R. Jaworski u.a. (Hrsg.): Der genormte Blick aufs Fremde

Cover
Titel
Der genormte Blick aufs Fremde. Reiseführer in und über Ostmitteleuropa


Herausgeber
Jaworski, Rudolf; Loew, Peter Oliver; Pletzing, Christian
Reihe
Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts 28
Erschienen
Wiesbaden 2011: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
290 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joanna Dybiec, Instytut Neofilologii, Pädagogische Universität Krakau

Das sehr sorgfältig herausgegebene Buch besteht aus 18 Texten, basierend auf einer in den Räumen der Lübecker Academia Baltica veranstalteten Tagung vom Herbst 2008. Wie dem Untertitel zu entnehmen, sind die Beiträge vor allem Reiseführern durch Ostmitteleuropa vom Beginn des modernen Verlagswesens in der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart gewidmet. Nicht ohne Grund bemerken die Herausgeber in ihrer Einleitung, dass die Reiseführer über diesen Teil Europas relativ geringes wissenschaftliches Interesse gefunden haben. Generell eröffnen Reiseführer als Gattung der Gebrauchsliteratur und Produkt der Populärkultur eine breite Palette von Forschungsmöglichkeiten für Disziplinen wie Geschichtswissenschaft, Soziologie, Literatur- oder Medienwissenschaft. Sie bieten hervorragendes Material zur Analyse von Vorstellungen und Stereotypen über touristische Attraktionen oder die Einwohner der besuchten Orte, über die sich verändernden Kanones attraktiver Reiseziele. Man findet hier auch Reflexe der Autostereotype derjenigen Kulturen, in denen die Reiseführer entstanden sind sowie der (angenommenen) Mentalität und Empfänglichkeit des touristischen Lesers. Alle genannten Fragen werden im vorliegenden Sammelband angesprochen.

Der Gebrauchscharakter der Gattung Reiseführer zeigt sich an häufigen Neuauflagen und Aktualisierungen; die damit einhergehende Flüchtigkeit des Mediums ist ein Problem für die Forschung, das jedoch nur selten wissenschaftlich beschrieben wird. Entgegen allem Anschein ist es nicht leicht, einen kompletten Quellenkorpus von Reiseführern zu einem bestimmten Ort oder einem bestimmten Zeitraum zusammenzustellen. Auf diese Schwierigkeit weisen eingangs die Herausgeber des Bandes hin, indem sie Reiseführer zur „grauen Literatur“ (S. 9) zählen und hervorheben, dass derartige Werke von National- oder Fachbibliotheken oft nicht systematisch gesammelt werden. Das werfe „ein sehr bezeichnendes Licht auf die selektiven Auswahlkriterien unserer mehrheitlich immer noch auf die Hochkultur konzentrierten Speicher des kollektiven Gedächtnisses“ (S. 10).

Der Schlüsselbegriff des Bandes ist der im Titel genannte „Blick” – die Perspektive und das Herangehen an die kulturelle Rolle von Reiseführern. Auch wenn sich keiner der Autoren darauf bezieht, lässt sie an die Metapher vom „touristischen Blick“ des britischen Soziologen John Urry denken, der den Fremdenverkehr einerseits als Indikator für moderne und postmoderne Erfahrungen und andererseits als Lebensstil analysiert.1 Der „touristische Blick“ ist die sozial organisierte und systematisierte Praxis, Eindrücke aufzunehmen, die von Touristen als außergewöhnlich angesehen werden. Er determiniert und reguliert die Beziehungen zwischen dem Touristen und seiner Umgebung.

Als eine Reflexion der Konstruktion des „Reiseführerblicks“ zu lesen ist der einleitende Text von Peter Oliver Loew mit dem Titel „Molwanîen ist überall. Die imaginären Welten Ostmitteleuropas, das reisende Individuum und der unaufhörliche Schwall der Erzählungen”. Loew bezieht sich auf einen in vielen Ländern sehr beliebten Reiseführer durch ein fiktives Land.2 Hier wird die Sicht auf Ostmitteleuropa parodiert und soweit mir bekannt, ist dieser Reiseführer in keine Sprache der Region übersetzt worden.

Das hier anzuzeigende Buch besteht aus fünf Abschnitten und einem Kommentar. Der erste Teil „Grundlagen“ enthält Texte zum Reiseführer als Gattung. Besonders hinzuweisen ist auf Susanne Müllers Text zur Medienkulturgeschichte. So entstanden beispielsweise die ersten Baedeker unter dem Einfluss der Eindrücke und Perspektiven, die die damals beliebten Panoramen und vor allem Eisenbahnen lieferten. Die Führer waren an den Bahnstrecken und Bahnstationen entlang ausgerichtet. In das Thema „Reiseführer und Geschichte“ führt anhand einer Baedeker-geführten Reise durch die Habsburgermonarchie Maciej Janowskis ein. Bezogen auf die ideologischen Implikationen von Reiseführern beschäftigt sich Martina Thomsen mit nationalen Stereotypen in Veröffentlichungen des bekannten Berliner Verlags Grieben zu den Metropolen Prag, Budapest und Wien aus den Jahren 1938 bis 1945. Sie belegt, dass diese Reiseführer zu einem Werkzeug der NS-Germanisierungspolitik wurden. Bemerkenswert für die jüngste Zeit ist Marta Kowerkos Text über polnische und litauische Stadtführer durch Wilna seit 1990, in dem ganz aktuelle Spannungen zwischen Polen und Litauen zur Sprache kommen. Wenn von der polnischen Wahrnehmung Wilnas die Rede ist, kommt man nicht umhin, sich mit dem in Polen geführten Diskurs über die Kresy (die ehemaligen polnischen Ostgebiete) zu befassen, und so geht auch Kowerko auf den Kresy-Mythos ein. Gestützt auf Überlegungen anderer Wissenschaftler schreibt sie unter anderem über die Symbolik der Kresy als Schlüssel zur nationalen Opferrolle der Polen. Allerdings scheint die dabei verwendete postkoloniale Kritik des Kresy-Diskurses dessen historische Grundlagen nicht umfassend zu berücksichtigen, und auch nicht die Tatsache, dass es unter kommunistischer Herrschaft im öffentlichen Raum keine Möglichkeit gab, auf diesen Diskurs einzugehen, wodurch die Erinnerungskultur zu den Kresy in den Untergrund verdrängt wurde.

Im Abschnitt „Reiseführer und Gegenwart“ sind Texte hervorzuheben, die einen Blick sozusagen von innen ermöglichen, aus der Perspektive von Reisebuchautoren (Tomasz Torbus, Małgorzata Omilanowska). Diese machen sich Gedanken über den Entstehungsprozess von Reiseführern, beschreiben Limitationen, die sich sowohl aus dem Format des Führers wie auch vor allem aus den Vorgaben der Verlage erklären. Besonders interessant ist Tomasz Torbus' Strategie, mit Stereotypen in Fotografien umzugehen, indem er sie nicht vermeidet, sondern versucht, sie durch Ironie, Vieldeutigkeit und die Einbettung von Fotos in einen vorurteilsfreien Kontext zu „entwaffnen“.

Der letzte Teil „Modelle und Ausblicke“ behandelt die Nutzung neuer Technologien. Hier wird gezeigt, wie elektronische Medien erweiterte Funktionen übernehmen und auch neue Formen des Fremdenverkehrs entstehen lassen, etwa Couchsurfing oder Geocaching, das Piotr Kuroczyński behandelt. Er zeigt anhand eines Projekts mit Studenten in Breslau und Berlin, wie Bildungsaufgaben erfüllt und neue kulturelle Räume kennen gelernt und entdeckt werden können. Das Buch schließt mit einem wichtigen und weiterführenden Kommentar, für den mit Hinnerk Dreppenstedt ein Verlagsredakteur gewonnen wurde. Dieser schildert seine pragmatischen beruflichen Erfahrungen. Wichtig für ihn sind wirtschaftliche Erwägungen und gute Marktkenntnis. Dieser Kommentar ist gewissermaßen eine Klammer, die die wissenschaftlichen Analysen des Forschungsgegenstandes Reiseführer umgreift. Dreppenstedts Stimme lässt sich als wertvolle und realistische Antwort auf manche gutgemeinten, wenn auch sehr idealistische Anforderungen werten, die an Reiseführer gestellt werden. Wer als Wissenschaftler Stereotypen, Vorurteile und Vereinfachungen erforscht (und kritisiert), äußert nicht selten die Hoffnung auf das Entstehen „objektiver“ Reiseführer, die zum Kennenlernen anderer Kulturen anregen, für kulturelle Unterschiede sensibilisieren, und er gibt auch gerne Ratschläge, wie dies zu erreichen sei (S. 70).

Zu guter Letzt sei auf die grafische Gestaltung des Buches hingewiesen. Es enthält viele Illustrationen, die hauptsächlich aus alten und neuen Reiseführern stammen. Für den Umschlag wurde ein suggestives Bild von Jacek Yerka gewählt, das mit seiner Darstellung vielfach verflochtener Wege, die durch eine wie aus mittelalterlichen Backsteinstädten zussamengefügte Märchenlandschaft führen, einen magischen Realismus präsentiert, der gut zum Thema des Buches passt.

Dem aufmerksamen Leser stellen sich wichtige und weniger wichtige Fragen: Warum enthält der Text über Fremdheit in Reiseführern eine Fallstudie zu Marokko, wo doch der Buchtitel Aufsätze zu Ostmitteleuropa verspricht? Warum enthält der Abschnitt „Reisen und Literatur“ nur einen Beitrag, der zwar sehr interessant ist, nämlich die „Mitte“ Europas in ausgewählten Romanen und Texten mitteleuropäischer Autoren analysiert, doch wie fügt er sich in das Gesamtthema des Bandes ein? Und wie passt ein Beispiel aus dem Italien des 18. Jahrhunderts dazu? Selbst mit größter Sorgfalt edierte Bücher wie das vorliegende sind nicht frei von Fehlern. So wurde das Beitrittsdatum Polens zur EU von 2004 auf 2002 vorverlegt (S. 191). Diese Bemerkungen mindern jedoch nicht die Bedeutung des Buches, das eine erkenntnisreiche Lektüre garantiert und anhand Ostmitteleuropas einen wertvollen Beitrag zur historischen Erforschung von Reiseführern darstellt.

Anmerkungen:
1 John Urry, The Tourist Gaze, London u.a. 1993 (zahlreiche Neuauflagen).
2 Santo Cilauro / Tom Gleisner /Rob Sitch, Molvanîa. A Land Untouched by Modern Dentistry, South Yarra Victoria 2003. Nicht mit der wörtlichen Übersetzung: „Molvanîen: ein von der modernen Zahnheilkunde unberührtes Land“, deutsch erschienen als Molwanîen. Das Land des schadhaften Lächelns, München 2005

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