M. Waechter: Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing

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Titel
Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing. Auf der Suche nach Stabilität in der Krise der 70er Jahre


Autor(en)
Waechter, Matthias
Erschienen
Bremen 2011: Edition Temmen
Anzahl Seiten
168 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sibylle Hambloch, Fachbereich Geschichte, Universität Siegen

Obgleich es bereits eine umfangreiche Literatur zur europäischen Integration der 1970er-Jahre im Allgemeinen und zu den deutsch-französischen Beziehungen im Besonderen gibt, legt Matthias Waechter ein weiteres Werk zur Zusammenarbeit der beiden damaligen Staatschefs vor.

Das auf Anregung der Helmut und Loki Schmidt-Stiftung entstandene Buch, in deren Studienreihe es erschienen ist, behandelt die Kooperation des französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing und des deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt vornehmlich in ihrer zeitgleichen Amtszeit in den Jahren 1974 bis 1981. Dabei geht es Matthias Waechter nicht darum, das von beiden Politikern „geformte Bild einer weitgehend reibungslosen und zielführenden Zusammenarbeit” lediglich zu bestätigen oder zu dekonstruieren. Vielmehr besteht sein Ziel darin, „die Handlungsspielräume und Zwangslagen, innerhalb derer sich die Protagonisten bewegten” (S. 16) herauszuarbeiten. Dafür hat er, neben der umfangreichen Literatur, Zeitungen und Zeitschriften sowie Interviews mit Schmidt und Giscard d'Estaing, bislang nicht veröffentlichtes Archivmaterial aus den Archives nationales in Paris, dem Privatarchiv Helmut Schmidts in Hamburg, dem Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie aus dem Online-Archiv der Margaret Thatcher Foundation ausgewertet. In fünf Kapiteln behandelt die Studie biografische Darstellungen Helmut Schmidts und Valéry Giscard d'Estaings, ihre Kooperation in der internationalen Krise der 1970er-Jahre sowie die Grenzen der gemeinsamen Politikkonvergenz. Die Ära Schmidt und Giscard d'Estaing wird dabei als ein Beispiel für die Interdependenz von internationaler Politik und Innenpolitik vor dem Hintergrund politisch-wirtschaftlicher Bedingungen der betrachteten (Partner-)Länder aufgefasst.

In der Einleitung beschreibt Waechter die internationale Krise, die durch das Ende der Trente Glorieuses, die Währungskrise und den Austritt der USA aus dem System fester Wechselkurse, den Boykott der arabischen erdölproduzierenden Länder und die folgende weltweite Rezession sowie die Verschärfung des Ost-West-Konfliktes gekennzeichnet war. Vor dem Hintergrund sich einander annähernder Gesellschaften Westeuropas konstatiert Waechter, dass unter Schmidt und Giscard ein Elan in die deutsch-französischen Beziehungen einzog, „wie man ihn seit Adenauer und de Gaulle nicht mehr gekannt hatte” (S. 14).

Kapitel 2 der Arbeit widmet sich den zunächst unterschiedlichen Lebensläufen Schmidts und Giscard d'Estaings. Beide Protagonisten teilten Gemeinsamkeiten wie die biografische Prägung in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die unpolitische Erziehung im jeweiligen Elternhaus und die Teilnahme an Kampfhandlungen im Zweiten Weltkrieg. Dennoch kamen sie aus unterschiedlichen sozialen Milieus: Während Helmut Schmidt aus einem kleinbürgerlichen Milieu stammte, gehörte Giscard d'Estaing einer wirtschaftlich und politisch sehr gut vernetzten und wohlhabenden Familie an. Helmut Schmidt baute seine politische Karriere in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zuerst in Hamburg auf, wohingegen Giscard d'Estaing bereits mit 36 Jahren Finanzminister unter Staatspräsident Charles de Gaulle wurde. Trotzdem stand Giscard d'Estaing Zeit seines gesamten politischen Lebens dem Gaullismus fern und schloss sich einer kleinen Rechtspartei, den Indépendants et Paysans d´Action Sociale an. Die politischen Laufbahnen Schmidts und Giscard d'Estaings näherten sich an, als beide Anfang der 1970er-Jahre als Finanzminister und ab 1974 als deutscher Bundeskanzler und somit Regierungschef der Bundesrepublik bzw. als Staatspräsident der Fünften Französischen Republik kooperierten.

Im nächsten Kapitel werden die Motivlagen und Formen ihrer Zusammenarbeit und die Symbolik der engen Politikerfreundschaft in den Blick genommen. Trotz ihrer Herkunft von der politischen Linken bzw. Rechten verbanden Helmut Schmidt und Giscard d'Estaing viele geteilte Ansichten und Werte, besonders aber ihre Einstellung zu den deutsch-französischen Beziehungen im Rahmen der europäischen Integration, die sie als „Affaire personelle” betrachteten. Beide befürworteten eine starke amerikanische Präsenz in Westeuropa, auch wenn sie gegenüber dem amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter eine kritische Haltung einnahmen und für eine deutliche europäische Positionierung eintraten. Beide verfolgten das Prinzip der Entspannung im Ost-West-Konflikt.

Schmidt kam als Krisenmanager an die Regierungsmacht, um die anbrechende Wirtschaftsrezession in der Bundesrepublik aufzuhalten. Giscard d'Estaing, Hoffnungsträger für eine gesellschaftliche Modernisierung und Anpassung an den rasanten Strukturwandel Frankreichs von der Agrargesellschaft hin zum Industriestaat seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, musste angesichts der Rezession in Frankreich ebenfalls auf eine Antikrisenstrategie umschwenken. Doch war es nicht nur die Notwendigkeit zur Krisenbewältigung, die die beiden Politiker dazu veranlasste, der deutsch-französischen Partnerschaft zunehmend Priorität zu geben. Schmidt räumte Frankreich als dem älteren, gefestigten Nationalstaat die Führungsrolle im Rahmen der europäischen Integration ein, die er aus einem rationalen Kalkül der nationalen Interessen als strategische Notwendigkeit ansah. Damit korrespondierte die Einstellung des französischen Staatspräsidenten, der die beiden Nationen idealistisch als das Herz Europas im Sinne eines Kerneuropas in der Tradition des karolingischen Reichs betrachtete. Eine enge Form der Zusammenarbeit fanden beide durch regelmäßige Telefonate und häufige persönliche Treffen. Es entstand eine „diskrete Diplomatie” (S. 69), da man Englisch parlierend nicht auf Übersetzer angewiesen war und häufig ohne Einbezug von Mitarbeitern und Ministern agierte, was eine zuweilen mangelnde Aktenlage in den Archiven begründet. Wenn es eine intendierte Symbolik der politischen Freundschaft gab, spiegelte sich diese in Fotos wider, die die beiden in sachbezogener, vertrauensvoller Arbeit zeigten.

Es entsprach insbesondere den Vorstellungen Helmut Schmidts, dass internationale Politik persönlicher Beziehungen und Gespräche bedürfe, um zu konstruktiven Lösungen zu gelangen. Auf der Grundlage der bereits von Jean Monnet geforderten regelmäßigen Gipfeltreffen der EG-Staats- und Regierungschefs wurde der Europäische Rat mit informellem Charakter geschaffen, um die Mängel des EG-Ministerrates zu beheben. Genauso übertrug das deutsch-französische Tandem sein favorisiertes „Politikmodell direkter Kommunikation” (S. 99) auf die führenden Wirtschaftsmächte, die auf dem Weltwirtschaftsgipfel im November 1975 erstmals versuchten, Lösungen für globale Probleme zu finden. Dabei bezeichnet Waechter den Weg von der Idee zur Verwirklichung der Weltwirtschaftsgipfel als „ein Musterbeispiel komplementärer deutsch-französischer Diplomatie”: Schmidt als Ideengeber überließ es Giscard d'Estaing, diese Idee gegenüber der Öffentlichkeit zu lancieren. Das zweite wichtige europäische Projekt war die Einführung der Direktwahl des Europäischen Parlaments, die in der Bundesrepublik auf einhellige Zustimmung, in Frankreich jedoch auf große Probleme der innenpolitischen Akzeptanz stieß. Die Währungsintegration im EWS, so Waechter, betrachteten Schmidt und Giscard d'Estaing als Ausdruck europäischer Identität. An dieser Stelle ist kritisch anzumerken, dass man im Vergleich zur Opposition gegenüber dem EWS seitens der Deutschen Bundesbank nur relativ wenig über die Widerstände in Frankreich erfährt.

Kapitel 4 widmet sich den Grenzen der politischen Konvergenz Schmidts und Giscard d'Estaings. Auch wenn auf der Konferenz von Guadeloupe im Januar 1979 der NATO-Doppelbeschluss zur Aufstellung von amerikanischen Mittelstreckenraketen in Europa geboren wurde, kündigte Giscard d'Estaing danach – der Doktrin der Unabhängigkeit Frankreichs folgend – den Aufbau eigener französischer Mittelstreckenwaffen an. Nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan boykottierten die USA und die auf die Protektion des amerikanischen Partners angewiesene Bundesrepublik die Olympischen Spiele in Moskau 1980, während Frankreich wiederum seinem Dogma der Unabhängigkeit folgend daran teilnahm. Anhand dieser und anderer gut ausgewählter Beispiele verdeutlicht Waechter genauso wie in den voran gegangenen Kapiteln, wie sehr die Politik Schmidts und Giscard d'Estaings von ihren nationalen Traditionen sowie innenpolitischen und diplomatischen Erfordernissen determiniert wurde. Ein Ungleichgewicht besteht in der ausführlicheren Darstellung des Regierungsendes Giscard d'Estaings im Gegensatz zu der des Amtsverlustes Schmidts.

Das abschließende Kapitel enthält einen Blick auf den Umgang der beiden Staatsmänner mit ihrem Machtverlust sowie ihr gemeinsames Eintreten für den europäischen Integrationsprozess auch nach Ende ihrer Regierungsamtszeit.

Matthias Waechter ist eine interessante, gut lesbare Darstellung des persönlichen Verhältnisses von Helmut Schmidt und Giscard d'Estaing während ihrer Zeit als Regierungs- bzw. Staatschef gelungen. Zu Beginn der Kapitel werden jeweils Fragen aufgeworfen und am Ende Zwischenfazits gezogen. Positiv fällt die adäquate Mischung aus personalem Zugang zu den Politikern und der Schilderung der sie beeinflussenden politisch-wirtschaftlichen sowie gesellschaftlich-kulturellen Rahmenbedingungen und Interdependenzen auf. Kenntnisreich und verständlich wird der Leser unter anderem in das Präsidialsystem Frankreichs und das parlamentarische System der Bundesrepublik und die parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse eingeführt. Hervorzuheben ist, dass sich Waechter auch darum bemüht, die Perspektive des Nachbarlandes auf sein Gegenüber sowie die zeitgenössischen Berichterstattungen der Presse nachzuvollziehen.

Insgesamt liegt eine Studie vor, die auf der Basis solider archivalischer Quellenarbeit die vorhandenen Arbeiten zu den deutsch-französischen Beziehungen in der Krise der 1970er-Jahre und die (biographischen) Berichte über die Politikerfreundschaft Helmut Schmidts und Giscard d'Estaings um interessante Aspekte, Details und zeitgenössische Fotografien und Karikaturen ergänzt.

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