R. Köster: Die Wissenschaft der Außenseiter

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Titel
Die Wissenschaft der Außenseiter. Die Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik


Autor(en)
Köster, Roman
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 198
Erschienen
Göttingen 2011: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 56,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claus-Dieter Krohn, Hamburg

Die aus einer Dissertation hervorgegangene Studie untersucht die Krise der Wirtschaftswissenschaften in Deutschland nach Ende des Ersten Weltkriegs und des Kaiserreichs, als die Historische Schule der Nationalökonomie ihre bisher dominante Rolle als Paradigma der "Staatswissenschaften" verloren hatte. Mit knappen, präzisen Rückblicken markiert die Arbeit zunächst die Charakteristika des Historismus, der im Grunde Ordnungstheorie des Obrigkeitsstaates gewesen ist. Seine Gegnerschaft zur klassischen angelsächsischen politischen Ökonomie hatte dazu geführt, dass sich theoretisches Denken in Deutschland kaum entwickeln konnte. So war das disziplinäre Vakuum nach 1918 umso größer, gerade zu einer Zeit, als die junge Republik beim Aufbau der Friedenswirtschaft, bei der Beseitigung der ökonomischen und sozialen Folgen des Krieges sowie vor dem Hintergrund des Kampfes gegen das seit Ende des 19. Jahrhunderts kumulierte Unbehagen über die technologisch induzierte Moderne der Expertise und der Perspektiven durch kompetente Theoretiker und versierte Praktiker für den konkreten wirtschaftspolitischen Prozess dringend bedurft hätte.

Kösters Kernthese ist, dass es der akademischen Nationalökonomie nach 1918 nicht gelungen ist, neue fachliche Paradigmen zu formulieren. Sie habe trotz der großen Nachfrage bei Studenten nicht nur vor den notwendigen handlungspraktischen Aufgaben versagt, sondern auch keine Orientierungen zur Überwindung der allgemeinen Verunsicherung in den gesellschaftspolitischen Umbrüchen geben können. Stattdessen habe sie sich in diverse Richtungen gespalten, deren geistiger Hermetismus eine Verständigung mit anders denkenden Kollegen ausschloss. Anstelle synthetisierender Diskurse hätten die meisten Wissenschaftler autochthone Systeme entwickelt, die nicht, wie Köster an diversen, heute grotesk erscheinenden Beispielen zeigen kann, auf kommunikativen Austausch, sondern auf Abgrenzung und Selbsterhöhung gerichtet waren.

Das gilt für die heute zu Recht vergessenen, damals aber einflussreichen "soziologischen Nationalökonomen" (O. Spann, F. Gottl-Ottlilienfeld, F. Oppenheimer) ebenso wie für die wenigen Versuche, wenigstens vom Anspruch her die pragmatischen angelsächsischen Theorien mit in den Blick zu nehmen (G. Cassel, R. Liefmann). Selbst die theoretisch geleitete österreichische Neoklassik gehört mit ihrem deduktiven Modelldenken in diesen Kontext. Denn unter dem Anspruch auf eine "fundamentale" oder "revolutionäre" Neubegründung der Wissenschaft tat diese es auch nicht. In solchem intellektuellen Egomanen-Kabinett erschöpfte sich der Austausch mit anderen lediglich abstrakt in fruchtlosen, jeweils das eigene System zur nicht hintergehbaren Norm setzenden Methodendiskussionen über "reine", "anschauliche", "verstehende" oder sonstige Theorien, die schon seit dem "Methodenstreit" in den 1870er-Jahren ihre Sterilität erwiesen hatten.

Aufgebrochen wurden die holistischen Systemfixierungen, in der hegelianische und historistische Traditionsbestände der Disziplin fortlebten, ab Mitte der 1920er-Jahre von einer jüngeren Generation, die mit jenen Entwürfen wie auch den statischen Gleichgewichtsannahmen der Neoklassik nichts mehr anfangen konnten. Ihre Beiträge etwa zur Konjunkturforschung, die in den angelsächsischen Ländern zu der Zeit ebenfalls in Blüte stand, suchten stattdessen sowohl die Wirtschaftspraxis voranzubringen als auch, darauf aufbauend, valide Theorieangebote für den dynamischen Prozess zu entwickeln, zum Beispiel in der Fiskalpolitik. Diese hoffnungsvollen Ansätze, die sich in den Anfangsjahren, so Köster, allerdings noch durch jeweils schlichten Ursachenmonismus auszeichneten, konnten unter der Wucht der Weltwirtschaftskrise allerdings kaum ausdifferenziert und weiterentwickelt werden. Wenig später wurden ihre originellsten Repräsentanten von den Nationalsozialisten vertrieben; ihre intellektuelle Wirkung konnten sie erst im britischen, mehr noch aber im amerikanischen Exil während der New Deal-Jahre entfalten. In NS-Deutschland dagegen wurden die Ablauf- und Prozessanalysen wieder von den alten Denkmustern der Ordnungstheorien überlagert, so dass ihre weitere Profilierung, ja die Professionalisierung der Disziplin mit internationaler Anschlussfähigkeit erst lange nach 1945 in der Bundesrepublik erfolgte.

Der Referenzrahmen der Weimarer Republik wird von Köster sinnvoller Weise in den weiteren zeitlichen Kontext vor 1918 und nach 1933 eingebettet. Die Arbeit ist methodisch als interdisziplinäre Analyse zwischen Historiographie und ökonomischer Dogmengeschichte angelegt; mit ihrem systemtheoretischen Ansatz ist sie theoretisch überzeugend fundiert. Zugleich lässt sie sich als Beispiel für die Intellectual History des deutschen Sonderweges lesen. Da die heutigen Wirtschaftswissenschaften an ihren eigenen dogmenhistorischen Traditionen kaum noch interessiert sind, haben solche Untersuchungen in den letzten Dekaden die Historiker übernommen. Der dazu bisher vorliegende Forschungsstand wird von Kösters Studie sorgfältig rezipiert, vertieft und um neue Einsichten bereichert. Mit ihrer Akzentuierung der "Krise der Nationalökonomie" stellt sie Fragen, die nicht allein das Versagen der Disziplin vor den Herausforderungen ihrer Zeit, etwa der Inflation und der Weltwirtschaftskrise, in neuem Licht erscheinen lassen, sondern die auch ihren epistomologischen inneren Kern auf den Prüfstand stellen. Das gilt nicht zuletzt für den trefflich herausgearbeiteten Widerspruch zwischen der institutionellen Expansion der Wirtschaftswissenschaften als Modefach nach 1918 (1922 Einführung des Diplomexamens) und den insbesondere an den Traditionsuniversitäten vermittelten irrelevanten Inhalten durch einen mehrheitlich noch im Kaiserreich sozialisierten Lehrkörper, der Fragen nach der Operationalisierbarkeit seines Tuns im Wirtschaftsprozess empört zurückwies.

Die Urteile des Verfassers fallen zurecht häufig scharf aus, sie sind jedoch immer abgewogen und wohlbegründet. Der systemtheoretische Ansatz, der von zu reduzierenden Komplexitäten eines Wissenschaftssystems ausgeht, um dieses verständlich zu machen, und der den Methoden die Funktion zuschreibt, Variabilitäten der Systemkommunikation transparent zu machen und Theorien zu kontrollieren, hätte gelegentlich allerdings etwas transparenter sein können. Gerade für die Wirklichkeit der 1920er-Jahre mit ihren Solitären und selbsternannten autochthonen Genies hätte das heuristische Gerüst noch etwas schärfer gefasst werden können. Am damaligen ausufernden Methodendiskurs betont der Autor weniger das, was er hätte sein müssen, nämlich kritischer Kontrollmechanismus für Denkstile und Deutungsmodelle, sondern das, was er tatsächlich war, ein hegemonialer Akt des Absteckens von fachlichen Claims, der die Vorannahmen schon als Ergebnisse noch zu leistender Forschungen vorwegnahm. Dieser Einwand schmälert jedoch nicht die spannende Untersuchung, die mit neuen Fragestellungen auch da originell bleibt, wo sie Bekanntes zum Gegenstand hat.

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