Titel
Churchill’s Children. The Evacuee Experience in Wartime Britain


Autor(en)
Welshman, John
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 354 S.
Preis
$ 32,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicholas J. Williams, Neuere und Neueste Geschichte, Universität des Saarlandes, Saarbrücken

Auf der Grundlage von 13 Einzelschicksalen während des Zweiten Weltkrieges in Großbritannien evakuierter Kinder und Erwachsener zeichnet John Welshman das britische Pendant zur „erweiterten Kinderlandverschickung“ im nationalsozialistischen Deutschland nach. Im britischen Fall waren von der freiwilligen Maßnahme im September 1939 insgesamt knapp 1,5 Millionen Kinder und Mütter betroffen, die für unterschiedlich lange Zeiträume (von wenigen Wochen bis hin zur gesamten Dauer des Krieges) den zu erwartenden Bomben zu entkommen suchten. Zählt man die auf private Initiative hin geflohenen Mütter und Kinder hinzu, beläuft sich die Gesamtzahl der Evakuierten gar auf 3,5 bis 3,75 Millionen Menschen (S. 44).

Der ersten Evakuierungswelle vom September 1939 waren mehrere Proben vorausgegangen, sodass der reine Ablauf der Abreise reibungslos vor sich ging und von administrativer Seite als voller Erfolg gewertet wurde (S. 44). Einmal in den Zielgebieten angekommen, wurden die Kinder (aber auch Mütter von Säuglingen, schwangere Frauen sowie einige Kranke und Alte) auf ihre Quartiere verteilt. Bald machte sich jedoch bemerkbar, dass längst nicht alle Evakuierten die notwendige Kleidung im Gepäck hatten, was in den allermeisten Fällen schlicht daran lag, dass sie nicht vorhanden war. Spendensammlungen und Hilfszahlungen sollten dem Mangel Abhilfe verschaffen (S. 75f.). Auch ließen wechselseitiges Misstrauen und Spannungen zwischen Evakuierten und den unfreiwilligen, jedoch finanziell entschädigten Gastgebern (S. 65) nicht lange auf sich warten. Am häufigsten warf man den später als „Vackies“ (auch Vaccies) bezeichneten Kindern (S. 299) jedoch mangelnde Hygiene, schlechtes Benehmen sowie teils auch kriminelles Verhalten vor. Insbesondere Bettnässerei und Kopfläuse, auch Krätze, wurden besonders häufig beklagt und in etlichen Fällen in unschönen Leserbriefen in der Tagespresse bekannt gemacht (S. 84). Aus diesen Briefen war darüber hinaus der altbekannte Gegensatz zwischen Stadt und Land wiederholt herauszuhören (S. 88). Der vermeintlich gesunden und sauberen Landbevölkerung wurde, wie etwa im Brief eines Dr. Kerr an das British Medical Journal 1939, der „Abschaum“ aus den Städten gegenübergestellt, (S. 90). Aus diesen Gründen (wie auch aus einer ganzen Reihe anderer, S. 111) machten sich viele der Betroffenen schnell wieder auf den Heimweg, und etliche Mütter, vor allem aus sozial schlechter gestellten Schichten (S. 110), entschieden, dass für ihre Kinder von Bomben wohl eine geringere Gefahr ausginge als von der Verachtung, mit der sie in einigen Fällen in ihren Gastfamilien behandelt wurden.

Bald waren politische Stellen bis hin zum Unterhaus, in dem die Implikationen der Evakuierung am 14. September bis in den späten Abend hinein diskutiert wurden (S. 84f.), gezwungen, sich des Themas anzunehmen, und Kritik wurde auch schnell an Behörden laut, die gesundheitliche Probleme vieler Kinder wesentlich früher hätten entdecken sollen. Es folgten mehrere Berichte und Artikel in medizinischen, pädagogischen, psychologischen und sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften (S. 122f.), die vielfach dazu tendierten, an den durch die Evakuierung hervorgerufenen Zuständen Kritik zu üben. Nicht zuletzt war der Begriff „Problemfamilie“ („problem family“) eine Wortschöpfung, die mit der Debatte über die Evakuierungen in Großbritannien in Verbindung gebracht wird (S. 306). Ab 1940 folgten die erwarteten Angriffe der deutschen Luftwaffe gegen Zivilisten im großen Stil, und mit Beginn des „Blitzkrieges“, also der verstärkten Bombardierung Londons ab September 1940, wurde eine zweite Evakuierungswelle in Gang gesetzt, die etwa 1 ¼ Millionen Zivilisten betraf (S. 176). 1944 folgte eine letzte Evakuierung infolge der V1- und V2-Angriffe. Deren tatsächliche Wirkung war zwar eher psychologischer als militärischer Natur, sie gab jedoch – wenn auch in begrenztem Umfang – erneut Anlass für Evakuierungen, vor allem aus London. Auch bei der zweiten Welle ließen die Abwehrreaktionen gegen die ungebetenen Gäste nicht lange auf sich warten, und Schmierereien wie „Vaccies Go Home“ (S. 184) tauchten auf. Es sollte jedoch nicht der Eindruck entstehen, als ob die Evakuierung nur negative Erinnerungen hinterließ. Anschaulich beschreibt Welshman, wie in vielen Fällen die Evakuierung nicht nur zu Schwierigkeiten, sondern auch zu persönlichen Bindungen und Freundschaften führte, die – inklusive romantisierender Anekdoten – bis heute zum Narrativ vieler britischer Familien gehören (inklusive Welshmans eigener Familie sowie auch der des Rezensenten).

Im März 1943 kulminierte die politische Reaktion auf die Evakuierung in Gestalt der Veröffentlichung des „Our Towns“-Berichts, der unter anderem von der Stadtplanerin Elizabeth Denby verfasst worden war.1 In dem Bericht der Womens’ Group on Public Welfare wurden die slumähnlichen Zustände der Herkunftsregionen vieler Evakuierter klar benannt und entschiedene Vorschläge für die Wohnungspolitik nach dem Krieg gemacht. Der Bericht, der in Buchform bei Oxford University Press erschien, wurde mit viel Sympathie aufgenommen und in etlichen Zeitschriften und Zeitungen positiv rezensiert (S. 276–278). Weitere Reaktionen fanden sich im sogenannten „Green Book“, das unter dem Titel „Education After the War“ Empfehlungen für die Bildungspolitik nach dem Krieg zusammenfasste (S. 252, 254). Mit am bekanntesten wurde jedoch die erst nach dem Krieg veröffentlichte Studie von Richard Titmuss, dessen „Problems of Social Policy“ (London 1950) nach wie vor vielen als einer der Grundsteine des britischen Sozialstaats gilt. Im Urteil Roy Parkers stellt sich die Evakuierung, wie Welshman anmerkt, so dar, „als ob ein Stein umgedreht worden wäre, um das wahre Ausmaß an Kinderarmut und Deprivation zu enthüllen“.2 Diese Haltung kann, obwohl Welshman sie an anderer Stelle differenzierter behandelt und gegen Angriffe verteidigt3, mittlerweile als Teil eines vielfach internalisierten britischen Geschichtsbildes gelten, wie auch jüngst von John Stewart, einem Kollegen Welshmans, bei einer in Saarbrücken zu einem ähnlichen Thema abgehaltenen Tagung betont wurde.4 Es lässt sich demnach festhalten, dass die Evakuierungen dazu führten, dass soziale Missstände in Großbritannien in breitem Stil öffentlich bekannt wurden. Diese Missstände hatten auch vor dem Krieg bereits bestanden, doch war es dank der recht rigiden Klassenstruktur politischen Entscheidungsträgern wie auch der Mittelschicht deutlich leichter gefallen, die Augen davor zu verschließen.

Im Vordergrund stehen in Welshmans Buch weniger die politisch-administrativen Vorbereitungen oder Auswirkungen der Evakuierungen. Vielmehr ist „Churchill’s Children“ der Versuch, die Ereignisse anhand von persönlichen Lebensgeschichten zu beschreiben: Sein Buch beruht auf den veröffentlichten und unveröffentlichten autobiographischen Zeugnissen von 13 Betroffenen der Evakuierung, die aus unterschiedlichen Landesteilen stammen und so ein mehr oder minder vollständiges Bild der Ereignisse liefern. Besonders bemerkens- und lesenswert ist dabei das Schicksal einer jüdischen Schule und deren Leiterin, Judith Grunfield, die nach Shefford (Bedfordshire) evakuiert worden war. Die Bewahrung der Erinnerung an dieses bemerkenswerte Schicksal ist sicher ein Verdienst Welshmans, der sein Buch zwar nicht mit einem wissenschaftlichen Apparat, dafür aber mit Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln versehen hat, in denen sich weitergehende Literatur- und Quellenhinweise befinden. Das Buch ist damit, wie der Autor selbst schreibt, kein wissenschaftliches Buch, sondern eine populärwissenschaftliche Darstellung, die das Thema Evakuierung einem breiteren Publikum zugänglich machen soll (S. 8). Anders als in Welshmans früheren Arbeiten lässt sich kaum eine klar umrissene These mit „Churchill’s Children“ verknüpfen, handelt es sich doch um eine Beschreibung, keine Analyse.

Das Thema Evakuierungen selbst bleibt indes auch im wissenschaftlichen Diskurs in Großbritannien aktuell. Die Jahreskonferenz der Oral History Society wird sich 2012 mit dem Thema beschäftigen, in Zusammenarbeit mit dem Research Centre for Evacuee and War Child Studies5, dessen Existenz allein schon ein stärkeres Interesse an dem Thema andeutet, als dies in Deutschland für die hiesigen Evakuierungen der Fall wäre. Welshmans Buch schließt einerseits eine Lücke, indem er eine populärwissenschaftliche und gleichzeitig historisierende Darstellung der Evakuierungen in Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs vorlegt. Andererseits ist jedoch sein Umgang mit den Quellen wenig transparent, sodass nicht immer klar ist, wie lange das Erlebte vor dem Hinterlassen der entsprechenden Egodokumente lag und welche Zerreffekte in der Zwischenzeit stattgefunden haben. Ebenfalls ist das Einordnen von Einzelschicksalen in größere politische und historische Linien stellenweise problematisch und erhöht zumindest die Lesbarkeit seines Buches nicht. Andererseits stellt Welshmans Ansatz einen begrüßenswerten – und ganz in der britischen Tradition – stehenden Versuch dar, akademischen Ansprüchen sowie dem Unterhaltungsbedürfnis eines breiteren Publikums gleichzeitig zu entsprechen. Hierüber die Nase zu rümpfen und das Buch schlicht als „Histotainment“ abzutun wäre unangenehm deutsch. Wer es lieber rein wissenschaftlich möchte, sei daher auf Welshmans entsprechende Artikel zum Thema verwiesen.6

Anmerkungen:
1 Siehe auch John Welshman, Evacuation, Hygiene, and Social Policy: The Our Towns Report of 1943, in: The Historical Journal 42 (3) 1999, S. 781–807.
2 Roy Parker, Child Care and the personal social services, in: David Gladstone (Hrsg.), British Social Welfare. Past, Present and Future, London, New York 1995, S. 174.
3 John Welshman, Evacuation and Social Policy During the Second World War: Myth and Reality, in: Twentieth Century British History 9 (1) 1998, S. 28–53.
4 John Stewart, Evacuation in Britain. Process and consequences. Vortrag bei der Tagung Evacuations in the German-French Border Region During the Second World-War; vgl. Tagungsbericht Evacuations in the German-French Border Region During the Second World-War. 10.06.2011-11.06.2011, Saarbrücken, in: H-Soz-u-Kult, 02.07.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3702> (27.07.2011).
5 Siehe <http://www.reading.ac.uk/education/partners/ioe-evacuees-archive.aspx> (27.07.2011). Der CFP für die 2012 anstehende Tagung ist noch nicht online. Das Zentrum in Reading bietet allerdings eine Bibliographie der in wissenschaftlicher Hinsicht zum Thema verfügbaren Literatur.
6 Neben den oben angeführten Artikeln ist erwähnenswert, dass sich Stewart und Welshman auch dem meist vernachlässigten schottischen Fall gewidmet haben; siehe John Stewart / John Welshman, The Evacuation of Children in Wartime Scotland: Culture, Behaviour and Poverty, in: Journal of Scottish Historical Studies 26, (1-2) 2006, S. 100–120.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension