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Titel
Rudolf Bultmann. Eine Biographie


Autor(en)
Hammann, Konrad
Erschienen
Tübingen 2010: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
582 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne Chr. Nagel, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Wenn protestantische Theologen im späten Kaiserreich auf die Frage, wer in Marburg lehre, antworteten: „Da ist Rade!“, womit der Demokrat, liberale Theologe und Herausgeber der Wochenschrift „Die Christliche Welt“ Martin Rade gemeint war, so hieß es nach 1945 für lange Jahre ebenso spontan: „Da ist Bultmann!“ Der alte Mann in der Calvinstraße zählte und zählt zum geistigen Urgestein der Universität wie der Stadt. Dennoch haben wir auf eine umfassende, Leben und Werk Rudolf Bultmanns gleichermaßen betrachtende Biographie lange warten müssen. Das dürfte vor allem der Komplexität von Bultmanns hermeneutischem Programm der Entmythologisierung geschuldet sein, das im Kontext der existenziellen Wende von Philosophie und Theologie in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wurzelt und sich aus der dialektischen Theologie Karl Barths heraus in schroffer Abkehr vom sogenannten Kulturprotestantismus entfaltete. Eine maßgebliche Rolle spielte in diesem Prozess der seit 1923 an der Marburger Universität wirkende Martin Heidegger, der mit Bultmann eine fruchtbare Arbeitsgemeinschaft einging. Schon bei der ersten persönlichen Begegnung registrierte der Philosoph den brennenden Ehrgeiz des Theologen, sich von der Lehre seiner akademischen Väter geistig zu emanzipieren. Der zum Protestantismus konvertierte Heidegger war ein hervorragender Kenner Luthers und entpuppte sich in diesem fundamentalen Epochenumbruch der jüngeren protestantischen Theologiegeschichte für Bultmann als kongenialer Gesprächspartner.

Der Autor dieser bereits in zweiter Auflage erschienenen Studie, Konrad Hammann, versieht heute, nach zwei Jahrzehnten im Pfarrdienst, eine Professur für Systematische sowie Historische Theologie und ihre Didaktik an der Universität Göttingen. Für die Biographie konnte er aus dem ungewöhnlich reichen Personalnachlaß Bultmanns in der Universitätsbibliothek Tübingen sowie aus zahlreichen weiteren Korrespondenzen des Familien-, Kollegen- und Freundeskreises schöpfen. Sie folgt einem klassischen Aufbau, der mit der Geburt Bultmanns im Jahr 1884 beginnt und mit seinem Tod im Jahr 1976 abschließt. Dazwischen werden die einzelnen Lebensstationen liebevoll ausgebreitet, angefangen von der behüteten Kindheit im Pfarrhaus, über die Zeit als Gymnasiast in Oldenburg, die Studienjahre in Tübingen, Berlin und Marburg, bis hin zum Dasein als Ordinarius, Ehegatte und Vater dreier Töchter. Es bleibt keine Facette seiner persönlichen Lebensumstände ausgespart, was sich gelegentlich befremdlich liest, wenn Hammann den Leser teilhaben läßt an intimen Details der Brautwerbung oder der körperlichen Gebrechen des 91jährigen Greises, der noch im hohen Alter zum Abendessen regelmäßig ein Bier „aus einem Zinnkrug“ (S. 498) trank und sich danach einen Korn samt Zigarre oder Pfeife genehmigte. In seiner Detailverliebtheit erinnert das Buch an Johannes Rathjes „Die Welt des Freien Protestantismus“ aus dem Jahre 1952, wobei es im Faktenreichtum dieses sogar noch zu übertreffen scheint.1 In der Summe kommt dadurch jedoch, vom Autor vielleicht nicht einmal beabsichtigt, ein ziemlich ambivalentes Bild des berühmten Theologen heraus, dessen Biographie sich nicht immer vorbildlich liest.

Beim Blick auf den äußeren Lebensgang Rudolf Bultmanns sticht hervor, wie eigentümlich unberührt er von den Zäsuren der deutschen Geschichte geblieben ist. Weder der Krieg 1914, noch Niederlage und Revolution 1918, nicht die konflikthaften Jahre der Weimarer Republik oder die Katastrophe des Dritten Reichs haben sich dieser schnurgeraden Karriere in den Weg gestellt. Vom Kriegsdienst wegen Untauglichkeit verschont, begann Bultmanns Etablierung 1916 auf einer außerordentlichen Professur in Breslau. 1920 wechselte er auf ein Ordinariat an die Universität Gießen, um nur zwei Semester später einem Ruf an die Universität Marburg zu folgen, wo er bis zu seiner Emeritierung lehrte. Seine berufliche Laufbahn atmet die Normalität eines Verwaltungsangestellten oder mittleren Beamten, die für einen exponierten Vertreter der protestantischen Theologie aber schon erstaunlich ist.

Hatte er im August 1914 noch in die allgemeine Kriegsbegeisterung eingestimmt, so fiel er 1918 in eine ressentimentgeladene Stimmung gegen die alte Ordnung. Bultmann begrüßte den Untergang des Kaiserreichs, dessen Bürgerlichkeit er nun schal und zukunftslos fand. Seine Ablehnung reichte so weit, daß er sich ernstlich für Lenin zu interessieren begann und sich auf deutschem Boden sogar vorübergehend eine Diktatur vorstellen konnte: „Man braucht das Totschießen ja nicht so weit zu treiben wie in Rußland (und wird es bei uns ja nicht ...), aber wenn man eine genügende Anzahl von Bonzen und Spießern inner- und außerhalb der Universität kaltstellen könnte, wäre es schon gut“ (S. 98). Das war nicht eben christlich gedacht, deutet vielleicht auch auf eigene berufliche Interessen, offenbart aber in jedem Fall, wie naiv der 34 Jahre alte Extraordinarius dem russischen Bolschewisten auf den Leim ging. Spätestens mit der Etablierung als ordentlicher Professor war es mit Bultmanns Verbalradikalismus vorbei. Wohl stellte er sich auf den Boden der parlamentarischen Republik, doch, wie es scheint, ohne innere Anteilnahme. Für das parteipolitische Engagement seines akademischen Lehrers Martin Rade brachte er kaum Verständnis auf und setzte sich selbst zu keiner Zeit politisch aktiv für den Weimarer Staat ein. Absorbiert vom Kampf für die dialektische Theologie war die Gegenwartspolitik allenfalls ein Nebenschauplatz seines Interesses. So fand er auch nichts dabei, am 18. Januar 1928 auf der Reichsgründungsfeier der Universität, womit alljährlich dem Kaiserreich, nicht der Republik gehuldigt wurde, einen Vortrag zu halten. Zuletzt wandte er sich wie viele vollends enttäuscht vom Weimarer Staat ab und setzte „große Hoffnung“ auf eine politische Erneuerung durch die „nationalsozialistische Bewegung“ (S. 257). Wenngleich er diese gravierende Fehleinschätzung alsbald korrigierte, beschränkte er seine Opposition gegen das Regime auf den gewiß wichtigen, doch letztlich schmalen kirchenpolitischen Raum.

Während der bereits emeritierte Martin Rade 1933 aufgrund seiner politischen Betätigung für das „Weimarer System“ aus dem Staatsdienst entlassen, Hans von Soden wegen seines Engagements in der Bekennenden Kirche vorübergehend zwangsweise in den Ruhestand versetzt wurde, blieb Bultmann von dergleichen Maßnahmen verschont. Dies mochte daran gelegen haben, daß der Marburger Theologe „vornehmlich in seinen Lehrveranstaltungen, Predigten und Publikationen für die Sache der Bekennenden Kirche“ (S. 265) stritt, sich ansonsten aber gegenüber den neuen Machthabern loyal verhielt. Die Entscheidung Karl Barths 1934, den persönlich auf Adolf Hitler zu leistenden Eid nur unter dem Vorbehalt „soweit ich es als evangelischer Christ verantworten kann“, abzulegen, lehnte Bultmann ab und begründete seine Haltung damit, dass „der Staat seine allgemeinen Forderungen nicht durch die besondere christliche Gehorsamspflicht einzelner Beamter gegenüber Gott zur Disposition stellen lassen“ (S. 263) könne, – so, als habe der „Führer“ den deutschen Staat tatsächlich verkörpert. Bultmanns Gutachten zur Anwendung des Arierparagraphen in der Kirche war nobel, bezog sich aber ausdrücklich nicht auf das sonstige staatliche Leben. Das Schicksal seiner gemaßregelten Kollegen vor Augen und mit Rücksicht auf seine Familie, handelte Bultmann vorsichtig und hielt sich vom politischen Widerstand gegen das Regime fern. Niemand wird ihm daraus einen Vorwurf machen können. Er selbst freilich blickte nach 1945 mit wenig Verständnis auf Kollegen, die es aus Angst vor Repressionen ähnlich gehalten hatten.

Folgt man seinem Biographen, so war Bultmann in dem, was und wie er während des Dritten Reichs lehrte, in keiner Weise eingeschränkt, sondern genoß „die Freiheit der Wissenschaft“ (S. 260). Dieser Befund muß nicht überraschen, wenn man das geringe Interesse der Nationalsozialisten an der Theologie bedenkt, die das Fach lieber heute als morgen an den Universitäten abgeschafft hätten. Anders verhielt es sich mit Fächern wie der Geschichtswissenschaft, deren legitimatorische Funktion auf der Hand lag. Hier war das nationalsozialistische Verständnis von wissenschaftlicher Freiheit eng begrenzt und wurden methodische Vorgaben wie die Berücksichtigung der Rassenlehre unverhohlen zur Pflicht gemacht. So geriet Bultmanns direkter Nachbar in der Marburger Doppelhaushälfte, der Historiker Wilhelm Mommsen, unter eine erhebliche Anpassungserwartung. Der Druck auf ihn erhöhte sich weiter dadurch, daß Mommsen seit 1919 Mitglied in der DDP, ab 1930 der Deutschen Staatspartei gewesen war und gemeinsam mit Martin Rade bis zuletzt öffentlich für die Wahrung von Freiheit und Recht gestritten hatte. Das Kultusministerium, aber auch fanatische Fachkollegen wie Walter Frank hatten darum ein Auge auf ihn. Es ist dies nicht der Ort, die Geschichte Wilhelm Mommsens im Dritten Reich noch einmal aufzurühren. Doch trug zu seiner Entlassung im Jahr 1945 unter anderem die belastende Aussage seines Nachbarn Bultmann bei, die dieser ohne Not gegenüber einem amerikanischen Offizier gemacht hatte, wohl wissend um die Folgen, die das für Mommsen haben mußte. Bultmann fand es empörend, daß der Historiker den braunen Machthabern entgegengekommen und 1941 auch noch Parteimitglied geworden war.

Gewiss war der Wunsch nach einer Erneuerung der Universität 1945 groß. Aber dem moralischen Rigorismus Bultmanns dürften nur wenige Professorenviten standgehalten haben. Schon sein Mitstreiter im Planungsausschuss, der Philosoph und erste Nachkriegsrektor der Universität, Julius Ebbinghaus, besaß keine reine Weste. Auf ihn hielt Bultmann große Stücke, er sah jedoch geflissentlich darüber hinweg, dass Ebbinghaus von 1941 bis 1945 Dekan der Philosophischen Fakultät gewesen war und damit eine herausgehobene Position in der nationalsozialistischen „Führeruniversität“ eingenommen hatte. Es bleibt das Geheimnis des Philosophen, wie er die amerikanischen Hochschuloffiziere von seiner politischen Lauterkeit überzeugte. Hammann indes stellt sich dergleichen Fragen nicht. Bemerkenswert unkritisch gegenüber seinem „Helden“ übernimmt er ein ums andere Mal dessen Perspektive und kolportiert die alten, sich um die Universität in der zweiten Nachkriegszeit bis heute rankenden Marburger Geschichten. Darin verkörpert Bultmann die Lichtgestalt, während Mommsen mit der unbewiesenen Behauptung, dessen Nachbarschaft habe für die Familie Bultmann in der Zeit des Dritten Reichs eine Gefahr bedeutet, von Hammann noch ein wenig mehr dämonisiert wird.

Wer sich hingegen für die Genese der Dialektischen Theologie respektive der Bultmannschen Entmythologisierung-Lehre interessiert, kommt mit diesem Buch eher auf seine Kosten. Hammann zeichnet den Entstehungsprozess akribisch nach und stellt die wichtigsten Abhandlungen und Streitschriften sachkundig vor. Einmal mehr wird deutlich, wie sehr sich die geistige Welt vor und nach 1914 auch beim Blick auf die protestantische Theologie unterschied: Die Liberale Theologie als Lehre der Väter hatte ausgedient, weil sie auf die Fragen der heranwachsenden Generation keine Antworten mehr zu geben wußte. Und die schlug nun mit Macht auf die alten Lehrer ein, polemisch und oftmals persönlich verletzend. An eine Versöhnung der Positionen war schon bald nicht mehr zu denken. Selbst eine irenische Natur wie Rade kapitulierte vor solcher Vehemenz. Dialektische Theologie und Entmythologisierungslehre waren das Ergebnis eines Generationenkonflikts, der zeitgenössisch auf vielen Bühnen spielte und in der Philosophie kaum weniger dramatisch tobte wie in der Theologie. Gerade deshalb sollte man im Rückblick mit einseitigen Parteinahmen vorsichtig sein.

Anmerkung:
1 Johannes Rathje, Die Welt des Freien Protestantismus. Ein Beitrag zur deutsch-evangelischen Geistesgeschichte. Dargestellt am Leben und Werk von Martin Rade, Stuttgart 1952.

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