenziale der Geschichte der Arbeitswelten bündeln Süß und Süß hier als Problemfelder inter- und transnationaler Dimensionen, der Semantik und der Akteurszentrierung sowie ihres Verhältnis zum Wohlfahrtsstaat (S. 348).

"Nach dem Strukturbruch?" trägt in erster Linie dem Anspruch Rechnung, in neue zeithistorische Betrachtungsräume vorzudringen und das Feld nicht allein den Sozialwissenschaften zu überlassen. Die Beiträge suchen die "Verbindungslinien zwischen sozialwissenschaftlichen Theorien und dem Feld der Geschichte neu zu beleben" (S. 22). Methodisch gelingt es dabei überzeugend, die teilweise sehr differenzierten und heterogenen Forschungsbeiträge über die im Keynote-Beitrag formulierte Strukturbruch-These zu vereinen und den Impulscharakter über einen handlungsorientierten Forschungsausblick zu pointieren. Inhaltlich vermag sich das Fragezeichen des Titels auch nach der Lektüre nicht aufzulösen, diese unterstreicht vielmehr seine Berechtigung. In der schärferen Einzelfallüberprüfung schließen sich nicht alle Autoren der vorangestellten These eines radikalen Umbruchjahrzehnts unter den Schlagwörtern "Digitalisierung", "Neoliberalismus" und "Individualisierung" (S. 31) an, auch alternative Deutungsansätze werden ausgearbeitet. Den Verweis auf den engeren Betrachtungsgegenstand aus dem gewerkschaftlichen und arbeitspolitischen Kontext tragen Andresen, Bitzegeio und Mittag im Vorwort selbst offensiv vor (S. 18). Der Forschungsansatz ist sicherlich anschlussfähig an weitere Fragestellungen aus der Technik- und Unternehmensgeschichte oder auch kultur- und gesellschaftswissenschaftlicher Ansätze.

Insgesamt trägt der Band gelungen den Stand laufender Forschungsprojekte eines noch jungen zeithistorischen Feldes zusammen und liefert erste Hinweise auf eine deutliche Differenzierung einer heterogenen Phase des Wandels. So bleibt nur die aktive Rezeption dieser ersten "Interpretationsofferten" (S. 10) und die Auseinandersetzung mit ihnen zu wünschen, damit die anregenden Impulse nicht ungehört verpuffen. Die Hoffnung auf eine breitere Resonanz ruht auch auf der Aufnahme in die Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung.3

Anmerkungen:
1 Vgl. Katja Roeckner: Ausstellungs-Rezension zu: Arbeit in Zukunft 25.06.2009-11.04.2010, Deutsches Hygiene-Museums Dresden, in: H-Soz-u-Kult, 10.10.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=118&type=rezausstellungenngen> (09.02.2012).
2 Vgl. u.a. Wolfgang Hindrichs u.a., Der lange Abschied vom Malocher. Sozialer Umbruch in der Stahlindustrie und die Rolle der Betriebsräte von 1960 bis in die neunziger Jahre, Essen 2000; Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 2. ergänzte Auflage, Göttingen 2010 (1. Aufl. 2008).
3 Knud Andresen / Ursula Bitzegeio / Jürgen Mittag (Hrsg.), "Nach dem Strukturbruch"? Kontinuität und Wandel von Arbeitswelten (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1197), Bonn 2011.

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