I. Paperno: Stories of the Soviet Experience

Cover
Titel
Stories of the Soviet Experience. Memoirs, Diaries, Dreams


Autor(en)
Paperno, Irina
Erschienen
Anzahl Seiten
XV, 285 S.
Preis
$ 22,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ekaterina Emeliantseva, School of History, Welsh History and Archaeology, Bangor University

Die Debatten um die „sowjetische Erfahrung“, „Soviet subjectivity“, die um das Selbstverständnis des Einzelnen oder von Gruppen gegenüber dem „System“ kreisen und die Kontroversen zwischen den Totalitaristen und Revisionisten in der Stalinismusforschung seit den späten 1960er-Jahren fortsetzen, sind noch nicht abgeschlossen.1 Irina Papernos Auseinandersetzung mit sowjetischen Memoiren und Tagebüchern ist ein weiterer Beitrag zur Diskussion um das Spezifische der sowjetischen Erfahrung mit einem zusätzlichen Fokus auf Erinnerung und Erzählstrategien.2 Papernos Analyse dreht sich um das Selbstverständnis der von ihr untersuchten Tagebuchautoren und um die Qualität des Privaten und Intimen im Verhältnis zur Staatsmacht. Die Breite ihrer Quellenbasis ist beachtlich – etwa 100 Texte von über 70 Autoren hat Paperno für diese Studie ausgewertet. Aus verschiedenen Perspektiven nähert sich die Autorin diesem Korpus in drei Großkapiteln an. Nach einer Gesamtschau analysiert sie detailliert zwei ausgewählte Texte und schließt mit einer vergleichenden Betrachtung bestimmter Passagen – erzählter Träume – ab.

Als hervorstechende Gemeinsamkeit der analysierten Texte, die in ihrer Mehrheit gegen das Ende der Sowjetära publiziert wurden, sieht Paperno den Versuch, die eigene Lebensgeschichte in die große Historie einzuordnen und das Erleben von Katastrophen als persönliche Erfahrung zu vermitteln. Thematisch fokussieren die Texte auf den Terror und den Zweiten Weltkrieg. Dabei ist Papernos Studie vor allem eine Geschichte darüber, wie die sowjetische intellektuelle Elite ihre Erlebnisse festhielt, interpretierte, sich in die Geschichte einschrieb und zugleich durch die Narration des Intimen und Privaten sich selbst konstituierte. Denn die „Stories of the Soviet Experience“ sind vornehmlich von der intellektuellen Elite verfasst. Selbst die wenigen Texte ungeübter Schreiber bäuerlicher Herkunft haben ihre Leser ebenso durch die Vermittlung von Intellektuellen erreicht. Dabei betrachtet Paperno nicht nur den Rückbezug sowjetischer Intellektueller auf literarische Traditionen der russischen Intelligenzija des 19. Jahrhunderts. Doch ist dieses Einschreiben in eine historische longue durée relevant für die Selbstverortung postsowjetischer Leser. Gerade auch im postsowjetischen Vakuum wurde das autobiographische Schreiben für russische Intellektuelle identitätsstiftend. Paperno zufolge sind die hier präsentierten Narrative für die Autoren und Herausgeber der Tagbücher eine Möglichkeit, angesichts des Zusammenbruchs der Sowjetunion und dem Ende der Sowjetära eine Kontinuität zum Erbe der russischen Intelligenzija des 19. Jahrhunderts herzustellen und zugleich die sowjetische Erfahrung in ein generelles russisches Narrativ der Auseinandersetzung mit einer autoritären Macht zu integrieren. Hegelianisch-marxistisches Denken sollte hier die historisch-philosophische Grundlage liefern. Für die jüngere Generation, etwa die Nutzer der Internetplattform „LifeJournal“, die sich Memoiren über die Sowjetzeit eigenwillig aneignen, sind diese Kontinuitäten und Rückbezüge bereits nicht mehr relevant. Paperno zeigt dies eindrücklich am Beispiel der 2004 ins Leben gerufenen Internet-„community“ auf, die dem Leben und Werk der Literaturwissenschaftlerin Lidija Ginzburg (1902-1990) gewidmet ist.

Im zweiten Teil geht Paperno der Grundfrage nach der Verbindung zwischen der privaten Lebensgeschichte und der Geschichte des Landes sowie dem Stellenwert dieser Narration im Leben des Einzelnen anhand einer detaillierten Analyse zweier Texte nach: der erste stammt aus der Feder einer kaum gebildeten Frau bäuerlicher Herkunft, Evgenija Kiselewa, die ihr Leben zwischen den 1940er- und 1980er-Jahren beschreibt; im zweiten befasst sie sich mit dem Text einer professionellen Schreiberin, Lidija Chukowskaja, die das Leben der Dichterin Anna Achmatowa, der Ikone der russischen intellektuellen Elite, zwischen den 1930er- und 1960er-Jahren dokumentiert. Es erstaunt, dass hier zwei so ungleiche Texte nebeneinander gestellt werden – autobiographisches und biographisches Schreiben. Das Erkenntnisinteresse des Vergleichs liegt klar bei den Gemeinsamkeiten: Beide Texte sind Paperno zufolge mit dem gleichen Appell an den Leser verfasst. Es ist jeweils die Geschichte eines Opfers und Überlebenden. Dennoch gibt es hier ebenso wesentliche Unterschiede: Während im Text von Chukowskaja der Terror die inhaltliche Dominante und den Referenzpunkt für die Einordnung des persönlichen Leidens von Anna Achmatowa bildet, ist es in den autobiographischen Aufzeichnungen von Kiselewa der Zweite Weltkrieg. Die unterschiedliche Konstituierung des Selbst gegenüber dem System hätte an dieser Stelle etwas genauer ausgearbeitet werden müssen. Doch Paperno fokussiert in diesem Zusammenhang vor allem auf den Stellenwert von Kiselewas Schreiben für die Selbstfindung der postsowjetischen Intellektuellen. Die Herausgeber der 1996 zum zweiten Mal edierten Notizen Kiselewas, ein Team aus einer Soziologin und einer Linguistin, ordneten den Text dem Genre des „naiven Schreibens“ zu und kategorisieren Kiselewa selbst als „Person ohne Subjektivität“. Das Zelebrieren des „einfachen Menschen“, dem die postsowjetischen Intellektuellen jegliche narrative Kompetenz absprechen und dessen Versuche, die eigene Erfahrung zu historisieren, ist laut Paperno zugleich eine Suche nach der Neudefinition der Intelligenzija.

Im dritten Teil wechselt Paperno erneut die Perspektive und schwenkt ihr Objektiv über mehrere Texte mit einem Fokus auf jene Passagen, die Geträumtes verarbeiten, und zwar Träume über den Terror – ein Gegenstand, der von Russlandhistorikern bis jetzt kaum untersucht wurde.3 Paperno legt die Freudschen Verengungen zur Seite und liest Träume als Geschichten und Erfahrungen, die die Aporien des Lebens zu Zeiten des Terrors zu vermitteln vermögen. Es sind Träume eines verfolgten Bauern, eines privilegierten Schriftstellers, eines Vertreters der politischen Elite (Nikolai Bucharin), der Dichterin Achmatowa, eines Philosophen und schließlich eine Schilderung von Stalins Träumen aus der Feder eines Angehörigen der künstlerischen Elite. Alle Träume verbindet eine Funktion: die Verarbeitung des Terrors. Dabei legen sie nicht nur Zeugnis davon ab, wie tief der Terror, der Staat, in die intimste Sphäre eindringen konnte, sondern gaben auch Raum, sich selbst als handelnder Akteur zu artikulieren, wie etwa ein Bauer, der im Traum selbstbewusst Stalin persönlich gegenübertritt. Zudem konnten Träume als Indikatoren der persönlichen Verarbeitung und Instrumente des Terrors zugleich fungieren, als Zeichen und Instrumente der Integration in das System. Ebenso wie die autobiographischen Texte zirkulierten auch die Träume, spielten dabei eine identitätsstiftende Rolle für bestimmte Gruppen der Intelligenzija und schufen Kontinuitäten zwischen Generationen. Als Beispiel hierfür analysiert Paperno apokalyptische Träume von Achmatowa und eines jungen Dichters aus ihrem Umkreis. Die durch den Austausch geteilte Erfahrung erhielt eine zusätzliche historische und eschatologische Dimension.

Ein Grundproblem der Untersuchung ist, dass die Autorin nicht explizit Stellung in der Debatte über die Grundfrage zur Geschichte der Sowjetunion bezieht, sondern wie ein Großteil der Historiographie der 1950er- und 1960er-Jahre vom „Totalitarismus“ oder der „totalitarian society“ (S. 207) als einer selbstverständlichen und ahistorischen Charakterisierung des „Soviet regime“ ausgeht. Andererseits kann sie durchaus Spuren von agency aus den Texten herausschälen. Auch vermeidet die Autorin, sich deutlich zur Definition des Selbst zu äußern, mit der sie arbeitet. Gerade für die Analyse autobiographischer Texte im sowjetischen Kontext ist es nicht genügend, sich auf die Bemerkung zu beschränken: „To bypass these complications, I rely on the common language usage of these words (this is why I speak of a ‚sense of self‘)“ (S. 14). Die unterschiedlichen Konzeptualisierungen des sowjetischen Selbst durch Sozialhistoriker, die entweder zur liberalen Idee des Selbst4 oder zur Pragmatik des Interaktionismus5 gegriffen haben, wie auch die postmodernen Konzepte, die stärker die Bedeutung der sowjetischen Diskursivität für die Konstituierung der Subjekte betonen, hätten der Analyse eine stärkere historiographische Anbindung verliehen.

Insgesamt liefert Papernos Lektüre sowjetischer Memoiren und Tagebücher einen lesenswerten Beitrag zur Analyse des sowjetischen autobiographischen Schreibens und offenbart die Vorzüge einer interdisziplinären Analyse aus literaturwissenschaftlicher und historischer Perspektive. Dennoch lassen sich bei einer allzu starken Fixierung auf die literarische Elite die Ergebnisse der Studie nicht auf die Sowjetbevölkerung insgesamt übertragen. Andere soziale und kulturelle Gruppen (wie etwa Nichtrussen oder religiöse Minderheiten, Arbeiter, Vertreter der Nomenklatura und andere) hätten hierfür eine stärkere Beachtung erfahren können.

Anmerkungen:
1 Vgl. Jochen Hellbeck, Revolution on my mind. Writing a diary under Stalin, Cambridge, MA 2006; Brigitte Studer / Heiko Haumann (Hrsg.), Stalinistische Subjekte. Individuum und System in der Sowjetunion und der Komintern. 1929-1953, Zürich 2006.
2 Stephen Kotkin, Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization, Berkeley 1995; vgl. Anna Krylova, The Tenacious Liberal Subject of Soviet Studies, in: Kritika 1 (2000), S. 119-146.
3 Vgl. Julia Herzberg, Von der Vision zum Seelenspiegel. Bäuerliche Traumaufzeichnungen zwischen Zarenreich und Sowjetunion, in: Julia Herzberg / Christoph Schmidt (Hrsg.), Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiorgaphik im Zarenreich, Köln u.a. 2007, S. 269-300.
4 Vgl. z.B. Sheila Fitzpatrick, Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times. Soviet Russia in the 1930s, Oxford 1999.
5 Vgl. z.B. Jochen Hellbeck, Revolution (wie Anm. 1).

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