D. Schumann (Hrsg.): Raising Citizens in the „Century of the Child“

Cover
Titel
Raising Citizens in the „Century of the Child“. The United States and German Central Europe in Comparative Perspective


Herausgeber
Schumann, Dirk
Reihe
Studies in German History 12
Erschienen
Oxford 2010: Berghahn Books
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
$ 85.00 / £ 50.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lu Seegers, Leibniz Universität Hannover / Universität Konstanz

Das Interesse an der Geschichte der Kindheit im 20. Jahrhundert hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Dies zeigen nicht nur wissenschaftliche Publikationen, journalistische Bücher sowie Fernsehdokumentationen zu den Erfahrungen der „Kriegskinder“. Auch die Vermittlung von Erziehungsnormen und Verhaltensstandards im Umgang mit Kindern im 20. Jahrhundert ist mittlerweile untersucht.1 Von einem „Jahrhundert des Kindes“ hatte die schwedische Autorin Ellen Key bereits ab 1900 gesprochen. In der Tat nahmen staatliche Interventionen in puncto Kindererziehung, Bildung und Jugendwohlfahrt seit dieser Zeit enorm zu. Dem von Dirk Schumann herausgegebenen Sammelband gelingt es, diese Aspekte aufzugreifen und sie in zweierlei Hinsicht zu erweitern: Zum einen nimmt der Band eine transatlantische Perspektive ein, indem die USA und das deutschsprachige Europa sowohl vergleichend als auch beziehungsgeschichtlich untersucht werden. Zum anderen verbindet das Buch die Frage nach der zunehmenden Bedeutung von Kindern als nationaler Ressource auf innovative Weise mit dem Konzept von „Citizenship“.

In seiner Einleitung skizziert Schumann, wie die öffentliche und private Sphäre im 20. Jahrhundert durch außerhäusliche Kinderbetreuung, Schule und Wohlfahrtseinrichtungen neu verflochten wurden. Diese Institutionen trugen dazu bei, Kindern und Jugendlichen eine aktivere Partizipation in der Gesellschaft zu ermöglichen. Zu den Ambivalenzen dieses Prozesses gehörte jedoch eine zunehmende Kontrolle von Kindern und Jugendlichen bei gleichzeitiger Ausgrenzung von Familien entlang von „Class“ und „Race“. Diesbezügliche politische, soziale und kulturelle Praxen und Diskurse nehmen die Beiträge des Bandes in den Blick.

Den Einstieg bildet der Aufsatz „Children and the National Interest“ von Sonya Michel und Eszter Varsa. Die Autorinnen machen deutlich, wie Jugendwohlfahrt und nationale Interessen bereits im 19. Jahrhundert in den USA wie in Europa neu verknüpft wurden. Die aufsteigenden Nationalstaaten (insbesondere jene mit kolonialen Expansionsbestrebungen) sahen Kinder und Jugendliche als Schlüsselressource an und verfolgten bei der Einrichtung von Jugendwohlfahrt und der Verbesserung des öffentlichen Schulsystems eine Politik, die in die private Sphäre von Familien eindrang. Auch in den USA wurde Frauen und Müttern eine größere Verantwortlichkeit für Staat und Gesellschaft zugeschrieben – im Sinne einer „Republican Motherhood“. In Osteuropa hingegen verlief dieser Prozess verzögert, weil die Nationalstaaten sich dort später formierten.

Die folgenden drei Aufsätze bilden eine Sektion, in der es um neue Institutionen bzw. Praxisformen in der Jugendwohlfahrt und Schulbildung geht. Katherine Bullard widmet sich dem 1912 gegründeten „United States Children’s Bureau“, das als progressiv galt. Es unterstützte insbesondere während des Ersten Weltkriegs arme Familien in medizinischer Hinsicht. Doch beruhte das den Aktivitäten zugrunde liegende Konzept der „social citizenship“ auf rassistischen Prinzipien und sprach vor allem das Recht weißer Kinder auf Wohlergehen als Bestandteil nationaler Interessen an, während afro-amerikanische Kinder in Werbeprospekten als ihrem „biologischen Schicksal“ ausgeliefert dargestellt wurden. Andrew Donson beschreibt die Konvergenz von Reformpädagogik mit einem zunehmenden Nationalismus und Militarismus in Deutschland um 1914. So pflegten die Lehrer nunmehr ein engeres Verhältnis zu den Schülern, die in freien Aufsätzen ihrer Begeisterung für Siegesfeiern Ausdruck geben „durften“. Ellen L. Berg betrachtet die US-amerikanische Kindergarten-Bewegung im Spannungsfeld von Amerikanisierung und Internationalisierung während des Ersten Weltkriegs. Gerade immigrierte Kinder aus dem südlichen und östlichen Europa avancierten zu Adressaten eines bis zum Chauvinismus reichenden Patriotismus. Zugleich blieben die Kindergärten einem Konzept des Weltbürgertums zugewandt, verbunden mit einer Idealisierung der USA als Beispiel für wahre Demokratie.

Die drei Aufsätze der nächsten Sektion kreisen um gewandelte Konzepte von Vater- und Mutterschaft. Carolyn Kay zeigt für Deutschland im frühen 20. Jahrhundert, wie die Verwissenschaftlichung der Kindheit mit einer Zunahme an Ratgeberliteratur koinzidierte. Dabei konstatiert Kay zwei Trends: Erstens erhoben sich vor allem Ärzte zu Experten einer „gesunden“ Kindererziehung und trugen damit zu deren Verwissenschaftlichung bei. Zweitens stand die bürgerliche Familie als Leitbild im Vordergrund, wobei sich die Ratgeber vornehmlich an Frauen richteten. Die Erziehung sollte in erster Linie auf Disziplin als Kernpunkt bürgerlicher Werte basieren; vor „Verhätschelung“ und mütterlicher „Affenliebe“ wurde gewarnt. Leider kann Kay keine Aussagen zum Einfluss der Ratgeber auf die soziale Praxis der Erziehung machen. Rebecca Jo Plant analysiert eine fundamentale Veränderung in der Definition der mütterlichen Rolle in den USA seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Schriftsteller Philip Wylie hatte in seinem Bestseller „Generation of Vipers“ 1942 davor gewarnt, dass eine überbehütende Mütterlichkeit zur Erosion des amerikanischen Individualismus und damit zum Niedergang der Demokratie führen werde. Interessanterweise stimmten viele Frauen dieser Position zu, wie Plant auf der Basis von Leserbriefen an Wylie zeigen kann. Eine Re-Definition der Rolle des Vaters konstatiert Till von Rahden für die Bundesrepublik der 1950er-Jahre. Er zeigt überzeugend, wie gerade kirchlich orientierte Periodika Vertrauen anstelle von Gehorsam als Leitbild väterlicher Autorität entwarfen. Damit wurde gezielt die Absicht verfolgt, eine demokratische Kultur in den Familien zu etablieren. Weitergehende Hinweise auf mögliche Resonanzen und Aneignungsformen des neuen Leitbilds wären wünschenswert gewesen.

Die vier Aufsätze des abschließenden Teils thematisieren Interaktionen und Konflikte von Eltern und staatlichen Stellen. Charles A. Israel beschreibt die Auseinandersetzungen um die schulische Vermittlung der Evolutionslehre in Tennessee in den 1920er-Jahren anhand des so genannten Scopes-Prozesses. Weil der Lehrer Thomas A. Scopes in öffentlichen Schulen die Evolutionstheorie vertreten hatte, wurde er unter großem Medienaufsehen zu einem Bußgeld verurteilt. Im Prozess verwies der Ankläger William Bryan bei seiner Argumentation immer wieder auf die Pflicht der Eltern, für die „richtige“ Erziehung ihrer Kinder zu sorgen. Tara Zahra schildert, wie deutsche und tschechische Nationalisten in der ersten Jahrhunderthälfte unter den je verschiedenen politischen Rahmenbedingungen die Germanisierung bzw. Tschechisierung böhmischer Kinder forcierten. Für die frühe Bundesrepublik erläutert Dirk Schumann, wie die zunehmende Einbindung von Eltern in schulische Angelegenheiten zur Liberalisierung von Erziehungsmethoden sowie zur politischen Demokratisierung beitrug. So avancierte vor allem die in den Schulen vielfach noch ausgeübte Prügelstrafe zum Konfliktfeld, auf dem sich Eltern mit medialer Unterstützung nun zunehmend gegen Lehrer durchsetzen konnten. Lynne Curry nimmt sich eines in der historischen Forschung bisher weithin unterbelichteten Themas an, nämlich dem Missbrauch von Kindern. Sie verfolgt dies anhand des Falls des vierjährigen Joshua De Shaney in den USA, der 1984 durch die Gewalt seines Vaters und dessen Partnerinnen einen schweren Gehirnschaden erlitt, obgleich die Familie seit längerem von einer Sozialarbeiterin betreut wurde. Der Gerichtsprozess, den die Mutter des Kindes gegen den Staat Wisconsin anstrengte, erregte in den US-amerikanischen Medien ein großes Echo. Eindrucksvoll zeigt Curry anhand des Prozesses sowie anhand der Maximen der Ausbildung für Sozialarbeiter seit den 1960er-Jahren die Spannungen zwischen Forderungen nach einem besseren staatlichen Schutz für Kinder einerseits und tiefverwurzelten Ansichten über die Unantastbarkeit der Familie andererseits.

Insgesamt ermöglicht die transatlantische und transnationale Perspektive wichtige Einblicke in das Zusammenspiel von wissenschaftlicher Expertise, staatlicher Intervention und Elternrechten. So verweist der Sammelband in vorbildlicher Weise auf die großen Potenziale einer Kindheitsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte über nationale Rahmungen hinaus. Weitere Forschungen in dieser Richtung – eventuell mit einer noch stärkeren Prononcierung der geschlechtsspezifischen Dimension – erscheinen lohnend.

Anmerkung:
1 Miriam Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert, München 2009 (vgl. Nina Mackert: Rezension zu: Gebhardt, Miriam: Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert. München 2009, in: H-Soz-u-Kult, 30.04.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-2-087> [18.9.2011]).