S. Budy u.a. (Hrsg.): Euphoria and Exhaustion

Cover
Titel
Euphoria and Exhaustion. Modern Sport in Soviet Culture and Society


Herausgeber
Budy, Sandra; Katzer, Nikolaus; Köhring, Alexandra; Zeller, Manfred
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
359 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Rohdewald, Neuere und Neueste Geschichte Osteuropas und seiner Kulturen, Universität Passau

Sowjetische Sportgeschichte erweist sich in den letzten Jahren als ein zuvor kaum beachteter Zugang zu zentralen Aspekten sowjetischer Modernitäten. Der Entwurf und die Gestaltung der neuen Gesellschaft erfolgten nicht zuletzt im Sportlehrbuch und auf dem Sportplatz. Nicht nur Medaillenspiegel sollten die Überlegenheit der sozialistischen Länder demonstrieren, auch die für den Sport eingesetzten und möglichst geheimgehaltenen Trainingstechniken sollten die Avantgarde der globalen Technik darstellen. In offiziellen, aber auch in individuellen Erinnerungspraktiken identifizierten sich wachsende Teile der Gesellschaft durch den Sport mit dem sozialistischen Projekt – oder sie fanden durch den Sport Möglichkeiten der Adaption der offiziellen Lebenswelten. Die den Eisernen Vorhang teilweise überschreitenden internationalen Sportwettkämpfe forderten die etablierten Sportnationen heraus und mobilisierten ein wachsendes globales Publikum. Sportgeschichte erlaubt damit Einblicke in viele Entwicklungsdynamiken der sowjetischen Gesellschaft.

Der vorliegende Band präsentiert entsprechend einige, oft neue Forschungsfelder. Mike O’Mahony führt in den Hauptteil „Orte und Medien“ ein. Ekaterina Emeliantseva untersucht die Sozialtopographie des Sports in der Hauptstadt St. Petersburg vor 1917 anhand photographischer Quellen. Auch in diesem Segment reproduzierte sich eine ständisch und sozial stark dichotomisierte Gesellschaft. Die Arbeiter hatten keinen Zugang zum sportlichen Geschehen, das sich der schmalen Öffentlichkeit auch mithilfe von Photographien in der Publizistik repräsentierte.

Auch Sandra Budy zeigt mit Photographien, wie in der Presse der 1920er- und 1930er-Jahre Bilder die Debatten über die sozialistische Indienstnahme des Sports (re-)produzierten. Dokumentierten sie zunächst die Bandbreite sozialistischer Entwürfe des Wegs in die Zukunft, engte sich der Fokus in den 1930er-Jahren auf die einzige verbliebene offizielle Form des Sozialismus ein. Dennoch, so legt die Autorin dar, konnten einzelne Photographien die inszenierte Ordnung brechen.

Alexandra Köhring untersucht die Entwicklung und das Scheitern der Projekte, ein Internationales Rotes Stadium zu bauen. Die „Gesellschaft der Erbauer des Roten Stadiums“ organisierte auch sportliche Massenevents. Diese und andere Projekte für Stadien in Moskau standen mithin im Zentrum der Auseinandersetzung um die Herstellung von Hierarchien von Körpern im Raum und um die Rolle des staatlich gesteuerten Sports bei der Umwandlung der Bürger in neue Menschen.

Burcu Dogramaci richtet das Augenmerk auf die Entstehungszeit der Türkischen Republik und arbeitet die Übernahme und Veränderung mitteleuropäischer Sport- und Körperdiskurse beim Aufbau des Nationalstaats heraus. Selbsteuropäisierung und die Förderung nationaler Identität erfolgte, so Dogramaci, auch hier gerade mithilfe der Planung und Inszenierung sportlicher Massenereignisse. Die photographische Darstellung sportlicher Anlässe und der Stadien sowie Parkanlagen in den Medien diente zur Festigung einer laizistischen nationalen Öffentlichkeit durch den modernen Sport zumindest in den Städten.

Bettina Jungen deutet sowjetische Skulpturen als Medium der neuen Konzepte des Sports und des Tanzes. Auch für diesen Zusammenhang wird die Festigung von Kontrolle und Disziplin betont. Während der 1930er-Jahre erlangte das Ballet offizielle Anerkennung und Förderung als Ausdruck von Eleganz in der Bewegung, was im Sport nicht willkommen war.

Christina Kiaer vergleicht persönliche Schnappschüsse der Schwimmerin Ljudmila Wtorowa mit Gemälden des offiziellen sowjetischen Künstlers Alexander Dejneka, dem auch Wtorowa Modell stand. Wtorowas Fotografien dokumentieren direkte Erfahrung, sie sind aber mit Kiaer dennoch deutlich vom Diskurs offizieller Bildern von Sportlern der 1930er-Jahre beeinflusst.

Louise McReynolds erklärt den Hauptteil „Milieus und Gedächtnis“. Karsten Brüggemann arbeitet hier heraus, wie estnische Ringer in der Endphase des Zarenreiches sowohl für das Reich als auch für den emanzipativen estnischen Nationalismus integrativ wirken konnten. Die Biographien und spätere mediale Einsätze der Ringer als Sporthelden stehen sodann für das Erlangen und den Verlust der estnischen Unabhängigkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Volodymyr Ginda wendet sich sportlichen Wettkämpfen zu, die unter der nationalsozialistischen Herrschaft über die Ukraine organisiert wurden. Mit der sportlichen Feier der „Befreiung“ vom angeblich jüdischen Bolschewismus wurde kurzfristig versucht, eine neue erinnerungskulturelle Praxis zu etablieren.

Robert Edelmann hebelt erneut mit dem Beispiel des Zuschauersports Beschreibungen des Stalinismus als einem totalitären System aus. Der marginalisierte Fußballverein Spartak sei – ganz im Gegensatz zum damaligen russisch-national dominierten Sowjetpatriotismus – nach 1945 ein „Modell des sowjetischen Traums von Multikulturalität, Internationalismus und Bruderschaft“ gewesen (S. 234). Der Transfer des Spielers Salnikow in den Verein Dynamo wurde zum öffentlichen Skandal, der damit auch politisch wurde.

Manfred Zeller vergleicht im Sinne der Oral History private Erinnerung mit offizieller Erinnerungskultur, indem er postsowjetische Interviewpartner über mit sowjetischem Sport verbundene Erlebnisse befragt. Die drei sehr unterschiedlichen Fälle geben Einblick in komplizierte Verflechtungen von Politik, Erinnerungskultur und Sport. Gemeinsam ist den heutigen Erinnerungen der Bezug auf den Stalinismus im Kontext der optimistischeren gesellschaftlichen Stimmungen der 1960er-Jahre.

Eva Maurer führt anhand des sowjetischen Bergsteigertourismus in die Unterminierung sowjetischer Propaganda ein. Bergsteigen kann mit Maurer als eine Praxis gelten, mit der professionelle Eliten mit dem Scheitern des Systems umzugehen versuchten. Dabei konnte das Erlebnis durchaus systemkonform verstanden werden, obschon der gepflegte „lifestyle“ Arbeitern kaum zugänglich war.

Irina Bykhovskaya stellt weitere Beiträge zu „Gender und Naturwissenschaften“ vor: Kateryna Kobchenko untersucht das Verhältnis der Emanzipation der Frauen im Zusammenspiel mit der Rolle des Sports in der frühen Sowjetunion. Die Beteiligung der Frauen am Sport im Zeichen der militarisierten „Fiskultura“ (wörtlich: „Phys.[ische] Kultur“) sollte die Gleichheit der Geschlechter herstellen. Die weibliche Sportlerin näherte sich dabei im offiziellen Diskurs männlichen Rollenbildern an. Im Sportalltag stieß dies allerdings bei vielen Männern auf Ablehnung. In Bereichen wie der Luftfahrt und im Schießen gingen die Frauen bei der Umdefinition traditionell männlicher Tätigkeitsbereiche aber über die Erwartungen des Staates hinaus.

Stefan Wiederkehr arbeitet Unterschiede der Wahrnehmung und Darstellung weiblicher Körper in Beispielen der westlichen Presse sowie in der Volksrepublik Polen während des Kalten Krieges heraus. Während die Normen weiblicher Schönheit auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs weitgehend dieselben waren, ging man mit Abweichungen von diesem Ideal unterschiedlich um. Sozialistische Zeitungen berichteten nie über als unweiblich wahrgenommene Körper. Die westliche Boulevardpresse hingegen stellte Sportlerinnen aus dem sozialistischen Lager als männlich oder unschön dar und verschwieg vergleichbare westliche Fälle.

Hans-Joachim Braun und Nikolaus Katzer arbeiten am Beispiel von Trainingsmethoden und Fußballtaktiken rationalisierende Diskurse über Körper und Räume heraus. Technik und Wissenschaft erwiesen sich im Rahmen theoretischer Diskurse und Praktiken wie der Biomechanik, spezifischer Körperexperimente sowie ambitionierter wissenschaftlicher Projekte gerade auch in der Sowjetunion als zentrale Bestandteile von Sport und Modernität.

Anke Hilbrenner stellt Vorstellungen vom weiblichen Körper im Rahmen spätsowjetischer Modernität vor. Walentina Tereschkowa wurde als erste Kosmonautin zum Ideal der sowjetischen Frau gemacht. Damit wurde sie zum Aushängeschild sowjetischen Technikkults sowie des wissenschaftlich und technologisch unterstützten Ausbaus des Sports. Der geschlechtlich undifferenzierte „sporting body“ der 1970er-Jahre war deutlich durch technische Ästhetik und Attribute geprägt, analysiert Hilbrenner.

Christine Gölz wendet sich schließlich der kinematographischen Medialisierung des Sports zu: Im sowjetischen Film „Sport, Sport, Sport“ (1970) galt der Sport explizit zunächst als ein Mittel zur Förderung der Völkerfreundschaft und widersprach damit dem dominanten sowjetischen Diskurs, der damals weit martialischer war. Der Film wurde daher rasch als Misserfolg verstanden. Die Umdeutung des Sports als Weg des Ausdrucks individueller und nicht kriegerischer Leistung passte nicht in das staatliche Konzept der Fiskultura.

Die Beiträge zeigen somit überaus vielfältig und reflektiert den Ertrag auf, den die Untersuchung konkreter Körper- und Ethnizitätsvorstellungen im Sport und in für die jeweiligen Gesellschaften insgesamt aufschlussreichen Bereichen von Modernität verspricht. Darüber hinaus sind zahlreiche Aufsätze vorbildlich in der Analyse mikrohistorischer oder privater Kontexte in ihrer Interaktion mit gesamtstaatlichen oder offiziellen Diskursen. Der sowohl in den einzelnen Beiträgen als auch in der gesamten Konzeption beeindruckende Band verdient nachdrücklich eine die Grenzen der Osteuropa-Historie überschreitende Aufmerksamkeit.

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