W. Steinmetz (Hrsg.): Political Languages in the Age of Extremes

Cover
Titel
Political Languages in the Age of Extremes.


Herausgeber
Steinmetz, Willibald
Reihe
Studies of the German Historical Institute London
Erschienen
Anzahl Seiten
XIII, 408 S.
Preis
£75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kathrin Kollmeier, Abt. Wandel des Politischen im 20. Jahrhundert: Rechte, Normen, Semantik, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Nach dem Abschluss der monumentalen Lexikonprojekte zur Begriffsgeschichte der beginnenden Moderne mit den „Geschichtlichen Grundbegriffen”, dem „Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820”, dem „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ und den „Ästhetischen Grundbegriffen” geraten seit Kurzem die Semantiken der Hochmoderne in das Blickfeld der Historiker.1 Ein neuer Sammelband des ausgewiesenen Bedeutungshistorikers Willibald Steinmetz, der dem politisch und juristisch Sagbaren vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert in England höchst raffiniert nachspürte2, betritt dieses Neuland mit ersten empirischen Annäherungen. In zwölf Einzelstudien und zwei theoretischen Essays vermessen Historiker/innen und Linguist/innen darin Aspekte und Themen politischer Sprachen und politischen Sprechens im – gemäß Eric Hobsbawm – gewaltvollen „Zeitalter der Extreme“.3 Der Band will erproben, ob das 20. Jahrhunderts in Hinblick auf seine historische Semantik und die Verflechtung von Sprache und Macht eine eigene Epoche bilde (S. 8). Dazu versammelt er Fallstudien zu Sprachpolitiken, -strategien und -bewusstsein, von kulturgeschichtlichen Kontextualisierungen bis zur Kritischen Diskursanalyse der Linguistin Ruth Wodak.

In dem hervorragenden einleitenden Essay „New Perspectives on the Study of Language and Power in the Short Twentieth Century” geht der Herausgeber vom rapiden Bedeutungswechsel des politischen Vokabulars als einer allgemeinen, prägenden Erfahrung des 20. Jahrhunderts aus. Dieser seien intellektuelle Akteure ebenso unterworfen gewesen wie aufmerksame Normalbürger. Steinmetz identifiziert fünf Trends: eine wachsende Reflexivität des politischen Sprachgebrauchs (S. 3), die Auswirkungen der massenmedialen Revolutionen mit der Überlappung alter und neuer Medien (S. 4f.), die Beziehung zwischen der öffentlichen Kontrolle des Sprachgebrauchs und der Stabilität politischer Systeme (S. 5), ein wachsendes Bewusstsein für Mechanismen der Kommunikation im politischen Denken wie in politischen Praktiken (S. 25) sowie schließlich der Verweis auf die Verwissenschaftlichung und Politisierung von Sprachstudien (S. 32), mithin die wissenschaftliche Thematisierung und Selbstreflexivität eben dieser Charakteristika. Im Sinne einer Kulturgeschichte des Politischen neueren Stils wird das Politische offen als Folge symbolischer Äußerungen verstanden, als „continuum of verbal, visual, and other communicative performances by all kinds of political actors, ruling elites, media professionals, party organizations, and individual citizens“ (S. 4). Historische Semantik wird pragmatisch als Bindeglied unterschiedlicher Zugriffe auf historische Bedeutungsproduktionen aufgefasst (S. 50). Die Umschlagabbildung verspricht einen erweiterten Sprachbegriff: Eine schwarz-weiße Fotografie – die Gelegenheitsaufnahme einer antifaschistischen Mai-Demonstration im New York der frühen 1930er-Jahre – zeigt nicht Parolen und Spruchbanner, sondern Karikaturen von Hitler und Mussolini. In der satirischen Überzeichnung mit den Attributen von Dolch und Totenkopf ist ihre politische Kritik ohne Worte verständlich. (Dennoch werden nicht-sprachliche Bildquellen nur in einem Beitrag analysiert.)

Die empirischen Fallstudien widmen sich Sprachpolitiken, Sprechweisen, unterschiedlichen Medien und Visualisierungen im politischen Entstehungs- und Deutungskontext. In grober Chronologie sind sie drei Gegenstandsbereichen systemübergreifend zugeordnet: erstens dem Aufstieg von Diktatoren und ihrer „Semantics of Leadership“ (S. 67) zu Beginn des Jahrhunderts. Der Faschismusexperte Emilio Gentile würdigt die Fascistese als eigene religiöse Sprache des italienischen Faschismus, die jenseits ihrer machtpolitischen Funktionalität durch Mythifizierung, Manipulation und Demagogie als genuine Ausdrucksform zur Identitätsbildung unter den Faschisten diente. Am Beispiel einer Stalin gewidmeten Kunstausstellung aus dem Jahr 1937 faltet Judith Devlin das Nebeneinander einer „language of power” (S. 95) des offiziellen Parteidiskurses mit einer ebenso politischen, aber beweglicheren visuellen „language of myth” (S. 96) auf. Scheinbar volkstümlich kompensierte Letztere die Schwächen der offiziellen Sprache und trug zur Mythisierung der historischen Person Stalins in eine omnipräsente Ikone bei. Diese vielschichtige Analyse des Stalinkults akzentuiert das Bild vermeintlich eindeutiger Sprachpolitiken und verdeutlicht die Rolle unterschiedlicher Akteure und Medien in einem totalitären politischen Diskurs.

Ähnlich mikroskopisch befragt Isabel Richter – in einem zweiten Abschnitt zur Zwischen- und Kriegszeit – die Gerichtssprache des nationalsozialistischen Volksgerichtshofes in einem close reading von Gerichtsprotokollen und Gnadengesuchen vor 1939, um vor dem hochpolitisierten NS-Gericht mögliche Spielräume von Subjektivität bei der Verfolgung politischer Gegner aufzuspüren. Ihr Ergebnis, dass nicht nur die Angeklagten, sondern auch die Richter und die Beamten der Geheimen Staatspolizei trotz des extremen Machtgefälles nicht als autonome Subjekte agieren konnten, differenziert das Verständnis der Diktatur jenseits populärer Täter-Opfer-Dichotomien. Diese Aufsätze zeigen, dass die sprachliche Wirklichkeit des Politischen auch in Diktaturen nicht in der eindeutigen Aussagekraft von Propaganda aufging.

Ein umfangreicher dritter Teil thematisiert die zweite Jahrhunderthälfte mit dem wachsenden Sprachbewusstsein der Ära des Kalten Krieges. Martin H. Geyer und Gareth Stedman Jones historisieren kritisch die sprachbezogene Geschichtsforschung über politische Sprachen bzw. Begriffsgeschichte in Deutschland und im Nachkriegsengland. Dazu situieren sie die fachwissenschaftlichen Debatten und Projekte souverän im kämpferischen politischen Diskurs der 1970er- und 1980er-Jahre. Bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Gegenstände lesen beide die innerdisziplinären Auseinandersetzungen im Bereich der westdeutschen bzw. britischen Geschichtswissenschaften als unausgesprochene Abwehrkriege gegenüber dem jeweiligen sprachlichen Erbe. Während Stedman Jones diesen Absetzungsprozess an der neuen sozialgeschichtlichen Zäsur nach den Weltkriegen erfasst (deren Bedeutung er innerhalb einer sozialen Kontinuität freilich nivelliert), verdeutlicht Martin H. Geyers Studie, wie prägend in Westdeutschland die nicht-explizite Auseinandersetzung mit dem extremen Erbe des Nationalsozialismus war.

Im Hinblick auf einen methodischen Beitrag zur historischen Semantik des 20. Jahrhunderts führen nicht alle Aufsätze gleichermaßen weiter. So erkennt Ralph Jessen in seinem Beitrag über Sprachstrategien der In- und Exklusion in der Ulbricht-Ära wohl die ritualisierte und standardisierte Form der offiziellen Politsprache als relevanten Aspekt der Analyse. Seine Beschreibungen bleiben jedoch hinter den differenzierten Ansätzen von Alexei Yurchak zur „hypernormalisierten“ Sprache im sowjetischen Spätsozialismus zurück: eine sprach- und formsensible Analyse der politischen Kommunikation, die sich produktiv ebenso auf aktuelle Entwicklungen des postmodernen Liberalismus anwenden lässt.4 Einen vergleichbaren Methodentransfer bietet der Sammelband nicht, wenngleich er mit dem Anspruch systemübergreifender Analyse antritt (S. 7, S. 30). In den Einzelstudien auf Probleme des Systemgegensatzes konzentriert, geschieht dies eher in der Buchbindersynthese.

Gleichwohl leistet der explorative Band einiges. Mit einem breiten Spektrum von Themen, Quellen und methodischen Ansätzen bewegt er sich auf das noch unerschlossene Feld zu, das 20. Jahrhundert im Spiegel seiner Sprache(n) im Epochenzusammenhang zu deuten, wie kürzlich Christian Geulen in seinem theoretischen „Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts“ eindrucksvoll einforderte.5 Der Essay von Willibald Steinmetz, der exemplarische intellektuelle Stimmen Europas an ihre Lebenserfahrung rückbindet (Raymond Williams, Reinhart Koselleck, Wassili Grossman, Ruth Klüger und Vaclav Havel), übertrifft die Erwartungen an eine Einleitung. Auch Angelika Linkes knappe, zugängliche Einführung in die performative Dynamisierung des linguistic turn lohnt die Lektüre. Es sind vor allem diese beiden gehaltvollen Essays, die über eine Kulturgeschichte des Politischen neueren Stils hinausweisen auf eine systematische Erforschung ihrer sprachlichen Dimensionen. Auf den angekündigten Folgeband, der den Wandel von binären Rhetoriken der Extreme hin zu solchen der Differenz in postmodernen Sprechweisen untersuchen (S. 6) und mit der reflexiven wie politischen Transformation nach der polaren Systemalternative den zweiten Epochenbruch des Jahrhunderts in den Blick nehmen soll, darf man überaus gespannt sein.

Anmerkungen:
1 Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart, 1972–1997; Rolf Reichardt, Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, München 1985–2000; Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1971–2007; Karlheinz Barck (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart 2000–2005.
2 Willibald Steinmetz, Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume. England 1780-1867, Stuttgart 1993; ders., Begegnungen vor Gericht. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des englischen Arbeitsrechts (1850-1925) (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 51), München 2002.
3 Eric Hobsbawm, Age of Extremes. A History or the World, 1914-1991, London 1994.
4 Vgl. Alexei Yurchak, Everything was Forever until it was no more. The Last Soviet Generation, Princeton 2006, S. 50; vgl. Christian Noack: Rezension zu: Yurchak, Alexei: Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation. Princeton 2005, in: H-Soz-u-Kult, 30.05.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-2-123> (18.10.2011); sowie Dominic Boyer / Alexei Yurchak, American Stiob. Or, what late socialist aesthetics of parody reveal about contemporary political culture in the West, in: Cultural Anthropology 25 (2010), Nr. 2, S. 179-221.
5 Christian Geulen, Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts, in: Zeithistorische Forschungen 7 (2010), Heft 1, S. 79-97, <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Geulen-1-2010> (18.10.2011).

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