M. Daniels: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert

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Titel
Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Institutionalisierungsprozesse und Entwicklung des Personenverbandes an der Universität Tübingen 1918-1964


Autor(en)
Daniels, Mario
Reihe
Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte
Erschienen
Stuttgart 2009: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
393 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfram C. Kändler, Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften / Justus-Liebig-Universität Gießen

Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine Dissertation, die im Sommer 2007 an der Universität Tübingen eingereicht wurde. Pointiert und kenntnisreich skizziert Mario Daniels zunächst die Forschung zur Geschichte der Geschichtswissenschaft und platziert seine eigene Untersuchung in einer Lücke: „Arbeiten, die systematisch die Entwicklung der Geschichtswissenschaft an einer Universität über die Systembrüche hinweg im 20. Jahrhundert untersuchen, liegen bisher kaum vor“ (S. 12). Seinem Thema nähert er sich „vom Rande her“ und „von unten“ (S. 14). Untersucht werden nicht allein die etablierten Kernbereiche des Fachs, sondern auch die Grenzbereiche zu anderen Disziplinen. Außerdem nimmt Daniels nicht allein die Ordinarien in den Blick, sondern alle Lehrenden. Gerade im Hinblick auf die Institutionalisierung neuer Teilfächer ist dieser Ansatz zweifellos unerlässlich.

In den ersten beiden Hauptkapiteln über „Personelle Strukturen“ und das „Berufungswesen“ steht jedoch zunächst nur der Kernbereich des Faches im Mittelpunkt. Daniels widmet sich den insgesamt 66 Dozenten, die während des knappen Halbjahrhunderts seines Untersuchungszeitraums am Historischen Seminar der Tübinger Universität lehrten und forschten. Er liefert dabei keine detaillierte statistische Analyse. Vielmehr stellt er in kurzen Unterkapiteln verschiedene Faktoren vor, die eine akademische Karriere bestimmten: die Rekrutierung der Privatdozenten (viele waren auch in Tübingen promoviert worden); die Einkommensverhältnisse bis 1945; die Karrierebedingungen während der NS-Zeit („Die eingängige Formel ‚Nazi sein gleich erfolgreich sein‘ galt nur mit Abstrichen“, S. 40); die Kriegsjahre („Kurzum: Der Weltkrieg ließ in der geschichtswissenschaftlichen Lehre und Forschung nur ein Minimalprogramm zu“, S. 58); die Zeit nach 1945 („Die politischen Säuberungen veränderten die Struktur des Lehrkörpers nicht grundlegend“, S. 68) und die Wirtschaftswunderjahre. Die allgemeinen Befunde werden dabei ergänzt von einem Beispiel, auf das Daniels wiederholt zurückkommt und an dem er seine Ergebnisse vertieft und illustriert: der Karriere des Privatdozenten Kurt Borries (geb. 1895). Borries bekam 1929 – im zweiten Anlauf – die venia legendi verliehen, erhielt trotz aller Bemühungen in Tübingen keinen Lehrstuhl, lehrte von 1942 bis 1945 als Extraordinarius in Gießen und kehrte 1948 wieder als Dozent nach Tübingen zurück. Zehn Jahre später gab „der beruflich Gestrandete“ (S. 74) seine Lehrtätigkeit schließlich auf. Diese „biographische Fallstudie“ (S. 15) schöpft aus den Personal- und Fakultätsakten, das Leben außerhalb des Berufs wird nicht thematisiert.

Ebenfalls anhand der Aktenüberlieferung analysiert Daniels die 24 Verfahren zur Wiederbesetzung sowohl der Ordinariate als auch der Extraordinariate. Anhand dieser „Situationen der institutionellen und fachlichen Selbstreflexion“ (S. 15) spürt er einerseits den Berufungskriterien nach und untersucht andererseits „die besonderen Fälle politisch geprägter Berufungsverfahren“ (S. 92). Er attestiert eine „weitgehende Einigkeit“ (S. 117) über die Grundkriterien: etwa eine gleichrangige Berücksichtigung der Qualitäten in Lehre und Forschung, Fleiß („eine zentrale Wertsetzung“, S. 107), persönliche Qualitäten wie Kollegialität und Freundlichkeit und die Frage, ob die Ausrichtung der Arbeiten des Kandidaten inhaltlich zur Professur passte. Für den Verfahrensverlauf innerhalb der Fakultät und zwischen Fakultät und Senat resümiert er: „Konflikte waren also alles in allem selten“ (S. 102), zwischen Ministerium und Universität herrschte in der Regel ein „kooperatives Klima“ (S. 103). Allerdings ist sich Daniels sehr wohl bewusst, dass viel in Gesprächen geklärt wurde und „folglich keinen Niederschlag in den Akten“ (S. 97) fand, auch „nicht jede Einflußnahme“ (S. 117). Die damit angedeuteten Eigenheiten eines Berufungsverfahrens – nicht alles in den Akten Dokumentierte trug zur Entscheidung für den Kandidaten bei, aber alles trug dazu bei, die Entscheidung für den Kandidaten zu rechtfertigen – bleiben jedoch meist im Hintergrund. Allein im Bezug auf konfessionelle Fragen wird explizit darauf hingewiesen, dass „ressentimentgeladene Abwehrhaltungen selten offen artikuliert wurden“ (S. 113). Die Berufungspraxis während der NS-Zeit sei unter anderem gekennzeichnet durch die „Zunahme der Akteure“ (S. 126), wobei sie jedoch „nur von wenigen Akteuren bestimmt“ (S. 133) wurde. Das Zentrum aller Konflikte um politische Berufungen lokalisiert Daniels in der Hochschulautonomie, die „bei allen Wertabwägungen eine Art sacrosanctum war“ (S. 148).

Ein Überblickskapitel zu Lehrstuhlneugründungen leitet den zweiten Teil der Arbeit ein. Das Tübinger Historische Seminar erlebte zwischen 1918 und 1964 zwei Institutionalisierungsschübe: einen nach 1933 und einen nach 1945. Wobei der „Institutionalisierungsboom der Nachkriegszeit“ (S. 188) deutlich stärker ausfiel: Vertraten 1950 drei Ordinarien und ein Extraordinarius die Geschichtswissenschaft, so waren es 1963 neun Ordinarien, drei wissenschaftliche Räte und zahlreiche Assistenten. Den Begriff „Lehrstuhl“ verwendet Daniels in seiner Arbeit für alle planmäßigen Professuren, egal ob ordentlich oder außerordentlich. Obwohl er betont: „nur ein Mitglied der oligarchischen Spitzengruppe der Ordinarien [verfügte] über die Möglichkeiten, seine fachlichen und wissenschaftlichen Ambitionen vollgültig zu verwirklichen“ (S. 19), wird auch bei den zuvor behandelten Berufungen nicht systematisch zwischen Ordinariaten und Extraordinariaten unterschieden. Nicht zuletzt das Selbstverständnis der Professoren hätte hier für eine differenzierendere Herangehensweise gesprochen.

Zwei weitere Kapitel widmen sich nun ausführlich der Entwicklung zweier Teilfächer, Auslandskunde und Zeitgeschichte. Für die Auslandskunde interessiert sich Daniels, da sie „in ihrer Tübinger Spielart den Volkswissenschaften ein Dach bot“ (S. 17). Er geht der Frage nach, inwieweit dieses Fach auch an einer Universität Resonanz gewann, die sich nicht als ‚Grenzlanduniversität‘ verstand. Institutionell war die Auslandskunde in Tübingen bei den Geographen angesiedelt. Um das Fach methodisch und thematisch einzuordnen, analysiert Daniels unter anderem zahlreiche Dissertationen, die der Geograph Carl Uhlig zwischen 1922 und 1938 betreute: Besonders bemerkenswert sei, dass alle Studien historische Teile besaßen. Daniels sieht darin „eine hervorragende Grundlage für eine Zusammenarbeit“ (S. 221) zwischen Geographen und Historikern, allerdings betont er immer wieder, dass Letztere auf Abstand blieben.

Im letzten Kapitel zur Entwicklung der Tübinger Zeitgeschichte geht Daniels über seinen engeren Untersuchungszeitraum hinaus. Anhand der Vorlesungsverzeichnisse kann er zeitgeschichtliche Fragestellungen weit zurückverfolgen und belegen, dass sich die Zeitgeschichte schon vor 1900 etablierte. Sie besaß sowohl einen festen Platz in der Lehre als auch ein „reflektiertes Selbstverständnis“ (S. 270). Allerdings wandten sich die frühen Protagonisten dieser Teildisziplin – Wilhelm Busch (geb. 1861) und Karl Jacob (geb. 1864) – zeitgeschichtlichen Fragen eher in der Lehre zu, wissenschaftliche Publikationen dazu legten sie kaum vor. Anders war dies bei Adalbert Wahl (geb. 1871), und die Analyse seiner von 1926 bis 1936 in vier Bänden erschienenen „Deutschen Geschichte von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des Weltkriegs“ nimmt breiten Raum ein. Zitatenreich und überzeugend rekonstruiert Daniels das politische Denken und Wissenschaftsverständnis Wahls. Überdies zeigt er anhand von 33 zwischen 1922 und 1937 bei dem Historiker entstandenen Dissertationen zu zeitgeschichtlichen Fragen, was dieser erwartete und wie sehr seine Vorstellungen von historischem Arbeiten Eingang in die Studien seiner Schüler fanden. Wahl sah die Hauptaufgabe des Historikers neben dem Forschen im Erzählen, nicht aber im Erörtern. Und so legten die Schülerarbeiten ihr Augenmerk auf „ereignisgeschichtliche Rekonstruktion“, wohingegen „analytisches Fragen und Interpretation“ (S. 306) kaum vorkamen. Auch Äußerungen, die Wahls politischen Überzeugungen widersprachen, konnte Daniels nicht finden. Dies deute darauf hin, dass „die politische Verortung eines der Kriterien gewesen sein könnte, nach denen Doktorschüler ausgewählt wurden“ (S. 307). In den 1920er- und 1930er-Jahren zählte die Zeitgeschichte also nicht nur zu den etablierten Lehrthemen, sondern war auch zu einem Thema der Forschung geworden. Trotzdem dauerte es noch bis zum Jahr 1963, bis ihr ein ordentlicher Lehrstuhl eingerichtet und mit Gerhard Schulz besetzt wurde.

In einem kurzen Schluss rückt Daniels noch einmal die „großen Linien“, die den langen Untersuchungszeitraum prägen und die Kapitel miteinander verknüpfen, in den Mittelpunkt. Er betont das „beträchtliche Beharrungsvermögen“ (S. 358) der Personenverbände und unterstreicht, dass die politischen Zäsuren die Entwicklung der Geschichtswissenschaft in Tübingen aussagekräftig gliedern, jedoch keine Bruchlinien markieren. Die institutionellen Prozesse zwischen Staat und Universität versteht er als Kräftespiel, „in dem sich Bewegungen gegenseitig verstärkten oder abschwächten“ (S. 358).

Daniels Studie zur Tübinger Geschichtswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist eine facettenreiche Analyse, die spannende Einblicke in die Entwicklung und die Entwicklungsbedingungen einer Disziplin gewährt. In den beiden Fallstudien zu Auslandskunde und Zeitgeschichte demonstriert er zudem überzeugend, wie Vorlesungsverzeichnisse und Qualifikationsschriften gewinnbringend als Quelle verwendet werden können. Trotz der angedeuteten Kritikpunkte legt Mario Daniels insgesamt einen gelungenen und lohnenden Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaften vor.

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