V. von Tulechov: Tomas Garrigue Masaryk

Cover
Titel
Tomas Garrigue Masaryk. Sein kritischer Realismus in Auswirkung auf sein Demokratie- und Europaverständnis


Autor(en)
von Tulechov, Valentina
Erschienen
Göttingen 2011: V&R unipress
Anzahl Seiten
194 S.
Preis
€ 37,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva Hahn, Oldenburg

Sowohl das wissenschaftliche Werk als auch das politische Handeln des tschechischen Staatsmannes Tomáš G. Masaryk (1850-1937) beruhten auf einem Konzept, das er – und dann seine Zeitgenossen und die Nachwelt – als ‚kritischen Realismus‘ bezeichneten. Darum geht es in dem vorliegenden Werk. Fairerweise sollten die Leser dieser Zeilen wissen, dass ihre Autorin selbst einem eng verwandten Thema im Jahre 1981 ihre eigene Dissertation widmete und im vorliegenden Buch als „die scharfe Kritikerin“ (S. 173) von Masaryks Realismus bezeichnet wird.1 Von Tulechov ist mit ihren neuen Einblicken in das Labyrinth der Ideen Masaryks und deren Interpretationen allerdings selbst keineswegs unkritisch.

Der seit 1882 als Philosophieprofessor in Prag wirkende Masaryk war ein international beachteter Autor philosophischer und sozialwissenschaftlicher Studien in deutscher und tschechischer Sprache, Publizist, Politiker und zwischen 1918 und 1935 Präsident der Tschechoslowakei. Schon in der Habsburgermonarchie fand er sowohl begeisterte Bewunderer als auch scharfe Kritiker, und seitdem bemühen sich von Generation zu Generation viele Autoren um Darstellungen und Interpretationen seines Erbes. Bis 1918 rekrutierten sich Bewunderer und Kritiker gleichermaßen aus zahlreichen politischen und nationalen Gruppierungen und richteten ihr Augenmerk meist konkret auf die eine oder andere politische Stellungnahme. Nach der Gründung der Tschechoslowakei trat in der Masaryk-Rezeption ein Wandel ein: Es entstand auf der einen Seite eine Tradition, in der sein Name zum Symbol eines vermeintlich fehlkonstruierten Staates wurde. Auf der anderen Seite wurde er in der tschechischen Öffentlichkeit vielfach als Staatsgründer verherrlicht. In der wissenschaftlichen Literatur fand Masaryk stets eher Bewunderer, obwohl in Detailfragen immer wieder Kritik geäußert wurde. Das gilt auch für die heutige internationale Fangemeinde Masaryks, in der etwa der Pariser Historiker Alain Soubigou2 oder Francesco Leoncini3 aus Venedig prominent figurieren. In Tschechien lebt die Erinnerung an Masaryk als Staatsgründer fort, obgleich unter den Intellektuellen auch eine – in Anlehnung an den neuen historischen Revisionismus der angloamerikanischen bohemistischen Literatur – ablehnende Haltung in Mode gekommen ist. Masaryk sei ein Nationalist sowie „ein gnadenloser politischer Manipulator und Wendhals“ gewesen, berichtete etwa 2009 einer der bekanntesten tschechischen Publizisten Jan Čulík begeistert; das habe er in der Studie „Czechoslovakia: The State that Failed“ der in Glasgow wirkenden US-Historikerin Mary Heimann erfahren, die in der medialen Landschaft der USA und Großbritanniens als Beispiel einer vermeintlich längst fälligen Demythologisierung viel gelobt wurde.4

Valentina von Tulechov sieht in Masaryks Werk offensichtlich auch eine Quelle positiver Inspirationen für aktuelle politische Problemlagen. „Nur wenige Persönlichkeiten von Masaryks Größe haben ihre Kraft bisher in das europäische Projekt investiert“, meint sie, und ist überzeugt, dass „ein Kopf wie Masaryk und sein Wirken für die politische Selbstbestimmung aller Menschen und Gemeinschaften kaum hoch genug eingeschätzt werden“ können (S. 183). Dabei handelt es sich um eine keineswegs neue Einschätzung; auch der erwähnte Francesco Leoncini zählte Masaryk zu den „Vorläufern der großen Bewegung, die nach dem [Zweiten] Weltkrieg zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft führte“5, und selbst einer der bekanntesten Urväter der europäischen Einigungsbestrebungen, Richard Coudenhove-Kalergi, hegte großen Respekt für ihn: „Dieser Mann ist berufen, nationaler Friedensstifter in der Czechoslowakei zu werden. So sehr er sein Volk liebt: er steht über den Nationen und ist im wahren Sinn Europäer. […] Masaryk ist überzeugter Paneuropäer: sein höchster Herzenswunsch ist der Aufbau eines neuen, einigen Europa.“6 Valentina von Tulechov begründet diese Sichtweise mit eigenen Argumenten.

Das Buch ist keine historische, sondern eine ideengeschichtliche Studie im klassischen Sinne des Wortes. Nach einem biographischen Abriss (S. 17–38) gliedert Valentina von Tulechov – dem Buchtitel entsprechend – ihr Thema in zwei große Abschnitte: „Masaryks kritischer Realismus als Philosophische Position“ (S. 39–104) und „Masaryks kritischer Realismus in der Praxis“ (S. 105–183). Im ersten Teil stehen Masaryks Haltungen gegenüber David Hume und Immanuel Kant sowie dem Neokantianismus, der Brentano-Schule und Edmund Husserl im Mittelpunkt. Die erkenntnistheoretisch wohl fundierte Betrachtung lenkt unseren Blick aber auch auf die „gegenseitige Beeinflussung zwischen den Mitgliedern des Wiener Kreises und Masaryk“ (S. 92). Hier wird der Wissenschaftsbegriff Masaryks in Beziehung gesetzt zu dem von Autoren wie Rudolf Carnap, Moritz Schlick oder dem einstigen Mitglied und späteren Kritiker des Wiener Kreises Karl Popper – eine sinnvolle und sogar notwendige Kontextualisierung, die bisher noch viel zu selten geschehen ist. Anhand ihrer Analyse der Wissenschaftstheorie Masaryks subsumiert Valentina von Tulechov, dass der Wahrheitsbegriff für Masaryk ‚das sichere und kritische Wissen‘, die ‚bewusste Wirklichkeit‘ bedeutete und die Wissenschaft in seinen Augen den „qualitativ und quantitativ besten Zugang zu dieser“ bislang geboten habe. Anschließend wird „die penible Auseinandersetzung Masaryks mit den Wissenschaften“ (S. 94) präsentiert, wie sie in seinen eigenen Studien zu finden sind.

Von Tulechov weist nach, wie Philosophie und Wissenschaft als Hilfsmittel dienten, mit denen Masaryk seinen spezifischen ‚kritischen Realismus‘ entwickelte, der nicht als eine Doktrin beschrieben, sondern nur als eine Lebenshaltung verstanden werden könne. Dabei bilde der ‚Konkretismus‘ den roten Faden: „Konkretismus betont die Individualität der Dinge und Geschehnisse in der Welt. So wie andere nominalistische Auffassungen lehnt Masaryk alles Universelle, wie zum Beispiel mehrfach exemplifizierbare Eigenschaften oder sich wiederholende Ereignisse und Zustände, als nicht zum Inventar der Welt gehörig ab. […] Dieser Fokus auf die Einzeldinge machte seine ‚kleine Arbeit’ aus. ‚Kleine Arbeit’ ist Arbeit, die auf klarem und genauem Denken beruht ohne das Individuelle zu übersehen.“ (S. 103f.) Deshalb hatten für Masaryk jegliche Bemühungen um Demokratie, die das Individuum „als eine eigenständige aristotelische Substanz“ mit „seinen eigenen gesonderten und unabhängigen Zielen“ (S. 104) auffasse, auf der Grundlage der Förderung von Bildung und Wissenschaft zu erfolgen.

Im zweiten Hauptteil geht es um die Frage, wie sich Masaryks erkenntnistheoretische Ideen in seinem Wirken auswirkten: in seinen soziologischen Werken, in seiner Ethik und in seinem Humanismusbegriff, in seiner Theorie der Demokratie, in seiner praktischen politischen Tätigkeit sowie in seinem Verständnis der europäischen Politik. Da es sich um keine historische Studie handelt, werden hier weder die Geschichte der von Masaryk 1890 unter dem Namen ‚Realismus‘ mitbegründeten politischen Bewegung noch der daraus 1900 entstandenen und unter der Bezeichnung ‚Realistische Partei‘ bekannten Tschechischen Volkspartei noch die Geschichte seiner Präsidentschaft untersucht. Vielmehr lernen wir mehrere der bekanntesten öffentlichen Auseinandersetzungen Masaryks kennen, wie beispielsweise sein Auftreten für die Anerkennung zweier damals populärer Fälschungen mittelalterlicher Handschriften als Falsifikate, seine Kritik am Antisemitismus sowie am Marxismus oder seine Religionskritik.

Für die heute aktuellen Debatten über den Nationalismus einerseits und die europäische Einigung andererseits bietet das Buch interessante Einblicke in die Geschichte eines heute kaum beachteten Aspekts dieses Themenbereichs. Die Bestrebungen um nationale Gleichberechtigung früher politisch unselbständiger Nationen widersprachen nämlich keineswegs a priori den Bemühungen um internationale Zusammenarbeit, um die Überwindung von Kriegen und Grenzen oder um friedliche Beilegung zwischenstaatlicher Konflikte, wie heute oft vermutet wird. Wie Valentina von Tulechov zeigt, bildete die Idee der demokratischen Selbstverwaltung die zentrale Klammer zwischen Masaryks Eintreten für die Rechte der tschechischen Nation einerseits und seinem Europabild andererseits. Anhand sorgfältiger Einblicke in Masaryks Denkweise erfahren wir, wie und warum ein demokratisches, in der Achtung des Individuums und seiner Würde verankertes nationales Bewusstsein auch den Respekt für nationale Gleichberechtigung unabdingbar macht und die Voraussetzung einer erfolgreichen internationalen Kooperation darstellt.

Trotz des ersten Eindrucks kann das Buch keineswegs als apologetisch bezeichnet werden. Von Tulechov spart nicht mit Kritik, aber sie hält zum Beispiel „die Überbetonung der Religion für das gemeinschaftliche Zusammenleben“, „die Vernachlässigung politisch-institutioneller Mechanismen“ oder die „Überschätzung der Nationalität als politischer Kategorie“ (S. 182) nicht für so relevant, um ihr Gesamtbild von Masaryk zu widerlegen. Wenn die Autorin dieser Besprechung als „die scharfe Kritikerin“ von Masaryks Realismus apostrophiert wird, dann mag es an der unterschiedlichen Optik liegen: Während von Tulechov eine umfassende Studie zu Masaryks Gesamtwerk vorgelegt hat, galt meine in ihren Augen vielleicht zu kritische Dissertation einem engen Ausschnitt, nämlich nur dem Konzept des Realismus in Masaryks Denken vor dem Ersten Weltkrieg; je detaillierter man sich mit einer historischen Erscheinung beschäftigt, um so mehr Herausforderungen zum kritischen Nachdenken pflegt man zu finden. Wie lohnenswert aber eine respektvolle und zugleich kritische Beschäftigung mit Masaryks Ideenwelt sowie seinem praktischen Handeln auch heute noch ist, beweist das vorliegende Buch auf jeden Fall.

Anmerkungen:
1 Eva Schmidt-Hartmann [i.e. Eva Hahn], Thomas G. Masaryk’s Realism. Origins of a Czech Political Concept 1882-1914, München 1984.
2 Alain Soubigou, Thomas Masaryk, Paris 2002.
3 Vgl. u.a. Francesco Leoncini, Mazzini e Tomáš G. Masaryk precorritori dell’integrazione europea, in: Francesco Guida (Hrsg.), Dalla giovine Europa alla grande Europa, Roma 2007, pp. 225-235.
4 Jan Čulík, Jsme to my v tom šokujícím zrcadle?, in: Literární noviny 26. 10. 2009; Mary Heimann, Czechoslovakia. The State that Failed, New Haven 2009 und die Rezension von Eva Hahn in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 59 (2010), S. 606-609.
5 Francesco Leoncini, Národ a demokracie v Masarykově projektu ‚Nová Evropa‘, in: Jaroslav Opat (Hrsg.), První světová válka, moderní demokracie a T. G. Masaryk, Praha 1995, S. 26-31, hier S. 30.
6 Richard N. Coudenhove-Kalergi, Czechen und Deutsche, in: Die Zukunft 114, 1920, S. 342-350, hier S. 349.

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