V. Sellin: Gewalt und Legitimität

Titel
Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen


Autor(en)
Sellin, Volker
Erschienen
München 2011: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger von Krosigk, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Mit dem Buch „Gewalt und Legitimität“ legt der Heidelberger Historiker Volker Sellin eine höchst lesenswerte Studie zur Bedeutung von Gewalt und Legitimität für die Herrschaftserhaltung europäischer Monarchien vor. Volker Sellin strukturiert das Buch anhand konzeptioneller Themenfelder in zehn Kapitel. Während es bei ,Legitimität‘ vor allem um Ressourcen und Strategien geht, welche die konstitutionellen Monarchien zur Legitimierung ihrer Herrschaft einsetzten, stellt Gewalt gegen die eigenen Bürger den Akt dar, in dem Dynastien die Grundlage ihrer Herrschaft, nämlich Legitimität, verlieren. Mit anderen Worten: Wie versuchten Dynastien im Kontext konstitutioneller Monarchien, Macht zu erlangen, zu erhalten und zu legitimieren, und wie verloren sie diese wieder?

„Gewalt und Legitimität“ reiht sich ein in eine Generation von vergleichenden historischen Studien zu den Grundlagen politischer Herrschaft im Zeichen der Verfassungsentwicklung bzw. konstitutionellen Monarchie in Europa.1 Es ist allerdings die erste umfassend vergleichende Monografie zu monarchischer Legitimierungspolitik in Europa.2

Volker Sellin setzt den zeitlichen Rahmen für seine Studie in Anlehnung an den von Jacob Burckhardt geprägten Epochen-Begriff „Revolutionszeitalter“. Gerechtfertigt ist diese Epocheneingrenzung, da die Monarchie auch nach der Französischen Revolution bis zum Ende des Ersten Weltkriegs die dominierende Staatsform in Europa war. Mit dem Wegfall des Begriffs des Gottesgnadentums als Legitimitätsgrundlage und den politischen Forderungen der Revolutionen mussten die Monarchien während des (langen) 19. Jahrhunderts fortwährend ihre Legitimität neu begründen und dem drohenden Verlust entgegenwirken. Das Zeitalter der Revolutionen war auch ein Zeitalter der Restaurationen mit einer fortwährenden Anpassung von Legitimitätsstrategien (S. 5f.). Die Studie umfasst die fünf europäischen Großmächte (England, Frankreich, Österreich und Russland sowie Preußen und das spätere Deutsche Kaiserreich). Auch Spanien und Italien werden berücksichtigt.

Volker Sellin weist darauf hin, dass die Verwendung des Begriffs ‚Legitimität‘ (légitimité) bezeichnenderweise mit dem Untersuchungszeitraum zusammenfällt. So ging ‚Legitimität‘ erst kurz vor der Französischen Revolution in den Sprachgebrauch ein. Seit der Französischen Revolution mussten sich die Monarchen bzw. Dynastien immer neuen Herausforderungen der Legitimitätsbegründung stellen und mit entsprechenden Legitimitätsstrategien versuchen, ihre Herrschaft zu sichern. Galt im Ancien Régime das Gottesgnadentum noch als alleinige Legitimitätsquelle der absoluten Monarchie, so verlor dieser Begriff in Folge der Aufklärung bzw. seit der Französischen Revolution an Glaubwürdigkeit und reichte als Legitimationsquelle nicht mehr aus (S. 3).

Ohne eine ausreichende Legitimitätsquelle lief die Monarchie Gefahr, als Tyrannei, Despotie oder Gewaltregime die Grundlagen ihrer Herrschaft zu verlieren. Im 19. Jahrhundert bedeutete das Scheitern einer Legitimitätsstrategie und Gewalt häufig auch das Ende der Monarchie als Staatsform.

Das Buch gliedert sich, unter Weglassung von Einleitung und Schluss, in acht thematisch bzw. exemplarisch geordnete Kapitel. Das Kapitel „Gewalt“ eröffnet die Untersuchung von Fällen, in denen ein Monarch seine Legitimität bereits verloren hatte oder diese verloren zu gehen drohte. Darauf folgen drei Kapitel, die sich jeweils mit historischen Legitimitätsquellen beschäftigen, die bereits im Ancien Régime eine wichtige Rolle spielten: „Dynastie“, „Religion“ und „Kriegserfolg“. Im Kapitel „Aufklärung“ geht es um das Verhältnis von Monarchie und Aufklärung und die Auswirkung Letzterer auf das Streben von Monarchien nach einer Begründung ihrer Legitimität, die auf Vernunft beruht. In den drei Kapiteln „Verfassung“, „Nation“ und „Soziale Reform“ geht es um drei grundlegende Veränderungsprozesse des 19. Jahrhunderts: Konstitutionalisierung des Staates, Durchbruch des Nationalprinzips und soziale Reformen. Das abschließende Kapitel „Charisma“ untersucht die plebiszitäre Legitimation charismatischer Kriegshelden, die zu Volkshelden und Rettern der Nation aufstiegen. Solche Kriegshelden zwangen Monarchen, ihre dynastische Legitimität durch Selbstdarstellung und politisches Handeln charismatisch zu erhöhen. In Anlehnung an Max Weber wird Charisma als ein revolutionäres Prinzip verstanden, das andere Formen der Legitimität, wie eine auf Tradition fußende dynastische Herrschaft, herausforderte.

„Gewalt und Legitimität“ verbindet überzeugende Fallstudien aus einzelnen europäischen Monarchien und untersucht systematisch die Legitimierungsstrategien einzelner Monarchen und Herrscherhäuser zum Zwecke dynastischer Herrschaftssicherung. Abschließend sollen drei kritische Betrachtungen angebracht werden, die allerdings der vorzüglichen Qualität dieser vergleichenden Studie keinen Abbruch tun.

Erstens ist der Begriff ‚Gewalt‘ vielgestaltiger als in „Gewalt und Legitimität“ dargestellt und hätte auch aus Sicht der politischen Theorie ausführlicher behandelt werden können. Der Hinweis darauf, dass Gewalt ohne Legitimität von jeher als Tyrannei (Usurpation bzw. Despotie) betrachtet wurde, greift zu kurz. Im Zusammenhang mit Legitimitätsstrategien und der Abwehr von Legitimitätsverlust kommt dem Begriff „Gewalt“ eine sehr viel subtilere Funktion zu, da Gewalt – vor allem gegen Feinde der inneren Ordnung bzw. gegen äußere Feinde – durchaus Teil von Legitimitätsstrategien sein konnte.

Zweitens mangelt es bei manchen Schlussfolgerungen zu gescheiterten Legitimierungsstrategien an einer kritischen Distanz zur konstitutionellen Monarchie als einer historischen Staatsform. So greift Volker Sellin wiederholt auf die Satzwendung „Wenn ...“ zurück, um darzustellen, dass das Scheitern einzelner europäischer Monarchien vor allem mit dem Fehlen einer angemessenen Legitimitätsstrategie im entscheidenden Moment zusammenfiel. Dabei wird nicht thematisiert, dass sich im 19. Jahrhundert neue, revolutionäre Konzeptionen von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft entwickelten, deren Verwirklichung in vielen Ländern den Rahmen auch einer anpassungsfähigen (konstitutionellen) Monarchie sprengte. Warum sollte sich das Streben nach demokratischer Repräsentation oder einer sozialistischen Gesellschaft in einer Monarchie verwirklichen? Ein kritischer Blick auf die monarchischen Herrschaftshäuser, die über den Ersten Weltkrieg hinaus in einigen europäischen Ländern noch erhalten geblieben sind, zeigt, dass diese – einmal abgesehen von einer repräsentativen Aufgabe – für das Funktionieren und die Legitimität moderner politischer Systeme eigentlich irrelevant geworden sind.

Drittens wurden zwar einzelne plebiszitäre Formen der Legitimitätssicherung, wie beispielsweise bei Napoleon III., behandelt, doch fällt insgesamt die nur unzureichende Berücksichtigung staatlich-institutioneller Strategien zur Legitimitätssicherung ins Auge. So wurde die konstitutionelle Monarchie durch die Interaktion der Bürger mit der Verwaltung und anderen staatlichen Einrichtungen alltäglich greifbar. Welche Strategien entwickelten Monarchien hier, um durch volkstümliche Elemente in Staat und Verwaltung Legitimität zu begründen?3

Dieses Buch ist höchst lesenswert und unterhaltsam geschrieben. Die Studie beeindruckt durch eine breite europäische Perspektive, die dank der Mehrsprachigkeit Volker Sellins auf nationalen Geschichtsschreibungen beruht. Die exemplarischen Themenfelder und vergleichenden Fallstudien sind sehr gut ausgewählt und gekonnt miteinander in Verbindung gesetzt.

Anmerkungen:
1Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. durchges. Aufl. München 2000 (1. Aufl. 1999); Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999.
2Vgl. auch die Tagungsbände Giulia Guazzoloca (Hrsg.), Sovrani a metà. Monarchia e legitimanzione in Europa tra Otto e Novecento, Köln 2009; Susan Richter / Dirk Dirbach (Hrsg.), Thronverzicht. Abdankung in Monarchien vom Mittelalter bis in die Neuzeit, Köln 2010.
3Vgl. beispielsweise die Rolle der Bürgerbeteiligung in der staatlichen Verwaltung zur Begründung von Legitimität: Rüdiger von Krosigk, Bürger in die Verwaltung! Bürokratiekritik und Bürgerbeteiligung in Baden. Zur Geschichte moderner Staatlichkeit im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 2010.