K. Cvetković-Sander: Sprachpolitik und nationale Identität

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Titel
Sprachpolitik und nationale Identität im sozialistischen Jugoslawien (1945-1991). Serbokroatisch, Albanisch, Makedonisch und Slowenisch


Autor(en)
Cvetković-Sander, Ksenija
Reihe
Balkanologische Veröffentlichungen 50
Erschienen
Wiesbaden 2011: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
453 S.
Preis
€ 76,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ruža Tokić, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Universität Leipzig

Im Allgemeinen wird der Zusammenbruch der serbokroatischen Sprachgemeinschaft mit dem Ausbruch der Jugoslawienkriege in Verbindung gebracht. Die Ausdifferenzierung einer bosnischen, kroatischen, montenegrinischen und serbischen Sprache wird dabei als Folge des gewalttätigen Segregationsprozesses interpretiert, der den jugoslawischen Raum in den 1990er-Jahren erfasste. Dass die Konflikte um die serbokroatische Sprache jedoch nicht schlagartig während der Kriege ausbrachen, sondern bereits im Jugoslawien Titos in zuweilen heftigen Auseinandersetzungen über Fragen der Sprachplanung und Standardisierung ausgetragen wurden, belegt Ksenija Cvetković-Sander in ihrer Dissertationsschrift auf eindrückliche Weise. Kreisen die meisten Publikationen zum Serbokroatischen um die Frage, ob es sich beim Bosnischen, Kroatischen, Montenegrinischen und Serbischen um eine oder mehrere Sprache handle, so legt Cvetković-Sander eine vergleichende Analyse der Sprachpolitik im sozialistischen Jugoslawien vor und leistet damit einen wertvollen Beitrag zur Erforschung dieser bislang vernachlässigten Thematik. Den Fokus richtet sie dabei auf die Untersuchung der Interdependenz von Sprach- und Nationalitätenpolitik in sozialistischer Zeit, wodurch es ihr gelingt, die Auseinandersetzungen über die Sprache im Kontext und in Abhängigkeit von den Kontroversen um die nationale Frage zu interpretieren. So werden auf der Grundlage einer breiten Quellenbasis aus sprach-, kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Fachpublikationen, Pressetexten und bislang unveröffentlichten Archivmaterialien die wissenschaftlichen Diskussionen und Argumentationsmuster der linguistischen Eliten sowie die staatlichen Initiativen und parteiinterne Beratungen untersucht. Die Rekonstruktion der jugoslawischen Sprachpolitik im Zeitraum von 1945 bis 1991 kreist um die Frage, warum bis zuletzt entgegen dem selbst erhobenen Anspruch kein kohärentes Sprachkonzept seitens der staatlichen Stellen entwickelt wurde. Mit der Einbeziehung des Albanischen, Makedonischen und Slowenischen in die Analyse kommt Cvetković-Sander das besonderes Verdienst zu, ein zugleich übergreifendes und detailliertes Bild der gesamtjugoslawischen Lage zu entwerfen.

Die Arbeit gliedert sich in sechs Kapitel, wobei in der Einleitung wichtige soziolinguistische Grundlagen diskutiert werden. Cvetković-Sander betont die Artifizialität von Standardsprachen und hebt damit die politische Funktion und identitätsstiftende Dimension von Sprachkodifizierungen hervor. Folglich gilt für Sprachen ebenso wie für Nationen die Feststellung, dass es sich bei beiden um keine natürlich gegebenen Entitäten handelt, sondern um Ergebnisse sprach- und nationalpolitischer Entscheidungen.

An diese sprachwissenschaftlichen Ausführungen schließt sich in Kapitel 2 eine historische Darstellung der Sprachenfrage im jugoslawischen Kontext vom Beginn der Nationsbildungsprozesse bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges an. Hierbei werden wichtige historische Hintergründe dargelegt, die für das Verständnis der weiteren sprachpolitischen Entwicklung im Untersuchungszeitraum unabdingbar sind, jedoch weist der Text stellenweise Längen und fehlende bzw. uneinheitliche Übersetzungen serbokroatischer und vor allem albanischer Begriffe auf (zum Beispiel S. 91, 168).

Den Kern der Untersuchung bilden die Kapitel 3-5, in denen die sprachpolitischen Fragen im sozialistischen Jugoslawien analysiert werden. Kapitel 3 (1945-1965) befasst sich mit den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten, in denen die Bemühungen serbischer Philologen, die Unterschiede zwischen dem Serbischen und Kroatischen zu minimieren, der Missbilligung von Eingriffen in schriftsprachliche Traditionen und Eigenheiten seitens kroatischer Linguisten gegenüber standen. Die Vereinbarung von Novi Sad 1954, eine Absichtserklärung führender serbischer und kroatischer Sprachwissenschaftler, in der unter anderem die Existenz einer serbokroatischen Schriftsprache mit den Zentren Belgrad und Zagreb festgelegt wurde, wertet Cvetković-Sander als Teilerfolg, der die Bereitschaft zur gemeinsamen Arbeit an der Kodifizierung des Serbokroatischen signalisierte, gleichzeitig jedoch die verborgenen Gegensätze und den schwelenden Konflikt zwischen der serbischen und kroatischen philologischen Elite enthüllte. In Bezug auf das Makedonische und Albanische wird die Aufwertung und Statusverbesserung dieser Sprachen unmittelbar mit dem Beginn der kommunistischen Herrschaft in Jugoslawien aufgezeigt. Im ersten Fall begann mit der Anerkennung einer makedonischen Nation die Kodifizierung einer makedonischen Nationalsprache, die in der Frage nach der sprachlichen Überdachung und der Festlegung des Alphabets zu Verwerfungen unter den makedonischen Linguisten führte. Das Albanische wiederum erfuhr ebenfalls nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erstmalig eine Anerkennung einschließlich des Rechts der albanischsprachigen Einwohner des Kosovos auf Bildung in der Muttersprache. Die folgenden Jahrzehnte waren durch Bemühungen um die Durchsetzung der Zweisprachigkeit im öffentlichen Leben sowie die Statusverbesserung und Korpusplanung des Albanischen geprägt.

Im Zentrum von Kapitel 4 (1965-1974) steht die nationalitätenpolitische Kehrtwende Mitte der 1960er-Jahre, die eine Aufwertung der Nationen und nationalen Minderheiten und eine Stärkung der Kompetenzen der Teilrepubliken zu Lasten der Zentrale mit sich brachte. Mit seiner Kritik an der privilegierten Stellung des Serbokroatischen in den Belgrader Bundesorganen trat Slowenien seit Mitte der 1960er-Jahre eine Diskussion über den Status der „kleineren“ Sprachen in der Föderation los und gab damit den Anstoß für grundlegende Änderungen in der Nationalitäten- und Sprachpolitik. Im Falle des Serbokroatischen verschärfte diese Diskussion den serbisch-kroatischen Dissens, der sich seit der Einführung des Variantenbegriffs seitens der kroatischen Linguisten weiter zuspitze. Den Höhepunkt der Kontroverse bildete die „Deklaration zur Bezeichnung und Lage der kroatischen Schriftsprache“ von 1967, in der die kroatische Kulturelite ihrer Unzufriedenheit mit dem Status des Kroatischen Ausdruck verlieh und die verfassungsmäßige Festschreibung einer eigenen kroatischen Schriftsprache forderte. Der Variantenstreit entfachte darüber hinaus eine sprachpolitische Diskussion in Bosnien-Herzegowina und Montenegro. So wurden bis Mitte der 1960er-Jahre in Bosnien-Herzegowina stillschweigend serbische Sprachspezifika favorisiert. Angesichts der Anerkennung der Muslime als Nation und des Positionierungsdrucks im Variantenstreit wurde die Förderung typisch bosnisch-herzegowinischer Sprachcharakteristika propagiert. In Montenegro führte die serbisch-kroatische Kontroverse zu einer Debatte über die montenegrinische Nation, die zwischen einer serbisch-montenegrinischen Doppelidentität und einer eigenständigen montenegrinischen Nationalidentität mit Inanspruchnahme einer Variante für das Montenegrinische nach kroatischem Vorbild oszillierte. De facto nahm die politische Führung in der Verfassung von 1974 die kroatische Position im Variantenstreit ein und legte die „kroatische Schriftsprache“ als das in der Republik Kroatien gebräuchliche Standardidiom fest. In der Folge begannen die kroatischen Philologen mit einer gesonderten Normierung des Kroatischen ohne Absprache mit den Belgrader Kollegen. Die Verfassung von 1974 brachte auch für das Albanische eine weitere Statusverbesserung, wobei jedoch die auf die Förderung der Zweisprachigkeit angelegten Initiativen vor Ort wenig Erfolg zeitigten. Als missglückte Weichenstellung benennt Cvetković-Sander den Ende der 1960er-Jahre getroffenen Beschluss, das Erlernen der „Nichtmuttersprache“, also des Serbokroatischen für albanische Muttersprachler und des Albanischen für Muttersprachler des Serbokroatischen, in den Schulcurricula als fakultativ und nicht als obligatorisch festzulegen. An dieser Stelle zeigen sich leider die Lücken in der Darstellung der albanischen Sprachenfrage, die sich, wie Cvetković-Sander in der Einleitung der Arbeit erwähnt, aus der Unzugänglichkeit der im Archiv des Kosovo aufbewahrten Bestände des Bundes der Kommunisten ergeben. Es bleibt zu hoffen, dass diese alsbald gesichtet werden können.

Kapitel 6 widmet sich dem Zeitraum von 1974 bis 1991 und führt die Darstellung der sprachpolitischen Auseinandersetzungen bis zum Zerfall des sozialistischen Jugoslawiens zum Abschluss. Wurden die Konflikte um die Sprache bis dahin größtenteils innerhalb der philologischen Kreise ausgetragen, kam es in den 1980er-Jahren zur einer Medialisierung der Sprachenfrage, die in den jugoslawischen Massenmedien zu einem Dauerbrenner wurde. So rekonstruiert Cvetković-Sander die weitere Eskalation der serbisch-albanischen Polemik über das Kosovo. In den serbisch-kroatischen Kontroversen wiederum steht die Frage nach der Sprache und Stellung der Serben in Kroatien im Brennpunkt, wobei die Belgrader Philologen das Recht auf sprachlich-nationale Einheit über die Republikgrenzen hinweg beanspruchen. Die Frage, ob das Serbokroatische eine Standardsprache sei, blieb somit letztlich offen.

In ihrer breit angelegten Studie gelingt es Ksenija Cvetković-Sander, die gegenseitigen Beeinflussungen von Sprach- und Nationalitätenpolitik im sozialistischen Jugoslawien aufzuzeigen. Aus struktureller Sicht wäre lediglich mit Blick auf die Kleinteiligkeit und Komplexität des Untersuchungsgegenstandes die Zusammenführung der Ergebnisse in Form von Zwischenbilanzen am Ende der Kapitel 3,4 und 5 zu überdenken gewesen.

In überzeugender Weise argumentiert Cvetković-Sander, dass durch die sozialistische Nationalitätenpolitik, Sprache zu einem identitätsstiftenden Nationalsymbol aufgeladen wurde, an dem sich die Konflikte in der weiteren Folge entzündeten. Der politischen Führung Jugoslawiens gelang es nicht, diese Eskalation einzudämmen, vielmehr trug sie aufgrund des Fehlens einer institutionalisierten und kohärenten Sprachpolitik zur Zuspitzung der Konflikte bei. Die auch heute noch aktuellen Auseinandersetzungen um die serbokroatische Sprache brachen somit nicht in Folge der Jugoslawienkriege der 1990er-Jahre aus, sondern stellen vielmehr „das eskalierende Finale kommunistischer Sprachpolitik“ (S. 21) dar.

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