Cover
Titel
Mobilität und Mobilisierung. Arbeit im sozioökonomischen, politischen und kulturellen Wandel


Herausgeber
Götz, Irene; Lehnert, Katrin; Lemberger, Barbara; Schondelmayer, Sanna
Reihe
Arbeit und Alltag 1
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 43,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Ana Ionescu, Institut für Europäische Ethnologie, Universität Wien

Der Band „Mobilität und Mobilisierung. Arbeit im sozioökonomischen, politischen und kulturellen Wandel“ basiert im Wesentlichen auf den Beiträgen der gleichnamigen interdisziplinären Tagung, die im März 2009 unter der Ägide der Kommission „Arbeitskulturen“ der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde an der Ludwig-Maximilians-Universität abgehalten wurde. Er ordnet sich damit in eine Serie von Publikationen ein, die die Aktivitäten der Kommission dokumentieren. Zugleich wird mit „Mobilität und Mobilisierung“ aber auch ein Anfangspunkt gesetzt, nämlich für eine neue Reihe mit dem Titel „Arbeit und Alltag. Beiträge zur ethnografischen Arbeitskulturenforschung“, die auf die Absicht einer intensivierten und stärker gebündelten Publikationstätigkeit der Kommission hinweist.

Der Band vereint 26 Beiträge von insgesamt 33 Autor/innen und ist in drei Abschnitte gegliedert. Den Aufsätzen vorangestellt ist eine Einführung, die in sehr breiter und recht unspezifischer Weise den Rahmen der Publikation absteckt und das Tagungs- und Publikationsthema in einem interdisziplinären Wissenschaftskontext verortet. Explizit an den mobility turn anknüpfend, präsentieren die Herausgeberinnen Mobilität als „Imperativ und prägendes Moment moderner Arbeitsmärkte und Gesellschaften“ (S. 10). Dabei beziehen sie sich nicht nur auf räumliche, sondern auch auf (horizontale wie vertikale) soziale sowie „mentale“ (S. 12) Mobilität – ein weites Verständnis von Mobilität also, das im Einklang mit den aktuellen Debatten zu diesem Bereich steht. Weit, aber wenig präzise ist auch die Konzeptionalisierung des Arbeitsbegriffs: Die Herausgeberinnen wollen nicht nur Formen klassischer Erwerbsarbeit thematisiert wissen, sondern auch „prekäre Formen des Arbeitens und Lebens“ (S. 13) und ebenso „andere Formen von Arbeit“ (S. 13) beispielsweise Familienarbeit, ehrenamtliche Arbeit und Ähnliches.

Der erste Abschnitt, „Räumliche Mobilitäten im Spannungsfeld von Arbeit und Leben“, ist in seinem ersten Teil, „Die mobilisierte Arbeitskraft“, vor allem konkreten Erfahrungen räumlicher Mobilität(sanforderungen) gewidmet: Das Sprechen eines aus Deutschland stammenden Managers über seine 20-jährige berufliche Tätigkeit in Polen (Schondelmayer), Mobilitätserfahrungen in Form von Dienstreisen (Kesselring/Vogl), Familienkonzepte von Soldaten und Soldatinnen angesichts der ständigen Möglichkeit, versetzt zu werden (Näser), oder auch Mobilitätserfahrungen im Rahmen von humanitärer Hilfe (Roth) werden hier thematisiert. Ergänzt werden die empirischen Arbeiten durch einen theoretischen Beitrag von Günter Voß, der vor dem Hintergrund des Forschungsstandes in beiden Feldern konzeptionelle Überlegungen zu den – so das Fazit – sehr engen Zusammenhängen von Subjektivierung und Mobilisierung entwickelt.

Der zweite Teil des ersten Abschnitts, „Diskurse und Praktiken des Transnationalen“, beschäftigt sich mit Erfahrungen aber auch lokalen Folgen räumlicher Mobilität im Verhältnis zu nationalstaatlichen Diskursen. Eröffnet wird dieser Teil von einem allgemeinen Beitrag, der den methodologischen Nationalismus in der Arbeitsforschung thematisiert und als Alternative den „kosmopolitischen Blick“ (S. 142) vorschlägt, der – so die Autor/innen Ulrich Beck, Michael Heinlein und Judith Neumer – auch in lokalen Kontexten wie der Schule oder dem Betrieb eine Perspektive auf zentrale Dynamiken gegenwärtiger Arbeitswelten eröffnet. In drei empirischen Beiträgen werden Erfahrungen des Arbeitens in multinationalen Unternehmen (Moosmüller), Muster britischer Arbeitsmigration nach Russland im 19. Jahrhundert (Mahnke-Delvin) und die oft prekären Arbeits- und Lebensformen von Migrant/innen an den Grenzen Europas (Hess) präsentiert.

Der zweite Abschnitt des Bandes trägt den Titel „Soziale Mobilitäten in Transformationsgesellschaften“, womit allerdings keineswegs ausschließlich auf postsozialistische Gesellschaften abgezielt wird. Im ersten Teil geht es um „Institutionalisierungen des Prekären“. Zunächst stellt Franz Schultheis mit besonderem Fokus auf die bottom-up-Perspektive eine breit angelegte sozialwissenschaftliche Forschungskooperation vor1, die – zum Teil von den Arbeiten Pierre Bourdieus inspiriert – den Wandel gegenwärtiger Arbeitswelten untersucht. Die Perspektiven der darauf folgenden empirischen Beiträge reichen von selbstbiographisierendem Sprechen über Erwerbsmobilität (Sutter), über das sich wandelnde berufliche Selbstverständnis von Krankenschwestern (Wessel) und Lokomotivführern (Hörz/Richter) bis hin zu Regelungen von Dual-Career-Couples zwischen Arbeit und Familie (Hoser).

Unter dem Titel „Selbstinnovationen und Kontinuitäten“ wird im zweiten Teil soziale Mobilität, aber auch Stabilität in Osteuropa nach der Wende, konkret in Litauen und Bulgarien, thematisiert. Die Beiträge handeln sowohl von Selbstunternehmern und ihren Strategien des Umgangs mit kapitalistischen Idealbildern (Vonderau), als auch von verschiedenen Tätigkeitsbereichen in der Schattenwirtschaft (Chavdarova) und vom innerbetrieblichen Umgang mit (in)formellen Beziehungen (Petrova).

Im Abschnitt „Die Mobilisierung lokaler Ressourcen“ werden unter sehr unterschiedlichen Perspektiven soziale und räumliche Mobilität im Zusammenhang lokaler Kontexte thematisiert. Eine mikroperspektivisch angelegte Fallstudie über die Verortungs- und Abgrenzungsstrategien einer aufgestiegenen Akademikerin aus ländlichem Milieu (Wehr) steht neben historischen Beiträgen über die Bergbau- und Tourismusregion Kitzbühel in den 1970er-Jahren (Haider) und über eine Schweizer Siedlungsgenossenschaft in der Zwischenkriegszeit (Möller). Der ebenfalls historisch angelegte Text über eine in der Nachkriegszeit tätige linkslibertäre französische Forscher- und Aktivistengruppe (Gabler) überrascht an dieser Stelle etwas, kann aber als Überleitung zum letzten Teil des Bandes gesehen werden.

Der dritte, vergleichsweise kurz ausfallende Abschnitt des Sammelbandes, „Mobilisierung von Kulturarbeit im Kontext der Marktlogik“, richtet den Blick auf die eigene Praxis der Wissensproduktion mit ihren Rahmenbedingungen und hierarchischen Kontexten. Klara Löffler thematisiert in kritischer Perspektive die Implikationen projektbasierten kulturwissenschaftlichen Arbeitens. Die weiteren drei Beiträge beziehen sich konkreter auf die Arbeitskulturenforschung und die forschungspraktischen und forschungsethischen Überlegungen im Rahmen der Arbeit in Unternehmen (Koch) sowie auf die museale Repräsentation von Unternehmen (Bredemeier und Jochinke/Reinhardt).

Der Band ist zweifelsohne von dokumentarischem Wert: Er belegt Entwicklungen der Forschungen im Umfeld der Kommission Arbeitskulturen, geht aber auch über die Grenzen des Faches hinaus und deutet damit eine wichtige interdisziplinäre Vernetzung an. Mit der Wahl des Themas „Mobilität und Mobilisierung“ wird von Seiten der europäisch-ethnologischen Arbeitsforschung an aktuelle Themen, Fragestellungen und Debatten der Sozial- und Kulturwissenschaften angeknüpft. Eine weitere inhaltliche Grundtendenz, die sich an den meisten der Beiträge ablesen lässt, ist die Untersuchung von Arbeit in biografischen Zusammenhängen oder im Kontext sozialer Netzwerke. Nach den expliziten Diskussionen und Forderungen, die Arbeitsforschung nicht auf den Bereich der Arbeit alleine zu fokussieren2, zeichnet sich hier nun ab, dass das Verhältnis von Arbeits- und Lebenswelt in vielen Beiträgen in fruchtbarer Weise als Leitperspektive implizit die Fragestellungen prägt, ohne dass damit zugleich zwangsläufig die Auflösung der Grenzen von Arbeit postuliert würde. Zu diskutieren wäre der Umgang mit dem gesellschaftspolitischen Anspruch der Forschungen. Durch einen großen Teil der Beiträge zieht sich ein kritischer Grundtenor, der die Probleme der Mobilisierung und Verflüssigung des Arbeitslebens in den Vordergrund rückt, damit allerdings oftmals den Blick für die Interpretationen der Akteure verstellt.

Insgesamt fällt auf, dass die Qualität der Beiträge – wie es bei einem Band dieses Umfangs vielleicht auch nicht anders zu erwarten ist – sehr unterschiedlich ist. Viele Fallstudien verbleiben im Bereich des Deskriptiven und zeigen kaum Anschluss an weiterführende – gerade auch theoretische – Diskussionen. Im Umgang mit dem empirischen Material veranschaulicht der Band ganz klar die Möglichkeiten des dichten mikroanalytischen Zugangs: Sanna Schondelmayer, Sabine Hess, Ove Sutter, Laura Wehr und anderen gelingt es, komplexe Zusammenhänge zwischen individuellen Biografien, kollektiven Bezugssystemen und gesellschaftspolitischen und ökonomischen Faktoren zu erschließen, indem sie in sehr dichten Analysen akteursnah einzelnen Lebensgeschichten in ihrer jeweiligen Verstricktheit folgen, dabei aber Bezüge zu „kollektiven Diskurstopoi“ (S. 41) und zu den arbeitsmarkt- und migrationspolitischen Rahmenbedingungen herstellen. Im Unterschied dazu scheinen andere Beiträge trotz einer breiten empirischen Basis mit der sehr stark verallgemeinernden Auswertung des Materials beispielsweise im Sinne von „Elterntypen“ bei Beschäftigen der Deutschen Bundeswehr (S. 74) oder „Mustern“ des Umgangs mit beruflicher Mobilität (S. 86) die Chancen zu vergeben, die ein qualitativer und stark kontextualisierender Zugang bietet, der den subjektiven Deutungen der Beforschten folgt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich dieser Band weniger durch kondensierte, wegweisende Debatten der Arbeits- oder auch der Mobilitätsforschung auszeichnet als durch die Qualität einer ganzen Reihe von empirischen Beiträgen, die anspruchsvolle, kreative und theoretisch fundierte Forschung dokumentieren und für am Thema interessierte Leser/innen wertvolle Anknüpfungspunkte bieten.

Anmerkungen:
1 Die Ergebnisse dieser Forschungskooperation sind veröffentlicht in Franz Schultheis u.a. (Hrsg.), Ein halbes Leben. Biografische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch, Konstanz 2010.
2 Vgl. die zwei vorangegangenen Bände, die aus den Tagungen der Kommission für Arbeitskulturen hervorgegangen sind: Manfred Seifert / Irene Götz / Birgit Huber (Hrsg.), Flexible Biografien? Horizonte und Brüche im Arbeitsleben der Gegenwart, Frankfurt am Main u.a. 2007; Gerrit Herlyn u.a. (Hrsg.), Arbeit und Nicht-Arbeit. Entgrenzungen und Begrenzungen von Lebensbereichen und Praxen, München 2009.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/