M. Werner: Stiftungsstadt und Bürgertum

Titel
Stiftungsstadt und Bürgertum. Hamburgs Stiftungskultur vom Kaiserreich bis in den Nationalsozialimus


Autor(en)
Werner, Michael
Erschienen
München 2011: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
510 S.
Preis
€ 54,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elisabeth Kraus, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die Geschichte der spätneuzeitlichen Stiftungskultur tritt in den letzten Jahren immer mehr aus dem Schatten der Bürgertumsgeschichte und gewinnt eigenes Profil als vielfach anknüpfungsfähiges und in interdisziplinären Perspektiven auszuleuchtendes Segment der Neueren Geschichte. Ohne die Mutterschaft der Bürgertumsgeschichte leugnen zu wollen, wächst die Darstellung von Stiftungswesen und Mäzenatentum in lokalem und regionalem Rahmen zu einem eigenständigen Forschungsgebiet heran und entfaltet anhand sozial-, wirtschafts-, rechts-, kultur-, mentalitäts- und religionsgeschichtlicher Fragestellungen ein beachtliches Erkenntnis- und Erschließungspotential. Ihr geht es längst nicht mehr nur darum, welche Bedeutung Stiftungswesen und Mäzenatentum für Konstituierung, Differenzierung und Positionierung des Bürgertums innerhalb der Stadtgesellschaft hatte. Sie will darüber hinaus klären, welchen Beitrag die – mehr oder weniger bürgerliche – Stiftungskultur leistete für Industrialisierung und Urbanisierung, für Modernisierung und Bürokratisierung, für Professionalisierung und Nachhaltigkeit privatwohltätiger Strukturen.

Die bei Andreas Schulz (Frankfurt/Berlin) entstandene Dissertation begründet die Auswahl des Untersuchungsraums rasch und einleuchtend: Es ist nicht nur die lange Stiftungstradition in der Freien und Hansestadt Hamburg, die – im Vergleich zu gesamtnationalen Entwicklungen – Brüche wie Spezifika der Stiftungstradition erst erkennen lässt. Das Mäzenatentum im engeren Sinne, also der private Einsatz für kunst- oder kulturbezogene öffentliche Zwecke, hatte in der Handels- und Kaufmannsstadt, anders als in Residenzstädten und monarchisch geprägten Zentren, kein vom Adel gestaltetes Vorbild, sodass sich das Stiftungswesen seit dem Kaiserreich in Hamburg „in bürgerlicher Reinkultur studieren“ (S. 22) lässt.

In differenzierter Auseinandersetzung und kritischer Abgrenzung zu bisherigen Forschungsbemühungen verwendet Werner den Begriff der Stiftungskultur (S. 13), der als analytische Kategorie künstliche Trennlinien überwindet und Akteure, Kontrolleure sowie Funktionsträger in den Blick nimmt. Zwar auch für die Stiftungskultur Hamburgs in der Zeit der „Kaufmannsrepublik“, mehr noch für die Zeit des „demokratischen Stadtstaats“ der Weimarer Republik, vor allem aber für den „Stadtgau“ der NS-Zeit hat Michael Werner Grundlagenforschung betrieben. Hierbei werden drei Schwerpunkte gesetzt, welche die Untersuchung entlang der Zeitachse strukturieren. Es geht um die Interdependenz von Stiftungskultur und kommunaler Leistungsverwaltung, um gruppen-, generationen- und geschlechtergeschichtliche Fragenkomplexe, die nach Einzel-, Familien- oder Kollektivstiftungen differenziert sind, sowie um Stifternetzwerke, wie Verwaltungsgremien oder Fördervereine, als Mittel von Selbstverständigung und Vergemeinschaftung. Es geht um allgemeine Merkmale, lokale Besonderheiten, immer und vorrangig um die Wirkungsmacht dieses bürgerlich-kulturellen Musters und letztlich um die Frage, inwieweit Stiftungen auch Indikatoren waren für Veränderungen in der Sozialformation des Bürgertums innerhalb eines dreiviertel Jahrhunderts.

Der Befund einer sich – analog zu den Prozessen auf gesamtstaatlich-nationaler Ebene – „außerordentlich“ (S. 131) entfaltenden Stiftungskultur im Hamburg des Kaiserreichs überrascht zwar ebenso wenig wie die am bürgerlichen Wertekanon orientierten Erfordernisse der von Stiftungen potentiell Begünstigten, die „würdig“, „unbescholten“ oder auch „unverschuldet in Not geraten“ zu sein hatten; „Bedürftigkeit“ war demgegenüber kein Auswahlkriterium. Dass in der „kultur- und wissenschaftsfernen Kaufmannsrepublik“ (S. 73) vom philanthropisch aktiven (Groß-)Bürgertum, zumindest bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein, erheblich mehr für sozial-karitative als für andere Zwecke gestiftet und gespendet wurde, ist dabei ebenso wenig erstaunlich wie der Umstand, dass örtliche Gegebenheiten und stadtspezifische Traditionen das jeweilige Stiftungsgebaren in der Regel maßgeblich geprägt haben.

Markant ist hingegen die hohe Zahl an Stipendienstiftungen für Ausbildungsförderung und Wohnstiftungen, die „gar als Signum des Hamburger Stiftungswesens“ (S. 53) in jener Epoche bezeichnet werden können. Sie galten den Stiftern als passable Maßnahme, (klein-)bürgerliche Existenzen vom sozialen Abstieg gleichermaßen wie von der öffentlichen Fürsorge fernzuhalten. Im liberal-merkantilen Weltbild des stifterisch aktiven Hamburger (Groß-)Bürgertums sollte sich die städtische Politik um die Wirtschaftsförderung kümmern und sich in der kommunalen Sozialpolitik durch sozial-karitative Stiftungen entlasten lassen. Kritisch sei nachgefragt, inwieweit es sich hierbei wirklich um ein Hamburger Spezifikum oder nicht doch eher um eine für Handels- und insbesondere Hansestädte typische Erscheinung handelt.

Ob es aber tatsächlich „keine signifikanten Unterschiede“ (S. 133) in jener Epoche zwischen dem philanthropischen Handeln von Juden und Nicht-Juden gab, wird mehr vermutet als begründet. Eine vergleichende, auf umfassenden sozial-statistischen Erhebungen fußende Analyse der jeweiligen Motive und Anlässe, Zwecksetzungen und Begünstigtenkreise, Verwaltungsgremien und Anlagestrategien liegt dieser Aussage jedenfalls nicht zugrunde. Vom Stiftungsverhalten – etwa der Familie Warburg – auf die gesamte jüdische Population Hamburgs zu schließen, ist daher zumindest riskant.

Für den hanseatischen Stadtstaat eindeutig belegt ist, dass die mit politischem Bedeutungsverlust des Bürgertums einhergehende Demokratisierung und wohlfahrtstaatliche Entwicklung der Gesellschaft in der Weimarer Zeit nicht zwangsläufig einen Rückgang des privaten, gemeinwohltätigen Engagements und der Stiftungskultur insgesamt zur Folge haben musste. Das professionalisierte und bürokratisierte städtisch-staatliche Fürsorgesystem hat zwar zu einer Marginalisierung des sozial-karitativen und zu einem Rückgang des kunst- und kulturbezogenen Segments geführt. Bei Letzterem allerdings traten statt individueller mehr und mehr kollektive Anstrengungen, etwa für die Errichtung zahlreicher Museen und der Universität, in den Vordergrund. Auch die freien Wohlfahrtsverbände und damit ein wichtiger Träger nichtstaatlicher Wohltätigkeit blieben im Wesentlichen bestehen. In Sozialprofil und Handlungsweisen sind viele Kontinuitätslinien, sei es hinsichtlich der Verbindungen von jüdischen mit nicht-jüdischen Stifterkreisen oder der personellen wie strukturellen Kontinuitäten in den Netzwerken, über die Jahre 1918/19 hinweg erhalten geblieben, weshalb „für diesen Zeitpunkt noch nicht von einer beginnenden Entbürgerlichung der Siftungskultur Hamburgs gesprochen werden“ (S. 276) kann. Erst gegen Ende der 1920er-Jahre wird der Generationenwechsel, insbesondere in Gestalt der Brüder Reemtsma oder eines Alfred Toepfer, in der nach wie vor aktiven philanthropischen Szene Hamburgs deutlich.

Hat Michael Werner für die Stiftungskultur in der Zeit der Weimarer Republik bereits etliche Leerflächen gefüllt, betritt er für die Jahre des Nationalsozialismus fast vollständig Neuland und beschreibt präzise und anhand vieler Hamburger Beispiele Entwicklungen, die sicherlich nicht nur für das untersuchte Stadtbeispiel Gültigkeit beanspruchen können. Im Einzelnen sind, der „mehrstufige und intervallartige Prozess“ (S. 316) der „Arisierung“ jüdischer Stiftungen oder auch die Einverleibung des Vermögens der Stiftungen von Logen, Gewerkschaften und Genossenschaften in NS-nahe Stiftungen zu nennen.

Wenn auch das Jahr 1933 keine Zäsur hinsichtlich der Quantitäten des Hamburger Stiftungswesens bedeutet, wurden doch die Weichen anders gestellt: Die kultur-, bildungs- und wissenschaftsbezogenen Stiftungen nahmen ab, Personal und Netzwerke wurden „arisiert“ und die Traditionen bürgerlicher Stiftungskultur erodierten. Eine Zunahme hingegen verzeichneten die betrieblichen und Firmen-Stiftungen, was aufgrund der Steuerrechtsnovelle von 1937 in den Folgejahren einen kurzen „Stiftungsboom“ (S. 378) bewirkte. Nach wie vor aber entfalteten führende Unternehmerpersönlichkeiten wie -familien stifterische und mäzenatische Aktivitäten, um sich, auch außerhalb der Reichsgrenzen, der Gewogenheit der lokalen NS-Größen zu versichern. Diese wiederum ergriffen offensiv und gezielt das Mittel der Stiftungen, um zum Beispiel die Interessen der von ihnen mitgeleiteten NS-Organisationen zu fördern. Ihrem Kern als Träger und Ausdruck bürgerlicher Stiftungskultur des 19. Jahrhunderts auch dadurch beraubt, dass die Stadt vom bürgerlichen Handlungsfeld zum nationalsozialistischen Herrschaftsraum mutierte, dienten die Stiftungen der persönlichen Machtausübung und Vermögensakquise, der Günstlingswirtschaft und dem Ausbau von Klientelbindungen. Sie brachten zwei der wichtigsten Herrschaftsmittel „zum Vorschein: Korruption und Sozialpopulismus“ (S. 428).

Die mit hoch reflektierten und kompakten Betrachtungen schließende Studie erfüllt nicht nur die Erwartungen an das in Deutschland ohnehin noch nicht sehr elaborierte Genre einer neuzeitlichen Stiftungsgeschichte im lokalen Rahmen. Profilstiftend sind zudem der drei Epochen umspannende Untersuchungszeitraum und die Vielfalt der Untersuchungsperspektiven, die Motivlagen und Zwecksetzungen, die wichtigsten Sektoren privatwohltätigen Engagements, Wechselwirkungen zwischen lokaler Stiftungskultur und kommunaler Daseinsfürsorge wie auch städtisches Verwaltungshandeln gleichermaßen beleuchten. In der aspektreichen Gestaltung und quellensatten Bearbeitung der Forschungsagenda, der methodischen Souveränität, der hohen Ergiebigkeit und auch in der gut lesbaren Präsentation der Ergebnisse überzeugt die Studie vollauf. Neben einschlägigen Arbeiten zu Münster, Frankfurt am Main, Dresden und (Berlin-)Charlottenburg liegt nun ein weiterer ansehnlicher Mosaikstein für die Darstellung der Stiftungskultur in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert vor. Dies ist überaus erfreulich, zeigt aber auch, wie immens und zahlreich die Lücken noch sind.