W. Van Meurs u.a. (Hrsg.): Ottomans into Europeans

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Titel
Ottomans into Europeans. State and Institution-Building in South Eastern Europe


Herausgeber
Van Meurs, Wim; Mungiu-Pippidi, Alina
Erschienen
London 2011: Hurst & Co.
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
₤ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Adamantios Skordos, Institut für Byzantinistik und Neogräzistik, Universität Wien

Die Historiographie zur Geschichte Südosteuropas im „langen 19. Jahrhundert“ wird durch drei miteinander verwobene Themen beherrscht: die osmanische „Fremdherrschaft“, die damit ursächlich zusammenhängende „Rückständigkeit“ sowie die Befreiung von beiden; letzteres insbesondere durch die Ersetzung osmanischer durch westeuropäische Institutionen. Der vorliegende Band – „an institutional history of state and society building in the modern Balkans“ (S. VIII) – ist ein Revisionsversuch der lange üblichen Einschätzung des Institutionentransfers und Institutionenwandels von der imperial-osmanischen zur nationalstaatlichen Ordnung in Südosteuropa als eine „bloße“, in der Regel misslungene Nachahmung westlicher Ordnungssysteme. Der Erfolg dieses Versuchs bleibt allerdings bescheiden: Die empirischen Befunde der meisten Texte erklären zwar tatsächlich die Problemlagen bei der Durchsetzung der konstitutionellen Monarchie, der Neubestimmung der orthodoxen Kirche als nationalstaatliche Institution, der Einführung eines nach westlichen Normen kodifizierten Rechtssystems oder den Aufbau eines bürokratischen Verwaltungsapparats samt regulärem Heer. Sie bieten dennoch kaum den Stoff für eine so weitreichende Revision, dass der politische, wirtschaftliche und kulturelle Wandlungsprozess des post-osmanischen Südosteuropas als das Ergebnis einer fruchtbaren Synthese aus lokal-traditionellen und „westlich“-modernen Elementen zu verstehen ist.

Der in seiner Fragestellung wohl interessanteste, in der argumentativen Ausführung dennoch fragwürdigste Beitrag des Sammelbandes ist der Alina Mungiu-Pippidis. Sie geht der Frage nach, warum es den südosteuropäischen Staaten nicht gelungen ist, ihre demokratischen Systeme so weit zu konsolidieren, dass sie in der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg in Königs- und kommunistische Diktaturen verfielen. Indem die Autorin für die Entwicklung der politischen Institutionen in Südosteuropa bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs eine positive Bilanz zieht und die Meinung vertritt, dass die Eliten im Großen und Ganzen den richtigen Weg zur Modernisierung eingeschlagen hätten, verwirft sie den kulturellen Erklärungsansatz, der von einer besonderen balkanischen, die Institutionalisierung von Demokratie nicht begünstigenden politischen Kultur ausgeht. Strukturalistische Erklärungsansätze wiederum, die die „problematische“ Entwicklung der balkanischen Staatsbildungsprozesse durch das osmanische Vermächtnis als vorbestimmt und demzufolge als alternativlos beschreiben, akzeptiert Pippidi auch nur zum Teil. Aus ihrer Sicht konnte das osmanische Vermächtnis auf die Region nur deswegen so stark einwirken, weil der jeweilige „internationale Kontext“ den lokalen Eliten die Spielräume enorm einschränkte. So sei etwa die in der Osmanenzeit entstandene, für Südosteuropa typische ethnische Gemengelage erst durch die imperialistische Politik der Großmächte, die die Grenzziehungen zwischen den jungen Staaten nicht nach dem Kriterium der Bildung ethnisch homogener Einheiten, sondern im Dienste eigener Interessen diktiert hätten, zu einem für den Frieden und die Stabilität der Region bedrohlichen Problem geworden. Der internationale Kontext, dieses mal in der Form von deutsch-nationalsozialistischen und sowjetisch-kommunistischen Infiltrierungen sowie der Großen Depression Anfang der 1930er-Jahre, sei ebenso für die politische Entwicklung im Südosteuropa der Zwischenkriegszeit, die letztendlich in allen Staaten der Region früher oder später zur Errichtung einer Königsdiktatur geführt hat, verantwortlich. „Foreign context alone“, so die Quintessenz aller Überlegungen Mungiu-Pippidis, „explains most of what went on in the Balkans“ (S. 70).

Zweifelsohne darf man die Entwicklung Südosteuropas in der Zwischenkriegszeit nicht vom internationalen Geschehen abgekapselt untersuchen oder die Bedeutung außerregionaler Einwirkungen unterschätzen. Allerdings scheinen ältere Erklärungsansätze zur Funktionsunfähigkeit der südosteuropäischen Demokratien der Zwischenkriegszeit, wie etwa die Holm Sundhaussens und Rumen Daskalovs 1, unter anderem mit Hinweisen auf die Unfertigkeit des Parteiensystems, den politischen Klientelismus, die Manipulation von Wahlen, die Schwäche und Ineffizienz intermediärer Institutionen oder die verbreitete Gewaltbereitschaft im Zusammenhang mit irredentistischen Nationalprogrammen, weit überzeugender als die Ausführungen Mungiu-Pippidis zum internationalen Kontext zu sein. Ihre Lesart hingegen scheint stark von der Absicht geleitet zu sein, dem westlichen Bild vom Balkan sowie dem balkanischen Autostereotyp als eine durch politische und gesellschaftliche Rückständigkeit gekennzeichnete Region entgegenzuwirken. Der Beitrag Mungiu-Pippidis reiht sich somit in eine Reihe anderer Arbeiten ein, die unter einer verklärten Sicht die Zwischenkriegszeit als eine „goldene Epoche“ für Südosteuropa zu präsentieren versuchen.

Ähnlich argumentiert Mungiu-Pippidi auch im abschließenden Kapitel des Sammelbandes, wo sie sich optimistisch gibt, dass das postkommunistische Südosteuropa die Integration in die europäischen Gemeinschaftsstrukturen schaffen kann. Südosteuropa habe in der Vergangenheit seine Europäisierung und Modernisierung nicht aufgrund von „falschen institutionellen Entscheidungen“ der politischen Eliten verpasst. Diese waren laut Mungiu-Pippidi „quite advanced in implementing the Western institutions they were copying“. Die eigentlichen Probleme seien „nation-building conflicts and the serious deterioration in the international context“ gewesen (S. 306). Mungiu-Pippidi geht soweit, auch die Errichtung der südosteuropäischen Königsdiktaturen in der Zwischenkriegszeit als einen Versuch der damaligen Eliten zu deuten, „to protect their stateness and guide their countries towards civilization”. Deren Autoritarismus war nur „instrumental, and meant to be transitory“ (S. 306).

Wim van Meurs setzt sich in seinem Aufsatz mit dem „Umsturz“ der südosteuropäischen Demokratien der Zwischenkriegszeit auseinander, indem er seinen Fokus in einer vergleichenden Perspektive auf die „politische Arena“ Bulgariens, Rumäniens, Kroatiens bzw. Jugoslawiens richtet. Er zeigt, wie der von faschistischen, kommunistischen und Bauernparteien angewandte Populismus in Verbindung mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts das königlich-bürgerliche Establishment dazu zwang, seine politische Kultur neu zu definieren, die populistischen Methoden der „antidemokratischen Gegner“ nachzuahmen und schließlich selbst die Institution der „repräsentativen Demokratie“ zu untergraben. Mit der luziden Analyse der Unfähigkeit der südosteuropäischen Eliten in der Zwischenkriegszeit, populistischen, antidemokratisch ausgerichteten Bewegungen mit demokratischen Mitteln zu begegnen, sodass letztendlich ein Umsturz des Systems „von innen“ erfolgte, gelingt es van Meurs, das Zusammenspiel von internen und externen Faktoren gut zu beleuchten, ohne in monokausalen Reduktionismus zu fallen.

Andrei Pippidi geht in seinem Beitrag der Frage nach, welche Faktoren auf dem post-osmanischen Balkan die Entwicklung eines bürokratischen Verwaltungssystems beeinflusst haben und beschreibt die Schwierigkeiten der neuen Staaten, angesichts der Abwesenheit einer gebildeten, bürgerlichen Mittelschicht sowie des verbreiteten Analphabetismus unter der mehrheitlich agrarischen Bevölkerung westliche Standards zu erreichen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Schuldenkrise Griechenlands, die zu einem wichtigen Teil auf den aufgeblähten Staatsapparat und die Korruption seiner Vertreter zurückzuführen ist, weist Pippidi darauf hin, dass die Weichen für diese Fehlentwicklung bereits in den ersten Jahren der Existenz der Balkanstaaten gestellt wurden. Während zeitgleich in Deutschland die Staatsbeamten 2,4 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung ausmachten, lag der entsprechende Anteil in allen Ländern Südosteuropas bei über 5 Prozent. Ebenso stellten schon damals die Korruption und die Ineffizienz der Beamten große Probleme dar.

Constantin Iordachi untersucht in einem der längsten Beiträge dieses Sammelbandes die Staatsangehörigkeitsgesetzgebung der im Laufe des 19. Jahrhunderts entstandenen Nationalstaaten Südosteuropas. Er hinterfragt den ausschließlich ethnokulturellen Charakter der ersten südosteuropäischen Staatsbürgerschaftskonzepte, indem er zeigt, dass die Mehrheit der neuen Nationalstaaten bei der Vergabe der Staatsbürgerschaft nicht allein das Blut-, sondern auch das Bodenrecht berücksichtigte. Letzteres geschah insbesondere im Fall von Immigranten erster Generation. Somit sei man im Wesentlichen dem französischen und nicht, wie in der citizenship-Literatur zuweilen behauptet wird, dem deutschen Staatbürgerschaftsmodell gefolgt. Abweichungen von dem westlichen Vorbild gab es insofern, als durch die Kriterien der Religion und Ethnizität „unerwünschten Fremden“, vor allem Muslimen und Juden, das Staatsbürgerschaftsrecht verwehrt bzw. die Staatsbürgerschaft entzogen wurde. Trotz der Gemeinsamkeiten des rumänischen, bulgarischen oder griechischen Staatsbürgerschaftsrechts, die allesamt eine Kombination von „ius sanguinis“ und „ius soli“ darstellen würden, warnt Iordachi vor Verallgemeinerungen. Er plädiert dafür, die Einzigartigkeit jedes südosteuropäischen Falles, der aus einer komplexen Synthese von lokalen und universellen Faktoren hervorgegangen ist, zu berücksichtigen. Beachtungswert sind schließlich die dem empirischen Teil vorangestellten Überlegungen Iordachis zur Anwendung von sozialwissenschaftlichen Institutionalisierungstheorien auf die südosteuropäische Rechts- und insbesondere Staatsbürgerrechtsgeschichte. So interessant allerdings seine Ausführungen zum „institutional decoupling”, also zur Hinterfragung der lokalen Anpassungsfähigkeit eines westlichen Modells durch örtliche Eliten, oder zu den federführenden Transferakteuren als „institutional entrepreneurs“ sind, so bedauernswert ist es, dass er vernachlässigt, diese Theoreme mit den empirischen Befunden zu verbinden.

Der Aufsatz von John Gledhill und Charles King thematisiert die Ursachen von Gewalt in Südosteuropa. Der Balkan wurde im Westen immer wieder – zuletzt während der Jugoslawienkriege der 1990er-Jahre – mit interethnischem Hass, übermäßiger Gewaltbereitschaft seiner Bevölkerung sowie „unzivilisierter“ Kriegsführung in Verbindung gebracht. Gledhill und King richten mit ihrer „institutionalistischen“ Herangehensweise den Fokus auf einen besonderen Typ von Gewalt, der sich während der Osmanenherrschaft herausgebildet und in der post-osmanischen Zeit weiterexistiert hat. Sie nennen diesen Typ „violent contracting“ und beziehen sich dabei auf die von der staatlichen Macht an irreguläre Banden vergebenen Gewaltaufträge. Die Pforte hatte – insbesondere in den Randzonen ihres Herrschaftsbereichs – immer wieder auf den Dienst von Briganten zurückgegriffen, um mit deren Hilfe wichtige Bergpässe zu sichern oder auch Steuern einzutreiben. Diese „Tradition“ führten die balkanischen Nationaleliten fort, indem sie Briganten – öfters die gleichen, die zuvor für Istanbul arbeiteten – zuerst im „nationalen Befreiungskampf“ gegen die Osmanen, dann gegenseitig zur Realisierung von expansionistischen Plänen einsetzten. Die beiden Autoren exemplifizieren diesen Vorgang am Beispiel der berüchtigten Komitadschis, die im letzten Viertel des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Makedonien und in der Dobrudscha für ein „Großbulgarien“ kämpften. Mogens Pelts beschreibt anschließend die Anstrengungen der neuen Balkanstaaten, reguläre, auf westlichen Vorbildern basierende Streitkräfte aufzubauen. In diesem Zusammenhang bespricht er das Problem der Entmachtung von Briganten aus der osmanischen Zeit, die an den nationalen Unabhängigkeitskriegen teilgenommen hatten und nun die Forderung stellten, den Kern der neuen Armeen der südosteuropäischen Staaten auszumachen.

Edda Binder-Iijima und Ekkehard Kraft analysieren die Einführung der konstitutionellen Monarchien in Griechenland (1864), Rumänien (1866), Serbien (1869) und Bulgarien (1879) als Antwort der nationalen Eliten auf das absolutistische Regieren von Monarchen, die aus dem westlichen Ausland „importiert“ worden waren. Als Vorbild diente in allen Fällen die belgische Verfassung. Allerdings gab es auch innerregionale Einflüsse, sodass zum Beispiel der serbische Konstitutionalismus vom griechischen und rumänischen beeinflusst wurde. Paschalis Kitromilides setzt sich wiederum mit der Transformation der orthodoxen Kirche von einer osmanischen zu einer nationalstaatlichen Institution in Griechenland, Serbien, Rumänien und Bulgarien auseinander. Während das Konstantinopler ökumenische Patriarchat von Seiten der Pforte instrumentalisiert wurde, um die christliche Bevölkerung administrativ zu erfassen und zu kontrollieren, nutzten die jungen Balkanstaaten die autokephalen orthodoxen Kirchen zur Transmission ihrer „nationalen Botschaft“ unter die Bevölkerung des jeweiligen neuen Staatsterritoriums. Im Weiteren behandelt Dimitar Bechev den schwierigen, keineswegs widerstandsfreien Übergang von einem auf semi-autonome Dorf- und Stadtgemeinschaften basierenden osmanischen Verwaltungssystem zu einem rigiden staatlichen Zentralismus französischen Vorbilds. Und Ioannis Tassopoulos untersucht die Einführung und verfassungsmäßige Verankerung des Rechtsstaatsprinzips zuerst im Osmanischen Reich während der Tanzimat-Periode, dann in den Nachfolgestaaten Türkei, Griechenland und Serbien. Schließlich beschreibt Holly Case die Entwicklung der südosteuropäischen Presse, insbesondere der slowenischen, kroatischen, serbischen, bulgarischen und rumänischen, ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Durch die Schwächung des Osmanischen Reiches und die Aufhebung der Zensur in der Donaumonarchie hatte diese einen ersten, großen Aufschwung erfahren, der jedoch in den Jahren des Ersten Weltkriegs durch die erneute Einführung der Zensur wieder einbrach. In der Zwischenkriegszeit wurden die Printmedien dann von Seiten der Staaten im Rahmen ihrer Nationalisierungskampagnen zunehmende Bedeutung beigemessen.

Der Sammelband „Ottomans into Europeans“ bietet einen guten Einblick in den institutionellen Wandel, der sich im „langen 19. Jahrhundert“ in Südosteuropa hauptsächlich unter westlichem Vorzeichen vollzog. Bei einigen Autoren herrscht der Eindruck vor, dass sie unter dem Bann des Buches von Maria Todorova zur „Imaginierung des Balkans“ stehen, in dem die sprachliche Konstruiertheit der „balkanischen Rückständigkeit“ aufgezeigt wurde.2 Daher wird man im Sammelband immer wieder mit dem Versuch konfrontiert, die gesellschaftliche und ökonomische Rückständigkeit der Region zu verneinen bzw. ihr einen „genuinen“, zumindest für Europa einzigartigen Charakter abzusprechen. Nichtsdestoweniger ist der Sammelband ein lesenswertes Buch, das viel Wissen in einer kompakten Form vermittelt und durch den einen oder anderen Beitrag auch spannende Debatten anregen kann.

Anmerkungen:
1 Rumen Daskalov / Holm Sundhaussen, Modernisierungsansätze, in: Magarditsch Hatschikjan / Stefan Troebst (Hrsg.), Südosteuropa. Ein Handbuch. Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur, München 1999, S. 105-135.
2 Maria Todorova, Imagining the Balkans, überarb. Aufl., Oxford 2009 (1. Aufl. 1997).

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