A. Hermann: Der Weg in den Krieg 1938/1939

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Titel
Der Weg in den Krieg 1938/1939. Quellenkritische Studien zu den Tagebüchern von Joseph Goebbels


Autor(en)
Hermann, Angela
Reihe
Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 83
Erschienen
München 2011: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
574 S.
Preis
€ 79,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Mühlenfeld, Institut für Geschichtswissenschaft, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Grundlage der Arbeit ist eine 2008 an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommene Dissertation. In ihr unternimmt die Verfasserin, zugleich langjährige Mitarbeiterin des Editionsprojektes zur Herausgabe der Goebbels-Tagebücher, den Versuch, die Validität eben dieser Tagebücher als historische Quelle hermeneutisch zu belegen. Damit sieht Angela Hermann ihre Arbeit als Auftakt zu den von ihrem Doktorvater Hans Günter Hockerts schon 1983 eingeforderten thematischen Einzelstudien zu den Goebbels-Tagebüchern (S. 27).

Zugleich ist die zu besprechende Monographie der (vorerst) letzte Beitrag zu einer Debatte, die schon kurz nach Erscheinen der ersten, unvollständigen Edition der Goebbels-Tagebücher 1987 entbrannte und bis heute unvermindert fortdauert. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob die Tagebücher eine authentische Quelle oder eine „Inszenierung für die Nachwelt“ sind, die womöglich nicht einmal allein aus Goebbels‘ Feder stammten, so insbesondere die Mutmaßungen Bernd Sösemanns (S. 7f.).1

Angela Hermann hat sich für ihre Beweisführung die Vorkriegsphase der Jahre 1938 und 1939 ausgewählt. Sie skizziert aus der Perspektive der Tagebücher die Geschehnisse vor den Annexionen Österreichs, des Sudetenlandes, des Memellandes und der Rumpf-Tschechoslowakei sowie das Vorspiel zum Angriff auf Polen. Als vornehmlich innenpolitische Geschehnisse nimmt sie zudem die Pogrome vom November 1938 und die Blomberg-Fritsch-Krise in den Blick. Dabei prüft sie die Richtigkeit und Verlässlichkeit der Schilderungen Goebbels‘ immer wieder anhand anderer Quellenüberlieferungen.

Dabei zeigt sich, dass die Angaben von Goebbels in Sachfragen durchweg hohe Glaubwürdigkeit in Anspruch nehmen können. In Fällen, in denen dies nicht zutrifft, bemüht sich die Verfasserin, die Umstände und Hintergründe dieser Fehleinschätzungen zu ergründen und zu plausibilisieren. Sinn der Übung ist erkennbar das Bestreben, die Unrichtigkeiten als nicht intentional, sondern der spezifischen und in manchen Situationen eben unzutreffenden Informationslage Goebbels‘ geschuldet zu belegen. Wenig überraschend macht sie dabei als einen wesentlichen Grund für Goebbels‘ zwischenzeitlich weniger gute Detailkenntnis des politischen Tagesgeschäftes seine Distanz zu Hitler verantwortlich, die wiederum auf die Affäre des Propagandaministers mit der Schauspielerin Lida Baarova zurückzuführen war (S. 303 u. 391). Unverständlich ist indessen, wieso die Autorin sich zu der These versteigt, Hitler habe Goebbels gerade im Vorfeld der Münchner Konferenz bewusst enger an sich gebunden, da er aufgrund der tschechischen Abkunft Baarovas ein Abfallen Goebbels‘ von der politischen Linie gegenüber der Tschechoslowakei oder gar ein Überlaufen seines Propagandaministers befürchtet habe (S. 190). Mangels Quellenbefunden ist dies bestenfalls eine auf dünne Indizien gegründete Mutmaßung.

Überhaupt sind derartig weitgehende (Über-)Interpretationen einer der wenigen prinzipiellen Kritikpunkte, die gegen die Arbeit vorzubringen sind. Immer wieder neigt die Verfasserin dazu, einzelne Sentenzen oder Worte in den Tagebüchern aufzugreifen und recht weitgehende Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, für die es wenig greifbare Belege gibt (beispielsweise S. 186 u. 236). So argumentiert Hermann durchaus überzeugend, dass Goebbels im Herbst 1938 einem militärischen Konflikt eher skeptisch gegenüberstand. Ob dies die Feststellung rechtfertigt, Goebbels habe dazu beigetragen, dass der Angriff zumindest im Herbst 1938 tastsächlich nicht stattfand, sei dahingestellt (S. 304). Reine Spekulation ist jedoch die Annahme, dass Goebbels seine Meinung zu einem möglichen europäischen Konflikt um des Sudetenlandes willen nicht im Tagebuch notiert habe, weil er im Falle eines Bekanntwerdens bei Hitler in Ungnade gefallen wäre (S. 291). Andererseits gibt die Autorin mehrfach einen Tagebuch-Eintrag vom 29. September 1938 wieder, wonach Goebbels, Göring und Neurath Hitler rieten, sich auf keinen militärischen Konflikt einzulassen (S. 304). In anderen Fällen wiederum sei die Nichterwähnung eines Geschehnisses dann wieder auf Goebbels‘ Nichtinformiertheit zurückzuführen (S. 193 u. 364). Wenn die Verfasserin aber tatsächlich annimmt, dass Goebbels in einigen Fällen sogar gegenüber seinem eigenen Tagebuch bewusst Informationen zurückgehalten habe (S. 188), dann schwächt sie damit selbst ihre an sich überzeugende Einschätzung zum Quellenwert und zur Zuverlässigkeit der Tagebücher.

Kritisch zu beurteilen ist auch der mehrfach geäußerte Befund, wonach die Tagebücher letztlich die monokratische Entscheidungsgewalt Hitlers insbesondere in der Außenpolitik belegten (S. 310 u. 526). Diese gründen auf einem argumentativen Zirkelschluss. Denn indem die Verfasserin auf ein Ego-Dokument zurückgreift, in dem die außenpolitischen Entscheidungen im Zwiegespräch von Staats- und Regierungschef sowie seinem ersten Kommunikator geschildert werden, fehlt es dem Diaristen Goebbels gerade am Wissen um die vorausgehenden Debatten, die Hitler auch mit anderen Protagonisten der NS-Führungsriege hatte, ehe er ihm – Goebbels – die jeweiligen Schritte gleichsam als eigene und einsame Entscheidung offenbarte. Insofern gab es durchaus einen „decision-making-process“ – allein er war für Goebbels nicht immer transparent und nachvollziehbar (S. 526). So gesehen macht sich die Verfasserin hier die personalistische Perspektive der Tagebücher zu sehr zu eigen.

Letzter Kritikpunkt eher stilistischer Natur ist die zeitweilige Redundanz der Arbeit, was jedoch ihrem argumentativen Aufbau geschuldet ist. Denn alle Themenfelder werden, obschon sich zeitlich teilweise überlagernd, separat abgehandelt. Und auch innerhalb der einzelnen Kapitel wiederholen sich manche Befunde, da die Autorin ans Ende eines jeden Kapitels eine Art Zwischenfazit gestellt hat, worin sie den Quellenwert der Tagbücher für das jeweilige Geschehen nochmals gesondert analysiert und die Rolle Hitlers oder anderer Akteure nochmals aus der Perspektive der Tagebücher würdigt.

Was einerseits den Lesefluss verzögert, zeigt andererseits auf, mit welcher Akribie die Autorin ihr Ziel verfolgt, den quellenkritischen Vorbehalten gegenüber den Tagebüchern endlich die Grundlage zu entziehen. Hier scheint auf, dass die vorliegende Arbeit insofern nicht nur eine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit über ein weidlich vertrautes Thema ist, sondern in gewisser Weise auch eine Art der schriftlichen Selbstverteidigung. Denn die methodologischen und interpretatorischen Einwände, die Kritiker wie Bernd Sösemann gegen die Tagebuch-Edition vorgebracht haben, zielen indirekt auch auf die langjährige Mitarbeiterin des Projektes ab. Insofern wird auch die Kleinschrittigkeit verständlich, mit der Angela Hermann in der knapp vierzigseitigen Schlussbetrachtung allen Einwänden gegen den Quellenwert der Tagebücher mit Textbeispielen über den eigentlichen Zeitrahmen ihrer Untersuchung vehement entgegentritt. In der Tat eignete sich dieses Kapitel durchaus als Schlusswort der (wissenschaftlichen) Debatte um die Tagebücher. Im Übrigen: Das gängige, auch von Rezensenten der Arbeit Hermanns nochmals ins Feld geführte Argument gegen die Authentizität der Goebbels-Tagebücher 2, wonach diese eine Stilisierung sein müssten, weil Goebbels ja selber die Absicht offenbart habe, die Tagebücher zu veröffentlichen und die Verwertungsrechte an ihnen bereits an den Eher-Verlag verkauft habe, lässt sich leicht widerlegen. Dazu braucht es einzig eine synoptische Lektüre der Tagebücher und Goebbels‘ Kaiserhofschrift.3 Hier wird klar ersichtlich, dass die in Aussicht gestellten Überarbeitungen des Rohmaterials nicht nur in der Streichung unliebsamer Bemerkungen, sondern häufig in deren völliger Verkehrung ins Gegenteil bestanden haben. Insofern ist das stichhaltigste Argument für die Validität der Tagebücher bereits vor bald schon 80 Jahren erbracht worden, und zwar – wenn auch indirekt – durch Goebbels selbst. Vermessen ist indessen auch, die politisch-ideologischen Aussagen Goebbels‘ in den Tagebüchern pauschal als propagandistische Ein- und Auslassungen zu werten. So unerträglich viele Bemerkungen des Propagandaministers auch sein mögen – so wenig trägt es zur historischen Erkenntnis bei, sie in Gänze als substanzlos, weil ideologisch verbrämt abzutun. Denn tatsächlich kommt die Einschätzung, alle Äußerungen Goebbels‘ seien letztlich bloße Propaganda gewesen, der lange verfochtenen, exkulpatorischen Argumentation sehr nahe, wonach die deutsche Bevölkerung von einem Propaganda-Genie verführt worden sei. So gesehen ist es gerade der gänzlich indifferente Gebrauch des Propaganda-Begriffes, der die Goebbels-Legende weiterstricken hilft – und nicht, wie etwa wiederum Bernd Sösemann argumentierte, die Wiedergabe des originalen Goebbels-Sprechs aus den Tagebüchern.

Anmerkungen:
1 Bernd Sösemann, Inszenierungen für die Nachwelt. Editionswissenschaftliche und textkritische Untersuchungen zu Joseph Goebbels' Erinnerungen, diaristischen Notizen und täglichen Diktaten, in: Lothar Gall (Hrsg.): Neuerscheinungen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 1992, S. 1–45.
2 Dominik Petzold, „Vorher noch Helga ordentlich verprügelt.“ Für wen schrieb Goebbels Tagebücher, in: Süddeutsche Zeitung v. 11. Nov. 2011.
3 Joseph Goebbels, Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei. Eine historische Darstellung in Tagebuchblättern (Vom 1. Januar 1932 bis zum 1. Mai 1933), München 1934.

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